| # taz.de -- Mammutprojekt über Karl Marx: Brüche und Zufälle deutlich machen | |
| > An Marx-Biografien mangelt es nicht. Eine so umfassende Aufarbeitung wie | |
| > die von Michael Heinrich ist aber neu. Der erste Band liegt nun vor. | |
| Bild: Heinrichs Biografie rückt einige verbreitete Behauptungen über den Denk… | |
| Mit pünktlichen Geburtstagsgeschenken ist es bekanntlich so eine Sache – | |
| sei es, weil die Kreativität gefehlt oder man einfach mal wieder zu lange | |
| an ihnen gebastelt hat. Letzteres ist Michael Heinrich, dem derzeit wohl | |
| bekanntesten deutschen Marx-Interpreten, geschehen. Er plante, 2017, | |
| [1][zum 150. Jahrestag der Erstveröffentlichung von „Das Kapital“], den | |
| ersten Band einer Marx-Biografie vorzulegen. Zum [2][200. Geburtstag in | |
| diesem Jahr] sollte ein zweiter Band folgen. | |
| Gerade noch rechtzeitig zum diesjährigen Jubiläum ist nun „Karl Marx und | |
| die Geburt der modernen Gesellschaft“ erschienen, eine Studie der ersten 23 | |
| Lebensjahre. Von Franz Mehring über Fritz J. Raddatz bis hin zu Francis | |
| Wheen haben sich schon über 30 Autoren an der Rekonstruktion und Erzählung | |
| von Marx’ Leben versucht. Hier mit Kreativität zu punkten, ist also kein | |
| leichtes Unterfangen. | |
| Wo bisherige Arbeiten durch historische Kontextualisierung auf notwendige | |
| Entwicklungen schlossen, beansprucht die vorliegende Biografie, die | |
| Bedingungen von Brüchen und Kontingenzen deutlich zu machen. Gestützt auf | |
| Lokalhistoriografie sowie Arbeiten der Sozial- und Geistesgeschichte wird | |
| so im ersten Kapitel ein geschichtliches und kulturelles Panorama von Trier | |
| gezeichnet – jener Stadt, in der Marx am 5. Mai 1818 geboren wurde. | |
| Dabei fallen Thesen aus der bisherigen biografischen Literatur zu Marx | |
| reihenweise in sich zusammen. Etwa die lange als willentliche Emanzipation | |
| gewertete Taufe des jüdischen Vaters, deren bewusste Verzögerung Heinrich | |
| nachweisen kann. | |
| Oder, spektakulärer, die von Mehring aufgestellte und seitdem oftmals | |
| zitierte Behauptung, Marx’ Abituraufsatz stelle bereits den „ersten Keim | |
| der materialistischen Geschichtsauffassung in unbewußter Vorahnung“ unter | |
| Beweis. Mit anderen Abituraufsätzen des Jahrgangs und der Lebenserfahrung | |
| des Vaters schließt Heinrich dagegen schlicht auf die Verarbeitung | |
| verbreiteter Diskurse und familiärer Schicksalsschläge. | |
| Das zweite Kapitel ist dem Jurastudium in Bonn und Berlin ab 1835 gewidmet. | |
| In dessen Rahmen kam Marx mit der Hegel’schen Philosophie in Berührung. | |
| Heinrich widerspricht hier der Behauptung, dass Einsicht in mangelndes | |
| Talent zu Marx’ Abkehr von der zunächst angestrebten dichterischen Laufbahn | |
| geführt habe. Ursächlich sei vielmehr „die Aufgabe einer bestimmten | |
| Auffassung von Wirklichkeit und deren möglicher Kritik und damit auch die | |
| Aufgabe von all dem, was ihm bislang eine im weitesten Sinne moralische und | |
| politische Orientierung gegeben hatte“. | |
| Besonders beachtlich ist in diesem Teil die Skizze der intellektuellen | |
| Landschaft, die Heinrich für das Berlin der 1830er Jahre entwirft. Die | |
| Rechtswissenschaften waren damals insbesondere von der Konfrontation | |
| zwischen dem progressiven, jüdischen Hegelianer Bruno Gans und dem | |
| konservativen, antisemitischen Begründer der sogenannten historischen | |
| Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, bestimmt. Bei beiden hörte Marx | |
| Vorlesungen – „ausgezeichnet fleißig“, wie Gans in einem Abgangszeugnis | |
| vermerkte. | |
| Von Ende 1837 bis Ende 1840 ist die Quellenlage zu Marx’ Leben äußerst | |
| dürftig. Bisherige Biografien sind deshalb meist großzügig über diese | |
| Zeitspanne hinweggegangen. Heinrich dagegen macht sie zum Zentrum des | |
| umfangreichsten Kapitels seiner Studie, denn sie sei für Marx’ | |
| intellektuelle Entwicklung „überaus wichtig“ gewesen. | |
| Die besondere Brisanz einer Marx-Biografie | |
| Der Fokus liegt dabei zunächst auf den religionsphilosophischen Debatten, | |
| in deren Kontext sich die Hegel’sche Schule ausdifferenzierte – Debatten, | |
| die durch die Verquickung von Kirche und Staat in Preußen eine unmittelbare | |
| politische Relevanz hatten. Sodann nimmt sich Heinrich der Marx'schen | |
| Auseinandersetzung mit antiker Philosophie im Rahmen der Doktorarbeit an. | |
| In der „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“ | |
