| # taz.de -- Gründerin über 25 Jahre Hinz&Kunzt: „Am Anfang waren wir supern… | |
| > Das Straßenmagazin Hinz&Kunzt bringt Obdachlose auf Augenhöhe mit den | |
| > Hamburger*innen. Chefredakteurin Birgit Müller über Grenzen und | |
| > Großzügigkeit. | |
| Bild: Hat in der Sozialbehörde nicht nur Freunde: Hinz&Kunzt-Chefredakteurin B… | |
| taz: Ihr Grundsatz ist: „Je weiter wir das Maul aufreißen, desto fundierter | |
| müssen wir sein.“ Wie weit reißt das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt | |
| sein Maul auf, Frau Müller? | |
| Birgit Müller: Wir reißen das Maul immer dann auf, wenn wir das Gefühl | |
| haben, hier ist ein Missstand, den es zu beheben gilt im Sinne der | |
| obdachlosen Menschen. Und wenn es gut läuft, haben wir eine realistische | |
| Idee, wie man es besser machen könnte. | |
| Sie haben einmal gesagt, dass Hamburg das Problem der Obdachlosigkeit gar | |
| nicht lösen will. Ist dann nicht der Handlungsspielraum ziemlich klein? | |
| Ich finde, nicht Hamburg insgesamt, sondern die Hamburger Politik scheut | |
| sich, das Problem grundlegend anzugehen. Und zwar aus Angst davor, dass das | |
| eine Sogwirkung auslösen könnte. Nach dem Motto: Wenn wir 2.000 Obdachlose | |
| unterbringen, kommen 2.000 neue. Aber wenn man das Problem nicht löst, | |
| verfestigt und verschlimmert sich die Situation. | |
| Es ist vermutlich auch eine Frage des Selbstverständnisses – ob man sagt: | |
| Das gibt es nun einmal. Oder: Das muss es nicht geben. | |
| Ich weiß ja auch nicht, inwieweit diese Sogwirkung eintreten würde oder | |
| nicht. Ich weiß nur, was passiert, wenn man nichts tut: Die Menschen werden | |
| immer kränker und verelenden. Wir hatten in Hamburg binnen eines Monats | |
| vier Tote auf der Straße. Als wir angefangen haben, 1993, war es auch eine | |
| sehr harte Zeit. Es waren ganz ähnliche Themen wie heute und schon damals | |
| hat man Zeit verloren: Damals wurde rationalisiert, gleichzeitig gab es | |
| Opfer der Wiedervereinigung. Es waren alles deutsche Obdachlose, aber eben | |
| keine Hamburger, und man hat damals vergeblich versucht, die Leute nach | |
| Dresden oder Köln zurückzuschicken. Auch damals hatte man Angst vor einer | |
| Sogwirkung. | |
| In Hamburg haben bereits Menschen mit Arbeit Probleme, eine Wohnung zu | |
| finden. Ist es da nicht sehr optimistisch, dass das darüber hinaus bei | |
| allen gelingt, die obdachlos und ohne Arbeit sind? | |
| Die Hamburger haben recht, wenn sie sagen: „Hey, ich will auch eine | |
| Wohnung.“ Und das bedeutet, dass die Stadt ein Konzept finden muss, das | |
| insgesamt funktioniert, auch für die alleinerziehende Mutter, für die Frau | |
| an der Kasse, auch für den Lkw-Fahrer, den Pfleger. Ein gutes Vorbild ist | |
| da Wien: Bei jedem Bauprojekt müssen zwei Drittel Sozialwohnungen | |
| entstehen, hier in Hamburg nur ein Drittel. | |
| Sehr schlicht gefragt: Was ist die Wurzel des Problems: keine Wohnung oder | |
| keine Arbeit zu haben? | |
| Ich glaube, es ist viel komplexer. Es gibt gesellschaftliche Bedingungen | |
