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# taz.de -- Abweichende Geschlechtsmerkmale: Reden statt schneiden
> Expert*innen fordern bei einer Anhörung in Hamburg ein Verbot für
> Operationen von Kindern mit abweichenden Geschlechtsmerkmalen.
Bild: Hat den dritten Eintrag ins Personenregister durchgeklagt: Vanja aus Hann…
HAMBURG taz | Ein Umdenken hat stattgefunden. Bundesärztekammer und
medizinische Leitlinien mahnen schon seit einigen Jahren, Kinder mit
abweichenden Geschlechtsmerkmalen nicht mehr zu operieren. Dennoch geht die
Zahl der „feminisierenden“ und „maskulinisierenden“ Operationen nicht
zurück, wie unlängst eine [1][Studie] der Psychologin Ulrike Klöppel ergab.
In Hamburg lud nun der Wissenschaftsausschuss vier Expert*innen zu einer
Anhörung.
Sie habe in ihrer Zeit als Ärztin oft Patienten vor sich gehabt, die
Operationen an variablen Geschlechtsmerkmalen im Kindesalter hinter sich
hatten, und denen dies später körperliche Beschwerden und Leid wie
Schmerzen, Unfruchtbarkeit und Verlust der Lebensfreude verursachte,
berichtete die Urologin Michaela Katzer, die heute am Institut für
Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg tätig ist.
Und sie habe Patienten gesprochen, die als Kind nicht operiert wurden, und
die „nicht unzufrieden waren“. Sie kenne keine Patienten, für die das
Nichtoperieren einen dauernden, unwiederbringlichen Schaden bewirkte. „Die,
die operiert waren, hatten eine höhere Unzufriedenheit im Alltag“, so die
Medizinerin. Darum sei es sinnvoll, Operationen in ein Alter zu
verschieben, in dem die jungen Menschen selber entscheiden können.
Als Beispiel einer umstrittenen Operation nannte Katzer die Korrektur einer
„Hypospadie“. So nennt man eine verkürzte Harnröhre, die bei Jungen nicht
an der Spitze, sondern an der Unterseite des Penis ihre Öffnung hat. Diese
OP werde bei Kindern durchgeführt, weil Ärzte früher dachten, es sei
unabdingbar für das männliche Selbstbewusstsein, früh und oft im Stehen
Harn lassen zu können. Doch diese OP führe zu großen Komplikationsraten,
weil sie beim Kind Narben hinterlässt, die nicht mitwachsen können. Werde
deshalb zum Beispiel der Harnstrahl eingeengt, entstehe Druck auf der
Blase, was zu Nierenschädigung und Entzündungen führen könne.
Anlass der Anhörung war eine [2][Große Anfrage] der Linken-Fraktion in der
Hamburger Bürgerschaft zum Thema. Dort zitierte der Hamburger Senat die
aktuelle Stellungnahme der Bundesärztekammer, wonach an Neugeborenen und
Kleinkindern „grundsätzlich keine Operationen zur Geschlechtsangleichung
durchgeführt werden sollten“. Zugleich verwies aber die Uniklinik Eppendorf
(UKE) darauf, dass funktionell wirksame Änderungen der Geschlechtsorgane
häufig dringliche Operationen erforderten, „ohne die ein normales Gedeihen
und Leben nicht möglich wären“.
Allerdings weist die Statistik darauf hin, dass allein im Jahr 2015 bei 64
Kindern von der Geburt bis zum Alter neun Jahren besagte Hypospadie
korrigiert und bei sechs Kindern die Rekonstruktion eines Penis vorgenommen
wurde. Bei weiteren von der Linken abgefragten Operationstypen wurden wegen
kleiner Fallzahlen aus Datenschutzgründen nur Pünktchen gesetzt. Zur sehr
umstrittenen Klitoris-Verkleinerung kam es bei Kindern nicht.
Früher sei ein intergeschlechtliches Kind als Notfall bezeichnet worden,
heute würden medizinische Gründe für die Operation vorgebracht, erklärte
die Rechtswissenschaftlerin Kontanze Plett von der Universität Bremen. „Wir
müssen von der medizinischen Sichtweise weg“, sagte sie. „Ein Mensch hat
das Recht als Intersex aufzuwachsen.“
Die Mutter Ursula Rosen berichtete von ihren Erfahrungen in den 1990er
Jahren. „Als mein Kind geboren wurde, und es hieß intergeschlechtlich,
beschworen mich die Ärzte: Sie dürfen niemandem jemals etwas sagen“,
erinnert sie. Eine andere Ärztin habe sie später massiv unter Druck
gesetzt, ihr Kind zu operieren.
