# taz.de -- Leben auf der Straße: Der Außenmitbewohner | |
> Irgendwann im Sommer war er da, hinter den Parkplätzen gegenüber. Er | |
> wohnt inmitten seiner Sachen, und wir schauen zu. | |
Bild: Drinnen ist es warm: Blick ins Fenster einer Wohnung, hier in Berlin | |
## Hamburg, taz | 21. Dezember, nachts | |
Es ist eigentlich zu spät, um auf dem Balkon zu stehen und in den Himmel zu | |
gucken. 1 Uhr ist durch und morgen ist Arbeit. Das Jahr ist bald zu Ende | |
und das „Wir-müssen-uns-aber-noch-ein-mal-sehen-bevor …“ hatte uns | |
zusammengeführt. Darum dieser Abend in einer Bar auf St. Pauli mit rosa | |
Crémant in geeisten Gläsern und später mit Nudeln beim Italiener. | |
Beschwingt heim, noch ein Glas Sekt, Kopfhörer auf und raus auf den Balkon. | |
Der Himmel ist grau, alles ist nass, es hat geregnet vorhin, aber 7 Grad, | |
angenehm für Dezember. Es war schon kälter. Die U-Bahn fährt unten vorbei, | |
ein Mann geht an den Parkplätzen auf der anderen Straßenseite entlang, | |
stellt eine Flasche in den Einkaufswagen, um zu pissen. Da braucht Mann | |
meistens beide Hände. Er pisst nicht auf den Haufen Müll, der sich | |
mittlerweile am höchsten Punkt locker einen Meter auftürmt, das machen auch | |
einige Männer. Nein, er pisst an den Zaun zur U-Bahn. Er wohnt ja auch in | |
der Mulde in der Mitte des Haufens. Er ist mein Außenmitbewohner. | |
## Anfang Juli – oder viel früher | |
Wir wohnen in einer Sackgasse und am Ende der Straße beginnt jeden Samstag | |
der Flohmarkt. Manche Händler stellen ihre Anhänger in unserer Straße ab, | |
da ist viel Platz für. Große Parkbuchten, mitten in der Stadt, viele Bäume, | |
unverbauter Blick, schön. Direkt vor unserem Haus stehen seit Anfang des | |
schier unendlichen Sommers wochenlang zwei Anhänger nebeneinander, aus | |
einem verkaufen sie Surfbretter, dahinter der Grünstreifen, ein mit Efeu | |
bewachsener Zaun und die U-Bahn-Gleise. Und auf einmal ist er da. | |
Sonnengebräunt, schlank, die Haut an Brust und Armen etwas schlaff, | |
Wuschelhaare, freundliche Augen.Wann die erste Nacht gewesen ist, keine | |
Ahnung. Er, ein Stuhl, ein Weinglas, ein gerahmtes Bild, das ist einfach | |
irgendwann immer da beim Blick vom Balkon, aus dem Wohn- oder | |
Schlafzimmerfenster. Das gerahmte Bild lehnt er kurz nach seinem Einzug | |
gern gegen einen der beiden Anhänger, rückt seinen Stuhl zurecht, schenkt | |
sich ein Glas Wein ein und blickt es an. Wie auf dem heimischen Sofa, nur | |
dass wir ihm alle zuschauen können. Er räumt oft noch herum, schiebt die | |
Habseligkeiten herum, richtet sich ein. Gern sitzt er auf der Bank, die der | |
ehemalige Wirt der Kneipe an der Ecke da im Wendehammer hingestellt hat. Es | |
soll seine Hochzeitsbank sein, hat er jedenfalls mal der Nachbarin erzählt. | |
Die Bank steht da und wird gern besessen, von uns, die wir Blumenkästen | |
drum herum aufgestellt haben, von Jugendlichen mit Boxen, aus denen in | |
diesem Jahr meist Trap kommt, und nun sitzt er da und liest Zeitung, zieht | |
auch mal einen Schuh aus und kratzt sich zwischen den Zehen. | |
## Irgendwann im August oder so | |
Manchmal sitzen sie auch zu dritt auf der Bank. Der Ex-Kneipenwirt, ein | |
Nachbar aus dem Hinterhaus und der Außenmitbewohner. Auf den ersten Blick | |
einfach drei Männer auf einer Bank. Nur wenn es Abend wird, gehen zwei in | |
ihre Wohnung und einer auf den Platz hinter dem Anhänger. | |