| wie Rationalisierung oder Globalisierung, durch die jemand obdachlos werden | |
| kann. Die andere Frage ist: Wie kommt ein Mensch zur Welt? Die meisten | |
| Obdachlosen, die ich kenne, hatten eine schreckliche oder gar keine | |
| Kindheit. Dass viele alkohol- oder drogenkrank sind, ist oft so etwas wie | |
| eine Selbstmedikation, weil die Leute vorher schon so viel erlebt haben, | |
| mit dem sie nicht fertig geworden sind. | |
| Wie oft stoßen Sie an die Grenzen der eigenen Mittelschichts-Sozialisation, | |
| der Vorstellung, man bräuchte doch nur etwas Selbstdisziplin und guten | |
| Willen? | |
| Wir waren supernaiv, als wir angefangen haben und es war auf eine Weise | |
| auch gut so. Wir hatten keinen Sozialarbeiter, es waren nur wir | |
| Journalisten und die Obdachlosen. Wir dachten: Jetzt verkaufen die | |
| Obdachlosen Hinz&Kunzt, später bekommen sie einen Job und eine Wohnung – | |
| und alles ist paletti … Gleich im ersten Jahr war hier ein Obdachloser, der | |
| ganz viel mitgearbeitet hat und Alkoholiker war. Zu dem habe ich gesagt: | |
| „So jemand wie du muss doch nicht trinken.“ Dann wollte er mir einen | |
| Gefallen tun oder sich selber und hat es tatsächlich von heute auf morgen | |
| geschafft, mit dem Trinken aufzuhören. Nach vier Wochen ist er abgestürzt. | |
| Das war ihm so megapeinlich, dass er abgetaucht ist. Das Ganze war ein | |
| No-Go; die Menschen sind für sich verantwortlich und ich habe da gar nichts | |
| reinzureden. Hinz&Kunzt kann eine Hilfe sein, aber die Treppe gehen muss ja | |
| leider jeder selbst. | |
| Kämpft Hinz&Kunzt mit dem gleichen Auflagenrückgang wie andere Printmedien? | |
| Ja, die Auflage sinkt seit 2016. Für uns ist das auch insofern schlimm, als | |
| das wir merken: Junge Leute interessieren sich sehr wohl für uns, aber eher | |
| über unsere Social-Media-Kanäle und die Stadtrundgänge. Wir brauchen ein | |
| Produkt, das den Verkäufer in Kontakt bringt mit den Hamburgern und | |
| zugleich seinen Stand in der Gesellschaft hebt. Dafür ist ein Magazin | |
| ideal, aber die Frage ist, wie wir es aufstellen müssen und ob wir | |
| irgendwann noch etwas anderes anbieten. | |
| Können Sie beschreiben, wie dieses Auf-Augenhöhe-Bringen eigentlich | |
| funktioniert? | |
| Hinz&Kunzt zu verkaufen ist ganz schön heftig: Bei Wind und Wetter dort zu | |
| stehen. Und wer dort steht, der muss sich zeigen. Dieser Mensch hat ein | |
| hartes Leben hinter sich und der Käufer des Magazins fragt ihn womöglich | |
| danach. Manche blühen richtig auf, weil sie sich gesehen fühlen. Viele | |
| reduzieren ihren Alkoholkonsum, um mit der Kundschaft kommunizieren zu | |
| können. Der Kontakt ist für viele Hinz&Künztler richtig heilsam. | |
| Sie bekommen kein Geld von der Stadt. Wo finden Sie die Unterstützer für | |
| Hinz&Kunzt? | |
| Wir sagen immer: Wir gehören den Hamburgern, weil unsere Spender allen | |
| Schichten angehören. Das kann sehr überraschend laufen. Wir hatten eine | |
| Phase, in der wir rumänische Verkäufer aufgenommen haben. Dann haben wir | |
| festgestellt: Das sind Leute mit ganz anderen Problemen – und wir waren | |
