# taz.de -- Nachruf auf Prof. Dr. Wilhem Solms: Ein demokratischer Aristokrat | |
> Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms war eine außergewöhnliche | |
> Erscheinung im akademischen Betrieb. Und er war unser Lehrer, den wir | |
> vermissen. | |
Bild: Wilhelm Solms | |
Wen es Anfang der 1990er Jahren nach Marburg an der Lahn | |
zumgeisteswissenschaftlichen studieren zog, möglicherweise beeinflußt vom | |
Ruf einer linken Kaderschmiede, mußte feststellen, dass die damalige | |
Zeitenwende gründlich aufgeräumt hatte: Linksextreme Kleingruppen hatten | |
aufgehört Erstsemester zu keilen und sich ohne wimmern aufgelöst, während | |
das bekanntere linke akademische Personal mit persönlichen Neujustierungen | |
beschäftigt war. | |
Einer, der das nicht nötig hatte, war Wilhelm Solms. Denn alle Ideologien | |
demaskierte er mit Karl Marx als notwendig falsches Bewußtsein. Keine | |
schlechte Lehre für einen Professor am [1][Institut für Neuere Deutsche | |
Literatur in Marburg]. Ebenso sympathisch war seine Zuneigung zu | |
Außenseitern, war er doch selber einer. | |
Geboren 1937 im mittelhessischen Lich als Wilhelm Prinz | |
Solms-Hohensolms-Lich wurde er von klein auf anders behandelt als alle | |
Anderen. Natürlich mit Ausnahme seiner zwei Brüder, der Ältere übernahm als | |
8. Fürst die Verantwortung für Schloß und Besitzungen, während der Jüngere | |
Karriere in der FDP machte. Wilhelm Solms faßte das Konzept der FDP | |
übrigens bündig so zusammen: Stellen sie sich ein Zimmer mit zwanzig | |
zufällig zusammengewürfelten Personen vor. Mindestens einer von denen ist | |
ein Unsympath. Und das ist der FDP-Wähler. | |
Nach Schulzeit im Internat Schloß Salem (das man besser als seine | |
literarische Adaption Burg Schreckenstein kennt), ein Schutzraum für die | |
Kinder der Reichen und Mächtigen, studierte er in München und Wien und | |
promovierte 1970 mit einer Arbeit über [2][Goethes West-östlicher Diwan.] | |
Ein handfestes literaturwissenschaftliches Werk, in dem er mit Hilfe der | |
Wasserzeichen des handgeschöpften Papiers, auf dem Goethe die Gedichte | |
schrieb, eine bis heute gültige Chronologie des Diwan erarbeitete. | |
## Eine Entdeckung in Rumänien | |
Danach lebte und arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent in München | |
und heiratete die Ärztin Millicent von Boch-Galhau, mit der er vier Kinder | |
hatte. 1977 wurde er Professor an der Universität Marburg, in seiner Heimat | |
Mittelhessen. Ein Glücksfall für die Stadt, denn Literatur war für Wilhelm | |
Solms nichts Totes, dessen blanke Knochen man nach Jahrhunderten sortiert, | |
sondern quicklebendige Auseinandersetzung der Gesellschaft mit sich selbst. | |
So gründete er 1988, als Schriftstellerlesungen ein totes Format waren, das | |
[3][Marburger Literaturforum], um Autorenlesungen zu organisieren und | |
Kongresse zur Gegenwartsliteratur stattfinden zu lassen. Herausragend waren | |
dabei sein Gespür und Geschmack. | |
Als die deutschsprachige Bevölkerung Rumäniens in den späten 1980er quasi | |
komplett in die Bundesrepublik migrierte und er die Literatur dieser | |
verschwindenden Bevölkerungsgruppe in den damaligen | |
Undergroundpublikationen vor Ort studierte, um den Kongress „Nachruf auf | |
die Rumäniendeutsche Literatur“ (1988) zu organisieren, ‚entdeckte‘ er d… | |
junge Autorin [4][Herta Müller], (damals eine literarische Außenseiterin), | |
die er von nun an regelmäßig zu Lesungen nach Marburg einlud. Eine | |
Verbundenheit, die auch über ihren Literaturnobelpreis hinaus anhielt. | |
Das Marburger Literaturforum organisierte im Semester zwar nur circa zehn | |
Lesungen, doch war Dank Zuschüssen von Universität, der Stadt Marburg, dem | |
Land Hessen, der BRD usw. das Honorar für die Autoren höher als die | |
meistens ja doch ziemlich mickrigen Literaturpreise und eine Einladung zu | |
einer Lesung durchaus nicht nur eine finanzielle Auszeichnung, da sich | |
kontinuierlich ein großes Publikum im kleinen Marburg bildete und auch | |
unbekanntere Autoren eine volle Hütte erwarten konnten. Etwa als sich zu | |
Eugen Egners Lesungspremiere 1994 häuserlange Besucherschlangen am Eingang | |
stauten. | |
## Freundlicher Saalschutz für Droste | |
Zu Gespür und Geschmack gesellte sich Haltung. Als während des | |
Großkongresses [5][„Marburger Komiktage“ (1996)], bei dem nicht nur Robert | |
Gernhardt, F.W. Bernstein, Ernst Kahl oder Gerhard Henschel grundlegende | |
Vorträge hielten, sondern etwa auch Harry Rowohlt und Funny von Dannen | |
praktische Beispiele lieferten, von „autonomen FrauenLesben“ drohend | |
eingefordert wurde, den Satiriker Wiglaf Droste auszuladen, der damals | |
einer hanebüchenen Kampagne wegen angeblichen Sexismus ausgesetzt war, | |
blieb Solms locker und reagierte auf dieses Berufsverbotsverlangen mit | |
freundlichem Saalschutz – und indem er Wiglaf Droste von nun an jedes Jahr | |
[6][einlud]. | |
In den beiden dazugehörigen Tagungsbänden „Risiken und Nebenwirkungen. | |
Komik in Deutschland“ (1996) und „Was kostet der Spaß? Wie Staat und Bürg… | |
die Satire bekämpfen“ (1997) wurde dann zusammengefasst, was heute noch | |
jede Sitzung des PEN Berlin umtreibt.Und was Romani Rose im würdigen | |
Nachruf des Dokumentations-und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma zum | |
Engagement von Solms sagt, soll erst recht nicht vergessen werden: Wilhelm | |
Solms habe sich „[7][große Verdienste] um das Bewusstsein für den | |
Antiziganismus, der auch die Grundlage des Holocaust an 500.000 Sinti und | |
Roma im NS-besetzten Europa war, erworben. Er hat in ganz Deutschland eine | |
Vorbildfunktion, indem er die Antiziganismusforschung an den Universitäten | |
etabliert hat.“ | |
Am 26. November ist Wilhelm Solms im Alter von 87 Jahren in München | |
gestorben. Wir trauern um einen demokratischen Aristokraten. Wir hätten | |
gern noch einmal einen Kaffee oder ein Glas Wein mit ihm getrunken. | |
22 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.uni-marburg.de/de/fb09/neuere-deutsche-literatur/institut/perso… | |
[2] https://literaturkritik.de/public/inhalt2.php?ausgabe=88 | |
[3] https://www.literaturforum-marburg.de/ | |
[4] /!565431/ | |
[5] /Marburg-veranstaltete-seine-ersten-Komiktage/!1476528&s=/ | |
[6] /!1255468/ | |
[7] /!234314/ | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
Nils Folckers | |
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