Heute ist das Kind erwachsen und Rosen aktiv in der Elternselbsthilfegruppe
des [3][Vereins Intersexuelle Menschen]. Eltern bieten dort im Tandem mit
Intersexuellen seit Jahren bundesweit eine Peer-to-Peer-Beratung an. Sie
fahren in Kliniken und sprechen mit Eltern, die die Diagnose bekommen, über
die Sorgen, etwa, dass ihr Kind kein zufriedenes Leben führen und keinen
Partner finden könnte.
„Wir sind von Kliniken im Hamburger Raum noch nie angefordert worden“,
sagte Rosen. Dabei steht in der ärztlichen Leitlinie, dass eine solche
Peer-Beratung hinzuzuziehen ist. Ein Arzt habe ihr gesagt: „Wir wollen
nicht operieren. Aber wenn Eltern nicht damit umgehen können, operieren wir
doch.“ Deshalb wünsche sie sich eine Beratungspflicht für Eltern vor einer
Operation.
## Interdisziplinärer Austausch
„Der Beratungsbedarf für Eltern ist eklatant“, sagte auch Psychologin
Katinka Schweizer vom Institut für Sexualforschung und Forensik am UKE. „Es
gibt weniger Operationen, wenn mehr gesprochen wird“.
Nötig sei auch ein interdisziplinärer Austausch der Fachleute, das Thema
sei auch wichtig für Pädagogik und Theologie. „Hamburg ist eine Metropole
und hat Ausstrahlung“, mahnte Schweizer. Deshalb sei ein Modellprojekt
nötig, eine „wissenschaftliche Aufarbeitung des Umgangs mit Intersexualität
in den letzten Jahrzehnten“. Urologin Katzer regte einen
Entschädigungsfonds an.
Alle vier Expert*innen drängten auf ein gesetzliches Verbot von
geschlechtsangleichenden medizinischen Eingriffen an Kindern, sofern diese
nicht zur Abwendung von Lebensgefahr notwendig sind. Das würde Ärzte und
Eltern entlasten. Zumindest eine „rechtliche Klärung“ hat die SPD schon mal
in den Koalitionsvertrag der Großen Koalition in Berlin hineinverhandelt.
## Die Linke fordert ein gesetzliches Verbot
Ohnehin geändert werden muss das „Personenstandsgesetz“. Denn das
Bundesverfassungsgericht hat im Herbst entschieden, dass der Eintrag eines
dritten Geschlechts möglich sein muss. Doch nach einem Entwurf des
Innenministeriums soll dafür nun ein ärztliches Gutachten nötig sein. Auch
soll der Eintrag schlicht „weiteres“ heißen. Für Rosen eine schlechte
Lösung. „Ich wünsche mir eine positive Benennung wie inter, divers oder
interdivers“, sagt sie. Auch wäre es besser, den Geschlechtseintrag für
alle Kinder offenzulassen.
Der Hamburger Wissenschaftsausschuss wird nach den Ferien erneut zum Thema
tagen und den Senat anhören. Die Linke fordert, dass das Rot-Grün regierte
Hamburg eine Bundesratsinitiative startet, um politisch Druck zu machen.
„Wir brauchen ein gesetzliches Verbot von Genitaloperationen an Kindern mit
Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale, wenn keine medizinisch
zwingenden Gründe vorliegen“, sagt deren Gesundheitspolitiker Deniz Celik.
Alles andere sei „ein Verstoß gegen die körperliche Unversehrtheit und
damit gegen Menschenrechte“.
„Die Anhörung hat verdeutlicht, dass Intersexualität im klinischen Umfeld
noch viel zu oft mit Krankheit in Verbindung gebracht wird“, ergänzt seine
Parteikollegin Cansu Özdemir. Deshalb sei es wichtig, die außerklinische
Peer-Beratung zu stärken, und zu prüfen, ob die Beratung in Hamburg Pflicht
werden könnte.
26 Jun 2018
## LINKS
[1] https://www2.gender.hu-berlin.de/ztg-blog/2016/12/publikation-zur-aktualita…
[2] https://kleineanfragen.de/hamburg/21/9670-operationen-an-kindern-mit-variat…
[3] http://www.im-ev.de/intersexualitaet/
## AUTOREN
Kaija Kutter
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