| völlig überfordert. Keine Drogen- und Alkoholabhängigkeit, aber ganze | |
| Familien, die auf der Straße waren, teilweise Analphabeten, die in | |
| Schrottimmobilien wohnten, ohne Krankenversicherung. Da hat uns ein Rotary | |
| Club Geld gespendet – speziell für eine rumänische Sozialarbeiterin. | |
| Hinz&Kunzt will kein Jammerblatt sein – wie gelingt das? | |
| Es ist nicht einfach. Die letzten Jahre waren sehr hart, wir sind am Rande | |
| unserer Kapazitäten, und unser Verhältnis zur Sozialbehörde ist schwierig. | |
| Immer wieder dieselben Sachen zu kritisieren, das macht keinen Spaß. Wir | |
| müssen uns immer wieder am eigenen Schopf aus diesem Tief herausholen. | |
| Eigentlich wollen wir im Magazin immer auch zeigen, was gut läuft. Aber es | |
| ist schwer, wenn da eine Wunde offen ist und sich nichts verändert. | |
| Was ist der Konflikt mit der Sozialbehörde? | |
| Dass es nicht genügend ganzjährige Unterkünfte gibt. Dass viele Obdachlose | |
| aus Osteuropa nicht ins Winternotprogramm aufgenommen werden oder eben nur | |
| in eine Wärmstube, in der die Leute im Sitzen schlafen müssen. Und dass das | |
| Winternotprogramm tagsüber geschlossen ist. | |
| 2016 haben Sie erstmals kommerzielle Konkurrenz bekommen durch ein weiteres | |
| Straßenmagazin. | |
| Das neue Magazin hat uns regelrecht untergraben. Es ist aufgesprungen auf | |
| die Geschichte, dass hier so viele osteuropäische Obdachlose sind, die | |
| nicht versorgt werden – und auch nicht alle bei uns mitarbeiten können. Die | |
| Artikel waren zusammenkopiert, und die Verkäufer waren sehr aufdringlich. | |
| Es gab und gibt einen regelrechten Konkurrenzkampf zwischen Hinz&Künztlern | |
| und den anderen Verkäufern. | |
| Wie schwierig ist es für Sie zu sagen: Das Boot ist voll. Jenen Satz, den | |
| man selber nicht hören kann? | |
| Da haben wir schwer drüber diskutiert, weil wir das nie wollten. Dann hat | |
| ein Kollege gesagt: Nicht unser Boot, sondern unser Rettungsboot ist voll. | |
| Wir müssen uns neue Boote überlegen. Darüber denken wir massiv nach. Man | |
| könnte so viel machen: Das Pfandsammeln, so wie mit unseren | |
| Leergut-Beauftragten am Hamburger Flughafen, könnte man vielleicht auch | |
| woanders organisieren, so etwas wie unsere Brotretter könnte man vielleicht | |
| in anderen Stadtteilen machen. Man könnte Hostels für osteuropäische | |
| Wanderarbeiter einrichten … | |
| Es scheint nicht an Ideen zu mangeln. | |
| Ein Grundproblem ist, dass man für alle Ideen Geld und vor allem Immobilien | |
| braucht. Wir leben da von Wundergeschichten. Eines Tages rief eine Leserin | |
| an, sie würde gern ihr Elternhaus Obdachlosen zur Verfügung stellen, wenn | |
| sie die persönlich kennenlernte. Inzwischen wohnen „die Kennedys“ in diesem | |
| kleinen Siedlungshaus, eine Gruppe von Obdachlosen, die jahrelang unter der | |
| Kennedybrücke Platte gemacht hat. Sie verstehen sich gut mit den Nachbarn, | |
| pflegen den Garten, in dem man regelrecht vom Rasen essen kann. Der Hammer | |
| ist, dass sie aufgehört haben, zu trinken. Das war keine Vorgabe von uns, | |
