# taz.de -- Serie Unbekanntes Hessen: Weltgeist südlich, Schönheit nördlich | |
> Hessen ist, wie Bayern auch, geteilt in einen reichen Süden und einen | |
> ärmeren Norden. Zwei Liebhaber über die Unterschiede. | |
Bild: Hessen hat definitiv mehr als zwei Seiten | |
## In Südhessen | |
## … herrschen Weltgeist und Macht. | |
Als Arbeitsmigrantin fahre ich oft mit dem Zug quer durch die Republik – | |
vom schlecht gelaunten Nordosten zur milden mittelgebirgigen Mitte hin. Um | |
im südhessischen Wohnzimmer meiner Eltern ein Rippchen mit Kraut zu essen, | |
ein wunderbar unmodisches Stück Fleisch, viel zu blass, um es für ein | |
Instagram-Schaufenster ansehnlich fotografieren zu können. | |
Wenn wir wieder mal dummschwätzend beeinandersitzen – Merke: Beim | |
Dummschwätzen kann es durchaus clever zugehen! Es ist einfach ein | |
südhessisches Idiom für eine engagierte Unterhaltung –, dann findet der | |
ganze Clan es ziemlich witzig, dass ich in Berlin anschaffen gehe. Im | |
zittrigen Zentrum der Thesendreschereien und Trend-Ausrufungen, in der | |
immer noch armen Kapitale des Who-is-who-Gebabbels. Das dicke Geld sitzt | |
bekanntlich woanders – da, wo ich herkomme und wohin ich nun per Spartarif | |
pendele: in Mainhattan. | |
Knapp fünf Stunden dauert die Fahrt, sie kreuzt das frühere | |
Zonenrandgebiet, und wenn ich zwischen Kassel und Fulda durch lange Tunnel | |
gen Südwesten rausche, lege ich oft meine Stirn ans Waggonfenster und | |
spüre, wie meine Körperspannung nachlässt. Sattgrüne Hügelchen, grellgelbe | |
Raps-Tupfer. Oh, was ist das? Vier Rehe, die Can-can tanzen? Nein, es ist | |
wohl ein rostiges Ackergerät, dort hinten, unter jenem urgesunden | |
Apfelbäumchen. Hauptsache, keine vom Kreiskulturamt geförderte | |
Kunst-Installation! | |
Je weiter ich so fahre, desto lockerer lassen meine Mundwinkel. Spätestens | |
ab Offenbach hat mein Nasolabialbereich die angemessene Haltung gefunden. | |
Hängende Mundwinkel sind die Basis fürs Hessischsprechen. Als NichthessIn | |
probiere man es einmal: Sprechen Sie folgenden Leitsatz nach, mit möglichst | |
schlapper Unterlippe: Da gehd’s de Mensche wie de Leud. Et voilà, you get | |
the feeling. Das ist Menschenfreundlichkeit, gewürzt mit einer Dosis | |
Stoizismus, dargeboten mit unaufdringlicher Lässigkeit. Das, meine Damen | |
und Herren und andere, ist hessische Existenzphilosophie. | |
## Hier gab es Techno, als in Berlin noch der Kitsch tanzte | |
Was HessInnen gern lessisch einstreuen, wenn man ihnen mal wieder grobe | |
Dabbischkeit, also Blödheit, unterstellt: Goethe kam aus Frankfurt. So wie | |
das berühmte Würstchen. Georg Büchner aus Goddelau. Deniz Yücel aus | |
Flörsheim. Fjodor Dostojewski schickte seinen Spieler im Casino von Bad | |
Homburg vor der Höhe ins Verderben. | |
Nehmen wir die jüngere Vergangenheit: In Frankfurt pumperten schon | |
[1][technoide Detroit-Rhythmen] durch die Clubs, während in Berlin noch der | |
Bowie-Neubauten-Lederjacken-Kitsch den Ton angab. In den Bars der | |
U.S.-G.I.s lief ohnehin die schärfste Musik. Man denke auch an die | |
Flüchtlingsdramen der 1980er und 90er Jahre am Frankfurter Flughafen. | |
Natürlich auch an die internationale Hochfinanz – jetzt auch mit EZB, | |
halleluja! Und an die nicht minder globale Schattenwirtschaft zu Füßen der | |
Spiegelglastürme. Die Quandt-Familie im Taunus, die Armut am Frankfurter | |
Berg. Die Frankfurter Schule, Adorno un die annern. Häuserkampf, | |
[2][Antisemitismus]-Debatten, [3][Fassbinder], [4][Walser]. Und bis heute | |
verlässlich auf Sendung: Anja Kohl mit „Börse vor Acht“. | |
Im Jahr 1989 entstand in Frankfurt das „Amt für multikulturelle | |
Angelegenheiten“, die bundesweit erste kommunale Behörde, die sich um die | |
Integration und Gleichberechtigung aller BewohnerInnen bemühte. Unlängst | |
ergriff Eintracht-Frankfurt-Präsident Peter Fischer das Wort gegen | |
Rassismus. Ja, in Hessen, diesem Durchgangsraum in der Mitte Europas, fand | |
die Globalisierung schon statt, wurde Weltoffenheit schon praktiziert, | |
lange bevor andere überhaupt Worte dafür fanden. Und dabei sind die | |
SüdhessInnen keineswegs mehrheitlich GroßkapitalistInnen, im Gegenteil: Man | |
lästerte schon über Management-Denglisch – Ei em werri bissi, gell? –, | |
lange bevor man anderswo den bitteren Witz darin erkannte. | |
Die Frau, der Mann von Welt: Sie sind HessInnen. Das sollte man stets im | |
