| # taz.de -- Jan Gerbers „Karl Marx in Paris“: Wie Marx zum Klassenkämpfer … | |
| > Der Politikwissenschaftler Jan Gerber will Marx aus dem Trubel seiner | |
| > Zeit heraus verstehen. Er hat ein Buch über die Jahre in Paris | |
| > geschrieben. | |
| Bild: Formative Jahre: In Paris entwickelte sich Marx vom „Radikaldemokrat“… | |
| In dem berühmten Gespräch, das Hannah Arendt mit Günter Gaus 1964 führte, | |
| beschreibt sie die Bedeutung des durch Auschwitz hervorgerufenen | |
| Zivilisationsbruchs. Mit der „Fabrikation der Leichen“ sei etwas geschehen, | |
| das „nicht hätte geschehen dürfen“ und „womit wir alle nicht mehr fertig | |
| werden“. | |
| Die industrielle Vernichtung der Juden erschütterte das Weltbild vieler | |
| marxistisch geschulter Intellektueller wie Adorno und Horkheimer. Sie | |
| mussten zur Kenntnis nehmen, wie es Jan Gerber in seiner exzellenten | |
| Untersuchung „Karl Marx in Paris“ formuliert, dass „das Proletariat sich | |
| nicht seiner Ketten, sondern seiner jüdischen Nachbarn“ entledigte. | |
| Das Proletariat hatte seine vom historischen Materialismus zugeschriebene | |
| Rolle einfach ignoriert und war zum Volk mutiert. Spätestens an diesem | |
| Punkt wurde klar: Marx’ Theorien hatten einen zeitlichen Kern und mussten | |
| sich an den Voraussetzungen und Bedingungen der sich verändernden | |
| gesellschaftlichen Verhältnisse beweisen, die wiederum eine andere | |
| Klassenstruktur hervorbrachten. Und dennoch gelang es der | |
| Studentenbewegung, Marx so zu interpretieren, als ob man noch im | |
| vorangegangenen Jahrhundert leben würde. | |
| Der Politikwissenschaftler und Historiker Jan Gerber zeigt nun, wie wichtig | |
| es ist, Marx aus seiner Zeit heraus zu verstehen und die Einflüsse zu | |
| analysieren, denen er damals ausgesetzt war. Dabei kommt Marx’ erstem | |
| Parisaufenthalt zwischen Oktober 1843 und Februar 1845 entscheidende | |
| Bedeutung zu, weil „seine Hinwendung zum Klassenkampf, zum Kommunismus und | |
| zum Proletariat“ in diese Zeit fällt. | |
| ## Die Metropole der Revolutionen | |
| War Marx vorher „Radikaldemokrat“, entwickelt er sich in Paris zum | |
| Klassenkämpfer und Kommunisten, um in London schließlich einzusehen, dass | |
| sich aus den Aufständen und Revolten, also aus dem Verlauf der Geschichte | |
| nicht wirklich eine historische Gesetzmäßigkeit ableiten ließ, weil einfach | |
| nie eintraf, was nach wissenschaftlicher Erkenntnis hätte eintreten müssen, | |
| weshalb es Marx vielmehr darauf ankam, die ökonomische Struktur des | |
| Kapitalismus zu untersuchen, um die immanenten Gesetze und Widersprüche | |
| aufzudecken, an denen der Kapitalismus zugrunde gehen würde, wenn er denn | |
| überhaupt zugrunde ginge, wessen sich Marx am Ende seines Lebens gar nicht | |
| mehr sicher war. | |
| Denn so brillant seine „Kapital“-Analyse war, ein schlüssiger Hinweis | |
| darauf, dass sich der Kapitalismus selbst abschaffen würde, ließ sich nicht | |
| finden, vielmehr verdichtete sich immer mehr, dass er die Fähigkeit hatte, | |
| sich immer neu zu erfinden. Aber das ist bereits wieder eine andere | |
| Geschichte. | |
| Paris, nach London die größte Stadt der Welt, war damals die Metropole der | |
| Revolutionen. Marx kam zwar in einer relativen Ruhephase nach Paris, aber | |
| die Reaktion in Europa hatte dafür gesorgt, dass bis zu 80.000 Deutsche | |
| nach Paris geflohen waren. Auch die Niederschlagung der Aufstände in | |
| Italien, Ungarn und Spanien hatte viele Tausende Revolutionäre in die | |
| Hauptstadt Frankreichs geschwemmt. 1845 gab es 26 Tageszeitungen, aber es | |