| betitelten Dissertation arbeitet Marx insbesondere an der „Rekonstruktion | |
| der inneren Logik einer fremden Theorie mittels der Kategorien Hegels“. | |
| Angesichts der im Marxismus oft geführten Diskussion, ob hier bereits | |
| Materialismus am Werke sei, mahnt Heinrich: „Solchen Fragen liegt die | |
| Vorstellung zugrunde, dass es einen wohldefinierten idealistischen | |
| Kontinent und einen ebenso wohldefinierten materialistischen Kontinent gibt | |
| und dass sich der junge Marx wie auf einer Fähre vom einen zum anderen | |
| Kontinent bewegt, so dass man stets prüfen kann, wie weit er denn schon | |
| gekommen ist. Für Marx selbst spielen diese Fragen in der Dissertation | |
| jedoch keine Rolle.“ | |
| Es braucht keinen entwickelten Materialismusbegriff, um die besondere | |
| Brisanz einer Marx-Biografie zu erkennen. Biografisches Schreiben | |
| fokussiert naturgemäß auf ein Individuum. Marx’ wissenschaftliche | |
| Anstrengungen zielten aber auch auf die Überwindung von Individualismus. | |
| Wer wüsste das besser als Michael Heinrich, der vor über 20 Jahren in „Die | |
| Wissenschaft vom Wert“ vertreten hatte, dass Marx gegenüber dem unter | |
| anderem durch Individualismus charakterisierten theoretischen Feld der | |
| klassischen politischen Ökonomie eine wissenschaftliche Revolution | |
| durchführte? In einem Anhang über die Möglichkeit biografischen Schreibens | |
| wird dieses Problem ausführlich methodisch reflektiert. | |
| Bemerkenswerte Methodik | |
| Methodisch bemerkenswert sind zudem zwei weitere Innovationen der | |
| vorliegenden Monografie. Zunächst liegt mit ihr tatsächlich die erste | |
| Marx-Biografie vor, die Leben und Werk gleichermaßen umfassend in den Blick | |
| nimmt. Dies verspricht neue, sich hier bereits deutlich abzeichnende | |
| Erkenntnisse, denn die Entwicklung des Werks bestimmte zahlreiche von Marx | |
| eingeschlagene Lebenswege. Eine derartige Analyse ist durch den Fortschritt | |
| der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe in den letzten Jahrzehnten überhaupt | |
| erst möglich geworden. | |
| Ferner kann Heinrich zugute gehalten werden, dass er jegliche die bisherige | |
| Marx-Biografie so stark prägende, biografische Fiktion vermeidet. Das heißt | |
| keinesfalls, dass sich seine Arbeit aller Vermutungen enthält. Aber wo | |
| Dinge unbekannt sind oder lediglich durch Schlüsse aus verschiedenen Fakten | |
| naheliegen, wird dies deutlich gemacht. „Karl Marx und die Geburt der | |
| modernen Gesellschaft“ präsentiert sich also als detektivischer | |
| Kriminalroman, wo vorhergehende Biografien als allwissender | |
| Entwicklungsroman daherkamen. | |
| Nach der Lektüre fragt man sich allerdings, wie dieser Kriminalroman als | |
| Fortsetzungsroman funktionieren soll. Heinrichs Genauigkeit bei Quellen und | |
| Kontextualisierungen lässt erwarten, dass weitere Bände seiner Biografie | |
| recht umfassend ausfallen werden – insbesondere, wenn mit Marx’ Kritik der | |
| politischen Ökonomie ein äußerst komplexes theoretisches Geflecht zum | |
| Gegenstand werden wird. Man darf also schon jetzt gespannt sein, wie der | |
| zweite, für 2020 angekündigte Band dieses Mammutprojekts aussehen wird. | |
| 6 Sep 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kommentar-150-Jahre-Das-Kapital/!5377704 | |
| [2] /200-Geburtstag-von-Karl-Marx/!5492134 | |
| ## AUTOREN | |
| Kolja Lindner | |
| ## TAGS | |
| Der 200. Geburtstag von Marx | |
| Karl Marx | |
| Politisches Buch | |
| Politisches Buch | |
| Karl Marx | |
| Der 200. Geburtstag von Marx | |
| Karl Marx | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Jan Gerbers „Karl Marx in Paris“: Wie Marx zum Klassenkämpfer wurde | |
| Der Politikwissenschaftler Jan Gerber will Marx aus dem Trubel seiner Zeit | |
| heraus verstehen. Er hat ein Buch über die Jahre in Paris geschrieben. | |
| Marx-Engels-Gesamtausgabe: Arbeit an den Werkzeugen | |
| Die neue Edition der „Deutschen Ideologie“ ist keine Strandlektüre. Doch | |
| vor der Akribie der Herausgeber kann man sich nur verneigen. | |
| Kolumne Leuchten der Menschheit: Gedichte des jungen Karl Marx | |
| Marx ist nicht Rimbaud. In den Gedichten vernehmen wir den Paukendonner und | |
| das Wellengebrause tiefster Romantik. | |
| Autorin über Marx und Feminismus: „Wir dürfen faul sein“ | |
| Luise Meier sieht kein Problem darin, mit Marx spielerisch umzugehen. In | |
| ihrem Buch verknüpft sie seine Theorien mit Feminismus. |