Hinterkopf haben, wenn man auf die nun anstehende Hessen-Wahl blickt. In | |
Hessen wohnen Weltgeist und Macht, und ich würde sagen: Berlin zittert zu | |
Recht. | |
Katja Kullmann | |
## In Nordhessen | |
## … herrschen Treue und innerliche Schönheit | |
Als junger Bayernflüchtling kam ich im Zug nach Norden einmal neben zwei | |
Landsleuten zu sitzen. Zum Ausblick auf Himmel und Landschaft jenseits von | |
Gießen fiel denen ein: „Wenn i da nausschaug – des erinnert mi immer an die | |
DDR.“ | |
Schon mein Firmpate hatte mir spöttisch-tröstend auf die Schulter geklopft, | |
als ich ihn Ende der 1980er Jahre von meiner Absicht in Kenntnis setzte, | |
mich zivildiensttechnisch in unser nördliches Nachbarbundesland verschlagen | |
zu lassen, „Ja, ja“, sagte er, „die hessischen Inzuchtdörfer“, mir | |
sozusagen ein Abenteuer bei den wilden Völkern jenseits des guten alten | |
Limes zugestehend. | |
Dabei haben Hessen und Bayern jedenfalls eines gemeinsam: Beide sind | |
geteilt, in einen reichen Süden, der für alle Klischees gut ist – vom Bier | |
zum Äppelwoi über den bairischen bzw. babbelnden Dialekt – und mit einem | |
ärmeren, das r rollenden Norden, der wiederum in beiden Bundesländern vor | |
allem aus der Produktion von Wurst sein Selbstbewusstsein zu ziehen sucht. | |
Nordhessen liegt mitten in Deutschland, je nach Berechnungsmethode kann man | |
den Mittelpunkt der Bundesrepublik in der Kassler Gegend finden. Sucht man | |
Marburg, wo ich zehn Jahre lang gelebt habe, auf der Landkarte, so sieht | |
man es umgeben von Fluren, die „Hinterland“ heißen und mit „Grenzwegen“ | |
abschließen. Das nördliche Hessen ist eine melancholische, für deutsche | |
Verhältnisse leere Gegend. Die Sonne zeigt sich selten, selbst an | |
Hochdrucktagen im August hängen immer irgendwo Nebelfetzen am Himmel. | |
## Ironie und Sarkasmus sind hier fremd | |
Die innerlichen schönsten Menschen in meinem Leben habe ich in diesem wie | |
mit sehr wässrigen Wasserfarben gemalten Landstrich kennengelernt. Was aber | |
wäre das, ein innerlich schöner Mensch? Welche Tugenden hätte er? | |
Nun, das ist etwas heikel – im nordhessischen Fall sind es nämlich die | |
einst so genannten deutschen Tugenden. Die Menschen, denen ich dort droben | |
nahe kam, waren ohne Falsch, fast schon kindlich treudeutsch naiv und | |
ehrlich, privat wie im Geschäftlichen. | |
Sie sprachen wenig, aber sie standen zu ihrem Wort, sie waren unerbittlich | |
treu. Ironie und Sarkasmus blieben ihnen fremd. Zwei- bis dreimal im Jahr | |
ließen sie sich gehen, schütteten sich mit ihren bitteren Licher Bieren | |
voll, wurden dann erst lustig-wild und zum Ende hin schwer sentimental. Am | |
nächsten Morgen hieß das alles dann: „Spaß gehabt!“ | |
Untereinander verständigten sie sich in einem mittelhochdeutsch klingenden | |
„Platt“, das mit dem Babbeln ihrer reichen Cousins im Süden nichts zu tun | |
hat. Im historischen ARD-Dreiteiler „Der Winter, der ein Sommer war“ von | |
1976 wird diese nach Hu-häi-ho klingende „Sproch“ – eben die der nach | |
Amerika verkauften hessischen Söldner, die für die Engländer kämpfen | |
mussten – schlicht unterschlagen: Dort müssen sie Frankfurter Dialekt | |
reden. | |
## Aber hier leben – nein danke | |
Nie jedenfalls wie in den ersten Monaten in Nordhessen habe ich mich an | |
einem Ort auf so angenehme Art so fremd gefühlt. Und deswegen fahre ich | |
vielleicht immer noch so gern hin, nach Kassel inzwischen, wo man in der | |
wunderschönen Markthalle Köstlichkeiten wie Ahle und Arschdarm-Wurst kaufen | |
kann – vom Honig und vom Gemüse und überhaupt von der guten Art der Leute | |
dort gar nicht erst zu reden. | |
Kassel und natürlich meine Freunde dort liebe ich also wirklich sehr. Leben | |
möchte ich allerdings woanders: Als wir in diesem Sommer bei Hitze und – | |
fast – blauem Himmel zum Public Viewing in einen Biergarten in der | |
Nordstadt aufbrechen wollten, sah mein Freund noch mal kurz nach dem | |
Wetter: Niederschlagswahrscheinlichkeit 17 Prozent. In Berlin hatte es | |
seit Monaten nicht mehr geregnet. Mein Freund hängte sich wortlos den | |
Anorak über die Schulter und reichte mir einen Regenschirm. Ein Stunde | |
später standen wir im Landregen. | |
Auf Nordhessen kann man sich eben verlassen. | |
Ambros Waibel | |
24 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kullmann | |
Ambros Waibel | |
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