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# taz.de -- Intersexualität im Spitzensport: Welches Geschlecht?
> Athleten, die sich einer klaren geschlechtlichen Zuordnung entziehen,
> werden diskriminiert. Das muss sich ändern. Nur wie?
Bild: Caster Semenya aus Südafrika bei einem Wettkampf im vergangenen August i…
Hermaphroditos, wie Ovid ihn beschreibt, ist ein Wesen, das aus unbändiger
Liebe entstanden ist. Die Nymphe Salmakis war vom nackt badenden,
schüchternen Jüngling, Sohn der Aphrodite und des Hermes, so verzückt, dass
sie ihn umschlang und eins mit ihm wurde. Der junge Mann wurde wohl etwas
überrumpelt, er wunderte sich auch ein bisschen darüber, dass er künftig
als Mann und Frau durch die Welt gehen sollte, als ein Wesen, für das seine
Mitmenschen in der Folgezeit, in der die Gendertheorie noch nicht so
fortgeschritten war wie heute, meist wenig schmeichelhafte Worte fanden:
Zwitter, Mannweib, Freak.
Weil das Geschlecht sich scheinbar klar kategorisieren lässt, Männlein hier
und Weiblein dort, sind jene Zwischenbereiche immer wieder von einer
unaufgeklärten Öffentlichkeit zu Tabuzonen erklärt worden. Dort wurden
Menschen, die sich einer klaren Zuordnung entzogen, diffamiert, ausgegrenzt
und stigmatisiert. Caster Semenya ist zwar über 2.000 Jahre nach Ovid auf
die Welt gekommen, aber die Ressentiments, mit denen Intersexuelle heute
leben müssen, kennt die südafrikanische Leichtathletin nur zu gut.
Als sie das erste Mal vor einem größeren Publikum bei der Leichtathletik-WM
in Berlin auftrat, da entrüstete sich ihre italienische Konkurrentin Elisa
Cusma: „Für mich ist sie keine Frau, sie ist ein Mann.“ Semenya gewann
trotz aller Anfeindungen das Finale im 800-Meter-Lauf. Auch bei der letzten
WM in London gewann sie wieder nach zwei Stadionrunden. Semenya ist
freilich nicht mehr die einzige beargwöhnte Person in der
Leichtathletikszene. Die Mittelstrecklerinnen Francine Niyonsaba aus
Burundi und die Kenianerin Margaret Wambui sind gleichfalls intersexuell.
Und dann ist da noch die indische Sprinterin Dutee Chand, die wie keine
andere vor ihr für die Rechte von intersexuellen Athleten gekämpft hat. Sie
ist bis vor das internationale Sportgericht CAS in Lausanne gezogen und hat
durchgesetzt, dass sie als jene Person an den Start gehen kann, die sie nun
einmal ist: eine Frau mit gewissen Besonderheiten.
## Mehr Leistung durch mehr Testosteron
Sie musste sich nun nicht mehr einer entwürdigenden Körperuntersuchung samt
Messung des Testosteronspiegels unterziehen. Auch Caster Semenya konnte
nach dem Urteilsspruch der CAS-Richter vor gut zwei Jahren jene Medikamente
weglassen, die ihre männlichen Sexualhormone auf ein zulässiges Niveau
drückten. Aber nun steht ein neues Urteil des CAS bevor. Das ist
zweifelsohne heikel, weil es zu einer Güterabwägung kommen muss.
Und darum geht es: Ist es okay, wenn intersexuelle Athletinnen mit einem
hohen Testosteronspiegel, also einer Veranlagung, die wohl bis zu zehn
Prozent mehr Leistung garantiert, einfach so gegen ihre Konkurrentinnen
antreten dürfen? Welches Rechtsgut wiegt schwerer: die uneingeschränkte
Teilhabe intersexueller Athletinnen oder die Chancengleichheit aller? Ist
die Chancengleichheit nicht eines der obersten Prinzipien im Sport? Nicht
uninteressant ist auch die Frage, ob Läuferinnen wie Semenya ihren
Testosteronspiegel nicht künstlich pushen können durch die Einnahme von
exogenem Testosteron, also durch Doping.
Die Richter befinden sich in einer Zwickmühle, zumal sie über etwas
urteilen, das in seiner schillernden Vielgestaltigkeit selbst
Humangenetiker manchmal überfordert: Es gibt Menschen mit dem sogenannten
Androgen-Rezeptor-Defekt, bei dem ein Fötus mit XY-Chromosomen Hoden
entwickelt, aber da die Rezeptoren für Testosteron fehlen, entwickelt das
Kind ein „weibliches“ Genital.
Beim Swyer-Syndrom ist der Chromosomensatz männlich, aber weil ein Gen
fehlt, werden ein Uterus und eine Vagina ausgebildet. Noch komplizierter
wird es beim 5-Alpha-Reduktase-Mangel – um nur einen kurzen Überblick zu
geben. Kein Wunder, dass der gute alte Sigmund Freud einst schrieb, „ein
gewisser Grad an anatomischem Hermaphroditismus“ gehöre der Norm an.
## Inklusion schlägt Chancengleichheit
Intersexualität ist dennoch selten. Im Leistungssport etwas weniger, weil
Talente wie Caster Semenya natürlich dort landen, wo sie gut sind: in der
Leichtathletik oder anderen Sportarten, in denen sie ihren körperlichen
Vorteil bei gutem Training nutzen können. Der Sport öffnete für Chand und
Co. ein Betätigungsfeld. Sie konnten sich ausleben und ihr Nischendasein in
einem nicht selten gnadenlosen Umfeld erträglicher gestalten. Das muss der
CAS berücksichtigen – und auch die Repressionsgeschichte von intersexuellen
Athletinnen.
Als die Niederländerin Foekje Dillema 1950 von Funktionären „aussortiert“
wurde, soll sie sich aus Scham in ihrer friesischen Heimat verschanzt und
ein Jahr lang das Haus nicht verlassen haben. Die Inderin Santhi
Soundarajan, die 2006 gesperrt worden war, sagte seinerzeit: „Ich werde
behandelt wie eine Aussätzige. Ich werde von meiner eigenen Verwandtschaft
gemieden.“ Ähnlich erging es der spanischen Hürdenläuferin Maria José
Martínez-Patiño.
Die Richter des Sportgerichtshofs kennen sicherlich den juristischen Kniff
des Lex specialis. Dieses Gesetz verdrängt ein allgemeines Gesetz. Der
Lateiner sagt dazu: lex specialis derogat legi generali. Etwas plump
formuliert könnte man sagen, Ober sticht Unter. In diesem Fall hieße das:
Das Recht der etwas anderen Athletinnen, ohne hormonsupressive Medikamente,
also letztlich körperlich unversehrt, zu laufen, wiegt schwerer als der
Leistungsvorteil, den sie gegenüber den Konkurrentinnen haben: Inklusion
schlägt Chancengleichheit.
Das verlangt nicht nur dem Publikum eine gewisse zivilisatorische Reife ab,
vor allem die Rivalinnen auf der Rennbahn müssen etwas zugestehen, das
nicht selbstverständlich ist – den Sonderstatus einer Minderheit. Es geht
nicht um eine heroische Selbstlosigkeit, ein wenig Empathie für die
intersexuellen Athletinnen würde schon reichen. Deren Sonderstatus ist auch
deswegen zu rechtfertigen, weil die Fälle, in denen sich „normale“
Topathletinnen benachteiligt fühlen könnten, im gesamten Leistungssport
dann doch extrem selten sind.
7 Nov 2017
## AUTOREN
Markus Völker
## TAGS
Intersexualität
Gender
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Frauenfußball
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