## September, kann sein | |
Eine Flohmarkthändlerin und einer ihrer Mitarbeiter ziehen einen der | |
Anhänger weg, auf einen anderen Parkplatz wenige Meter entfernt. Der Blick | |
wird frei, aus Stuhl, Bild und Weinglas ist eine Fläche mit Dingen | |
geworden. Dies, das, vieles. Zwei Polizisten kommen vorbei mit einem Mann | |
und einer Frau im Schlepptau, vermutlich von der Stadtreinigung. Sie haben | |
schwarze Müllsäcke mitgebracht. Der Außenmitbewohner muss seine Sachen in | |
die Säcke stopfen, er macht das mit Bedacht. Öffnet manche Tüte, nimmt | |
Dinge heraus, bettet sie um, eine kleine Plastiktüte verschließt er | |
sorgfältig mit Zipp-Verschluss und schiebt sie in eine andere Tüte und legt | |
die oben auf seinen Fahrradsattel. Die Ordnungshütenden verschwinden mit | |
etwa zehn großen schwarzen Mülltüten, vollgestopft. Einige Tage später | |
kommen zwei Polizisten, eine Nachbarin im zweiten Stock ist zu Hause, auf | |
dem Balkon, es ist warm, und hört Gesprächsfetzen. Er sei nicht obdachlos, | |
das hier sei ein Wohnprojekt. Na dann, passen Sie auf sich auf, sagen sie | |
und verschwinden. Er bleibt. | |
## September? Jedenfalls noch warm | |
Wir sitzen auf dem Balkon, es ist hell, es ist irgendwie immer hell und | |
immer warm in diesem Sommer. Seit Wochen nicht eine Wolke. Er ist nicht zu | |
Hause. Leicht zu erkennen an seinem abwesenden Fahrrad. Das hängt am Lenker | |
voll mit Plastiktüten. Lehnt das Rad am Zaun zur U-Bahn, ist er zu Hause. | |
Das ist seit Wochen der erste Blick, ist das Rad da? Ah gut, dann ist er zu | |
Hause. Ist das Rad nicht da, ist das beunruhigend. Als ob es sicher wäre, | |
auf dem Parkplatz vor dem Haus und hinter dem Anhänger zu schlafen. Jetzt | |
ist das Rad nicht da, es ist aber auch noch zu früh, tagsüber ist er gern | |
unterwegs, manchmal sitzt er am Schulterblatt vor einer Bar, manchmal auf | |
einem Platz am Rand der Schanzenparks. Immer allein. Was er sonst macht, | |
keine Ahnung. Ich frage ihn nicht, rede mir ein, weniger verantwortlich zu | |
sein, wenn ich ihn nicht kennenlerne. Drei Typen kommen die Straße runter, | |
sehen den Haufen Kram und fangen an, in den Tüten, den Taschen, den Kartons | |
zu wühlen. Es dauert eine Weile, bis sie auf unser Rufen – da wohnt jemand, | |
das gehört alles jemandem, haut ab – reagieren und verschwinden. Ähnlich | |
träge reagieren die Männer, die auf den Haufen pissen; mitten drauf, mitten | |
rein. | |
## Wohl Mitte November | |
Es ist windig, nein, stürmisch, beißend. Nach diesem Sommer, der nie zu | |
enden schien, auf einmal Ostwind, der durch Mark und Bein weht. Zum ersten | |
Mal sucht er Schutz in unserem Hauseingang. Eine Nachbarin trifft ihn auf | |
der Treppe – und er fängt ein Gespräch über Wein an. Er sei neulich erst | |
auf einer Weinmesse gewesen. Das war bisher auch das einzige Mal, dass er | |
Schutz im Hauseingang suchte. Sollen wir ihn reinlassen? Gefragt hat er | |
nicht, wir haben ihn aber auch nicht gefragt. Neulich hat es zum ersten Mal | |
in diesem Winter zart geschneit, Gardine auf, draußen alles weiß und er | |
sitzt hinter dem Anhänger. | |
## Anfang Dezember | |
Nach der Spätschicht nach Hause, müde, es ist fast 22 Uhr, der Tag war zu | |
lang, das flauschige Bett ist nah, nur noch das Auto abstellen. Nur der | |
Parkplatz vor seinem Lager ist frei, wie so oft. Viele Leute fahren wieder | |
weg – einparken, aussteigen, den Müllhaufen angucken, aus dem am höchsten | |