| sie haben es von sich aus gemacht. | |
| Wie viele Geschichten mit gutem Ende brauchen Sie, um mit dem, was nicht | |
| gelingt, klarzukommen? | |
| Ganz viele. Eine meiner liebsten ist die von jemandem, den ich gleich am | |
| ersten Tag kennengelernt habe, der sehr viel getrunken hat, zwei Flaschen | |
| Wodka zum Frühstück. Dieser Mann hat geheiratet, einen Sohn bekommen. Er | |
| hat seine Alkoholsucht überwunden, hatte manchmal Rückfälle, aber stand | |
| auch dazu, und seine Frau stand zu ihm. Der Sohn hat Abitur gemacht – und | |
| dann ein Praktikum bei uns, weil er sehen wollte, in welcher Welt sein | |
| Vater zu Hause war. | |
| 17 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
| ## TAGS | |
| Obdachlosigkeit in Hamburg | |
| Hinz&Kunzt | |
| Obdachlosigkeit | |
| Wohnungslosigkeit | |
| Hinz&Kunzt | |
| Hinz&Kunzt | |
| Deutsche Bahn | |
| Obdachlosigkeit in Hamburg | |
| Obdachlosigkeit | |
| Obdachlosigkeit in Hamburg | |
| Obdachlosigkeit in Hamburg | |
| Sozialarbeit | |
| Obdachlosigkeit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Straßenzeitung ermöglicht Handyzahlung: „Hinzt&Kunzt“ gibt's auch bargeld… | |
| Ab sofort kann man die Hamburger „Hinz&Kunzt“ bei den Verkaufenden auf der | |
| Straße digital bezahlen. Das soll gegen sinkende Verkaufszahlen helfen. | |
| Chefredakteurin über Obdachlose und Corona: „Die Solidarität ist riesig“ | |
| Das Hamburger Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“ ist erstmals nur digital | |
| erschienen. Den Verkäufer*innen fehlen die sozialen Kontake, erklärt Birgit | |
| Müller. | |
| Besetztes Haus in Köln: DB schmeißt obdachlose Frauen raus | |
| Kölner*innen hatten für obdachlose Frauen ein leerstehendes Haus der | |
| Deutschen Bahn besetzt – und sie wollten es kaufen. Nun wurde es geräumt. | |
| Kältebus-Fahrer über seine Erlebnisse: „Da ist jemand, der guckt“ | |
| Seit Samstag fährt der Kältebus der Alimaus und kümmert sich um Obdachlose | |
| in Hamburg. Ein Gespräch mit einem der Fahrer über seine nächtlichen | |
| Erlebnisse. | |
| Kolumne Geht's noch: Vor der Bank mit Barcode um den Hals | |
| Eine App soll anzeigen, was Obdachlose mit dem Geld machen, das man ihnen | |
| spendet? Eine ganz schlechte Idee von wohlmeinenden Wohlhabenden. | |
| Leben auf der Straße: Der Außenmitbewohner | |
| Irgendwann im Sommer war er da, hinter den Parkplätzen gegenüber. Er wohnt | |
| inmitten seiner Sachen, und wir schauen zu. | |
| Sozialsenatorin über Obdachlosigkeit: „Es ist nicht immer die Kälte“ | |
| In vier Wochen starben in Hamburg vier Obdachlose. Doch Sozialsenatorin | |
| Melanie Leonhard verteidigt das bestehende Hilfesystem. | |
| Betreuer über seelisch kranke Obdachlose: „Vom System ausgespuckt“ | |
| Straßensozialarbeiter Julien Thiele und Psychiater Richard Becker suchen | |
| Obdachlose mit psychischen Problemeauf. Der Handlungsbedarf wird | |
| unterschätzt. | |
| Verstorbene Obdachlose in Hamburg: „Joanna kaputt“ | |
| Die Obdachlose Joanna wird am Morgen des 28. Oktober leblos auf einer Bank | |
| in Hamburg gefunden. Der Versuch, mehr über sie zu erfahren. |