| gab keine Industrie. Die meisten Umstürzler waren Handwerker oder gehörten | |
| dem Meer der Arbeitslosen oder des „Lumpenproletariats“ an. | |
| ## Vom Ideengemisch zur Theorie | |
| Jan Gerber beschreibt sehr anschaulich, welche Hoffnungen sich Marx machte, | |
| was er den französischen Frühsozialisten wie Cabet, Fourier oder Proudhon | |
| zu verdanken hatte, welche Missverständnisse durch die Sprachbarrieren | |
| entstanden, wie Marx sich „immer von neuem in ein endloses Büchermeer“ | |
| (Arnold Ruge) stürzte, ohne etwas zu vollenden, so dass der größte Teil | |
| seiner Arbeiten aus unvollendeten Manuskripten und Entwürfen bestand, und | |
| wie er zusammen mit Engels im Café de la Régence in der Rue Saint-Honoré | |
| saß und in „zehn bierseligen Tagen“ (Tristram Hunt) der Grundstein für | |
| „unsere vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten“ | |
| (Engels) gelegt wurde. | |
| [1][Vieles ist auch von den zahlreichen anderen Biografen beschrieben | |
| worden], aber Jan Gerber richtet den Fokus auf Paris und erklärt die | |
| Entstehungsgeschichte von Begriffen wie Kommunismus und Entfremdung in | |
| Marx’ Werk auf plausible und nachvollziehbare Weise, und man versteht, | |
| warum sie in Marx’ späterem Werk nicht mehr vorkommen. | |
| Und selbst die Verelendungstheorie, von Gerber als Schwachpunkt gesehen, | |
| lässt sich aus dem Trubel der Zeit verstehen, zumindest war das Elend der | |
| Bevölkerung für Marx ein starkes Motiv und Antrieb, sich ins Handgemenge | |
| mit den sozialen Verhältnissen zu stürzen. Dabei geht es weniger um | |
| Wahrheit oder Irrtum, sondern darum zu verstehen, wie aus dem Ideengemisch | |
| der Zeit die Theorie entstehen konnte, die die Welt veränderte. In dem | |
| beneidenswert gut geschriebenen Buch erfährt man darüber auf 200 Seiten | |
| mehr als aus vielen anderen Werken. | |
| 4 Nov 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Mammutprojekt-ueber-Karl-Marx/!5522398 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Bittermann | |
| ## TAGS | |
| Politisches Buch | |
| Karl Marx | |
| Paris | |
| Rezension | |
| Kommunismus | |
| Klassenkampf | |
| Schwerpunkt AfD | |
| 68er | |
| Kapitalismus | |
| Der 200. Geburtstag von Marx | |
| Karl Marx | |
| Fußball | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Politologe über Parteien in Deutschland: „Der soziale Kitt ist aufgelöst“ | |
| Das Parteiensystem ist in der Krise. Gut überstehen werden diese nur die | |
| Grünen, die AfD, eventuell auch das BSW, behauptet der Politologe Jan | |
| Gerber. | |
| Verleger über Lebenswerk: „Ich wollte der Radikalste sein“ | |
| Erst Ministrant, dann Marx: Eckpfeiler der politischen Sozialisation von | |
| Klaus Bittermann. Seit Jahren verlegt er Bücher, die Lust aufs Denken | |
| machen. | |
| Ausstellung zu Marx und Wagner in Berlin: Ein Unterschied ums Ganze | |
| Das Deutsche Historische Museum möchte sich dem Thema Kapitalismus nähern. | |
| Erst mit Karl Marx, demnächst wird Richard Wagner folgen. | |
| Mammutprojekt über Karl Marx: Brüche und Zufälle deutlich machen | |
| An Marx-Biografien mangelt es nicht. Eine so umfassende Aufarbeitung wie | |
| die von Michael Heinrich ist aber neu. Der erste Band liegt nun vor. | |
| Debatte Entfremdung bei Marx: Im Unbewussten verewigt | |
| Entfremdung ist der Soundtrack der coolen Jugend. Aber auch | |
| Erlösungsprediger quatschen von Entfremdung. Und was sagt Marx? | |
| Kolumne Über Ball und die Welt: Elf mal Marx im Aufgebot | |
| Sport diene der Reproduktion der Arbeitskraft, so hieß lange das linke | |
| Dogma. So spaßbefreit betrachtet heute wohl kaum jemand mehr das Sporteln. |