Punkt mittlerweile vier aufgespannte Regenschirme ragen, wenn er zu Hause | |
ist, und einen zumindest vor Blicken geschützten Raum bilden, zweifeln, | |
überlegen, aussteigen, einsteigen, doch lieber wegfahren. Die Nachbarin im | |
zweiten Stock sagt, sie parkt gern genau da, weil sie dann weiß, dass er | |
sicher ist, dass keiner aus Versehen zu weit rollt, in den Haufen hinein | |
und ihn verletzt. Ich parke da nicht gern, weil ich oft spät und im Dunklen | |
heimkomme und dann mitten in sein Zuhause leuchte, störe. Und was soll man | |
dann sagen: „Guten Abend, lieber Außenmitbewohner! Schlafen Sie gut!“ Und | |
oft muss ich morgens um 5.30 Uhr gleich wieder los, starte den Motor, die | |
Scheinwerfer leuchten, wenn er wach ist, schauen wir uns an, und was sage | |
ich dann: Guten Morgen! Einen schönen Tag auch! Oder was? Genießen Sie den | |
Blick auf Ihr Bild! Das ist mittlerweile verschluckt, Holzbretter, ein | |
Klapptisch, zwei zusammengerollte Isomatten, Schlafsäcke, ein | |
Einkaufswagen, eine Kinderkarre, gelbe Säcke, Kartons, aufgerissene Tüten, | |
viel zu viel, viel zu wenig. | |
## Auch Dezember | |
Ich glaube, er hatte einen guten Sommer hier. Warm und trocken, Zeitung | |
lesen, für sich sein, manchmal Gesellschaft. Im Sommer treffen wir Nachbarn | |
uns gern draußen, grillen manchmal, unterhalten uns auf dem Gehweg, dieses | |
Jahr haben wir gemeinsam einen 50. Geburtstag vorm Haus gefeiert. Geht der | |
Sommer, zieht sich unser Leben ins Haus zurück. Der Bürgersteig wird | |
hochgeklappt. Der Außenmitbewohner schiebt jetzt jeden Tag sein Rad wohin | |
auch immer, kommt abends wieder. Auf der Bank sitzt er nicht mehr, die | |
anderen beiden Männer auch nicht. Die Mitarbeiterin der Diakonie, die wir | |
um Rat gefragt haben, sagt, wenn es zu schlimm wird, können wir uns melden, | |
dann werde sein Platz geräumt und er in eine Unterkunft gebracht. Klinge | |
aber nach Messi, da sei es schwer mit Unterkunft. Aber vor der Kälte werde | |
er natürlich gerettet. Aber was ist schlimm, wann ist es schlimm? Einige | |
Nachbarn fragen ihn, was er von Hilfe halte. Hilfe findet er okay, es könne | |
ruhig jemand nach ihm sehen. Die Caritas, die Diakonie, alles okay, können | |
gern vorbeikommen, sagt er. Aber wann sollen wir sie rufen? Wenn das Rad | |
nicht da ist? Wenn das Rad einen Tag nicht bewegt wurde? | |
## 18. Dezember | |
Nun haben die Surfbrett-Verkäufer ihren Anhänger auch abgeholt. Beim | |
Aufziehen der Gardine im Schlafzimmer ist der Blick nun unverstellt auf | |
seinen mittlerweile mehr als zwei Parkplätzen-Längen umfassenden Berg von | |
Dingen. Während wir oben am Morgen einen schwarzen Tee mit braunem Kandis | |
im Bett trinken, Radio hören, den Backofen für die Brötchen vorheizen und | |
auf den Handys Nachrichten lesen, wird er draußen unter seinen | |
Regenschirmen wach. Klappt sie zusammen, sitzt dort und sortiert sich. Er | |
hat im Laufe der Monate so viele Sachen um sich versammelt, dass er nur | |
noch ab den Schulterblättern aufwärts zu sehen ist. Als würde er in einem | |
Waschzuber sitzen. Die Nachbarin aus dem zweiten Stock hat ihm, wie viele | |
andere, einen Schlafsack gebracht, bis -40 Grad soll der warmhalten. | |
## 21. Dezember, abends | |
Es ist Winteranfang. Er ist noch da. | |
28 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Ilka Kreutzträger | |
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