# taz.de -- Obdachlosigkeit in Polen: Warmer Tee mit Schuss | |
> Alkoholisierte Obdachlose werden in Polen oft abgewiesen. In Warschau | |
> gibt es diesen Winter eine erste Buslinie, die eine Ausnahme macht. | |
Bild: In vielen polnischen Einrichtungen werden noch Alkoholtests für Obdachlo… | |
WARSCHAU taz | Bei Einbruch der Dunkelheit, um 17 Uhr, fährt der Bus für | |
Obdachlose am Warschauer Ostbahnhof ab. Zwar steht über der großen | |
Frontscheibe nur die neutral klingende Information „MPP – Mobiler | |
Beratungspunkt“, doch der Fahrplan lässt keine Zweifel daran, wer in diesem | |
„mobilen Punkt“ beraten werden soll: Stawki-Straße – Obdachlosenasyl, | |
Muranowska-Straße – Kantine, Raszynska-Straße – Rechtsberatung für | |
Obdachlose, Wolska-Straße – Ambulanz für Obdachlose, Traugutt-Park – | |
öffentliches Bad. | |
Die sechs Touren – drei morgens und drei abends – dauern rund zwei Stunden | |
und führen durch Warschaus soziale Brennpunkte. Mitte November ist der Bus | |
zum ersten Mal losgefahren. Ende April soll sich entscheiden, ob das | |
Pilotprojekt fortgesetzt wird. | |
Kasia, Grzegorz und Robert kennen sich von der Straße. Dick vermummt | |
steigen sie an der Station „Rathaus“ im Stadtteil Wola ein. Im Bus reicht | |
ihnen die Streetworkerin Agata einen Pappbecher mit heißem Tee. „Willkommen | |
an Bord, Panie Robercie“, sagt sie. „Bitte sehr, Kasiu, Grzesiu“, begrü�… | |
sie auch die beiden anderen. Die Atmosphäre ist herzlich. Man duzt und | |
siezt sich durcheinander, benutzt aber keine Nachnamen. Förmlichkeiten sind | |
nicht so wichtig. | |
Alle drei ziehen ihre Mäntel und Winterjacken aus und setzen sich auf zwei | |
gegenüberliegende Bänke. Kasia (46) und Grzegorz (50) sind seit anderthalb | |
Jahren ein Paar. Er reicht ihr kurz seinen Becher, holt aus einer | |
Plastiktüte eine kleine Cola-Flasche und gießt einen Schluck in den Tee. | |
Doch es ist nicht Cola, sondern klarer Wodka. Der Geruch zieht sofort durch | |
den ganzen Bus. Aber niemand treibt ihn nun wieder hinaus in die Kälte, | |
schreit ihn an oder nimmt ihm den Tee wieder weg, wie das sonst üblich ist. | |
## Dunkelziffer liegt um ein Zehnfaches höher | |
In allen Sozialhilfeeinrichtungen für Obdachlose in Polen herrscht strenges | |
Alkoholverbot. Wer weiß, dass er diese Auflage nicht erfüllen kann oder | |
will, steuert die Obdachlosen-Asyle und -Ambulanzen nicht mehr an. Bei den | |
Zählungen, die das Ministerium für Familie, Arbeit und Sozialpolitik alle | |
zwei Jahre durchführen lässt, fallen Menschen wie Grzegorz durchs Raster. | |
Sie tauchen erst – Winter für Winter – [1][als erfrorene „Obdachlose unt… | |
Alkoholeinfluss“ wieder auf]. Rund 100 Kältetote gibt es so jedes Jahr. | |
Offiziell sind in der 1,7-Millionen-Einwohner-Stadt Warschau gerade mal | |
2.700 Menschen obdachlos, in ganz Polen sind es bei einer | |
Gesamtbevölkerungszahl von knapp 38 Millionen Menschen nur rund 36.000 | |
Personen. Diese Zahlen bilden dann die Grundlage für staatlichen | |
Hilfsprogramme wie „Die Obdachlosigkeit überwinden“ in Höhe von 1,4 | |
Millionen Euro. Umgerechnet sind dies gerade mal 10 Cent pro Person und | |
Tag. Nichtregierungsorganisationen gehen von Zahlen von bis zu rund 300.000 | |
obdachlosen Polen aus. [2][Wie viele davon ins Ausland gehen], weil dort | |
die soziale Versorgung besser ist, und dann wieder nach Polen zurückkehren, | |
kann nur grob geschätzt werden. | |
Robert, der zwar keine Vorderzähne mehr hat, als „Manager“ aber dennoch | |
unter den Warschauer Obdachlosen großes Ansehen genießt, ist ein solcher | |
Rückkehrer. Der heute 56-Jährige emigrierte zunächst nach London, arbeitete | |
dort auf dem Bau, verlor krankheitsbedingt die Arbeit, konnte die Miete | |
nicht mehr bezahlen und landete auf der Straße. „Ich war dann in | |
Wladyslawowo“, erklärt er auf Nachfragen. | |
In diesem 190-Seelen-Weiler bei Posen hat das | |
Psychologen-Aussteiger-Ehepaar Barbara und Tomasz Sadowski vor rund 20 | |
Jahren die Stiftung für gegenseitige Hilfe Barka gegründet. Obdachlose, so | |
ist die Idee der Sadowskis, sollen dort einen geregelten Tagesablauf | |
erleben, wenn nötig, einen Alkohol- oder Drogenentzug machen und erste | |
einfache Arbeiten übernehmen, die auch bezahlt werden. Die Stiftung ist | |
über die Jahre zu einem Netzwerk mit rund 30 Bauernhöfen und | |
Sozialstationen in ganz Polen gewachsen und betreibt in Großbritannien, den | |
Niederlanden und Deutschland sogenannte „Rückkehrprogramme“ für polnische | |
Obdachlose. Solche Hilfseinrichtungen sind mittlerweile Standard in Polen. | |
Robert schüttelt den Kopf: „Das war nichts für mich. Vielleicht beruhigt so | |
ein eintöniges Leben wie in Wladyslawowo ja die Nerven. Aber ich brauche | |
Stadtluft.“ Er sei da schnell wieder abgehauen. Der Obdachlose, dem man auf | |
den ersten Blick nicht ansieht, dass er auf der Straße lebt, deutet auf | |
Kasia, Grzegorz und sich selbst: „Wir kippen ganz gerne mal einen. Außerdem | |
essen wir gerne Chinesisch.“ Er grinst, als wolle er sagen: Nie wieder | |
Wladyslawowo! Doch ob er in Warschau bleiben will, ist auch nicht sicher: | |
„Vielleicht fahre ich irgendwann wieder nach London“, sagt er. „In der | |
Zukunft. Vielleicht.“ | |
29 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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