# taz.de -- Umsetzung Berliner Mobilitätsgesetz: So kommt das Rad ins Rollen | |
> Um das Radgesetz richtig auf die Straße zu bringen, braucht es weiter | |
> Druck und Expertise. Die Aktivisten in den Bezirksnetzwerken wollen dafür | |
> sorgen. | |
Bild: Noch gibt es zu häufig ein Weg für alle | |
BERLIN taz | Auf dem Weg von der taz nach Spindlersfeld lässt sich ganz gut | |
erfahren, wie es um Berlins Radinfrastruktur bestellt ist. Die | |
Routenplaner-App lotst zunächst auf Seitenstraßen durch Neukölln, | |
erfreulicherweise jenseits der Verkehrsvorhölle auf Sonnenallee, Karl-Marx- | |
und Hermannstraße. Ab dem Britzer Hafen geht es kilometerlang auf bestem | |
Asphalt geradeaus, zwischen der grün überwucherten Lärmschutzwand der A113 | |
und dem spiegelglatten Teltowkanal. | |
Bei der Fahrt durch die Wissenschaftsstadt Adlershof fragt man sich, ob | |
Verkehrsplaner vor 20 Jahren wirklich noch glaubten, der Klassiker „rosa | |
eingefärbte quadratische Betonplatten“ sei ein Radwegbelag mit Zukunft. Den | |
bitteren Abschluss macht die enge, marode und mit Tramgleisen gespickte | |
Dörpfeldstraße. | |
Vor dem Stadtteilzentrum Kiezspindel sitzen dann zehn Menschen bei | |
Mineralwasser um einen Bierzelttisch und überlegen: wie sich ihr Bezirk | |
radfreundlicher gestalten ließe, wie am effektivsten Druck auf die Politik | |
auszuüben wäre. Sophie Lattke, 25, Initiatorin des Netzwerks | |
Fahrradfreundliches Treptow-Köpenick, das sich an diesem sonnigen Juniabend | |
zum vierten Mal trifft, hat ihren Laptop aufgeklappt und leitet die | |
Sitzung. Es geht – unter anderem – um die Vorbereitung eines | |
„Einwohnerantrags“, mit dem das Bezirksparlament gezwungen werden kann, | |
sich mit einem bestimmten Thema zu befassen. | |
„Wir hatten beim letzten Treffen ermittelt, dass die Situation an der | |
Bahnhofstraße besonders problematisch ist“, erinnert Lattke die Anwesenden, | |
„da hattet ihr gleich mehrere rote Punkte auf den Stadtplan geklebt.“ Ein | |
anderer in der Runde bekräftigt: „Jeder, der mal im Forum Köpenick shoppen | |
war, kennt das: Die Autos parken auf den Radwegen, die Radfahrer weichen | |
auf die Gehwege aus und kommen den Fußgängern in die Quere.“ | |
## Es wird Jahre dauern | |
Was tun? Bis zur grundlegenden Umgestaltung der Straße kann es, | |
Mobilitätsgesetz hin oder her, noch Jahre dauern, zumal die künftige | |
Tangentialverbindung Ost ohnehin die Köpenicker Altstadt entlasten soll, | |
wie Manuel Tyx zu bedenken gibt. Der im Radsportdress erschienene | |
SPD-Bezirksverordnete kann Hintergrundwissen aus der | |
Bezirksverordnetenversammlung (BVV) einbringen und ist auch nicht der | |
einzige Lokalpolitiker in der Runde. | |
Wofür also die 1.000 Unterschriften sammeln, die ein Einwohnerantrag | |
braucht? „Für den Radweg gibt es immer noch eine Benutzungspflicht, die | |
sollte endlich aufgehoben werden“, meint jemand. Hier weiß Tyx: „Die | |
Aufhebung war schon beschlossen, aber dann hat auch noch jemand gegen die | |
Benutzungspflicht geklagt. Deswegen liegt die Sache jetzt auf Eis.“ Eine | |
absurde Situation, alle lachen. Über den Einwohnerantrag wird auf | |
späteren Treffen noch zu reden sein. | |
Das Netzwerk Fahrradfreundliches Treptow-Köpenick ist eines von bislang | |
neun Bezirksnetzwerken, die unter dem Dach von [1][Changing Cities e. V.], | |
dem Trägerverein des Volksentscheids Fahrrad, die „die Umsetzung des | |
kommenden RadGesetzes zeitgleich auf lokaler Ebene begleiten und | |
beobachten“ wollen, wie es in der Selbstbeschreibung heißt. | |
Wobei man im Abgeordnetenhaus und der Senatsverkehrsverwaltung ein | |
„RadGesetz“ nicht kennt: [2][Hier redet man nur vom „Mobilitätsgesetz“… | |
Das Label, das die Velo-AktivistInnen ihrem Projekt gegeben hatten, soll | |
nicht mehr draufkleben, dazu ist auch die Kluft zwischen Senat und Bewegung | |
zu groß (siehe auch das Interview mit Heinrich Strößenreuther auf Seite 46 | |
und 47). | |
Ob die PlanerInnen auf Landes- und Bezirksebene die Netzwerke als Stachel | |
im Fleisch empfinden, als Ärgernis oder als Glücksfall, wird sich | |
herausstellen. In jedem Fall sind die noch jungen Gruppen hungrig auf | |
Veränderung, und sie haben schon fast paradiesische Rahmenbedingungen: Für | |
den Umbau der Infrastruktur stehen in dieser Legislaturperiode rund 200 | |
Millionen Euro zur Verfügung, und die Verwaltung wird ihre liebe Not haben, | |
diese Summen effizient abfließen zu lassen. Da kommt massiver inhaltlicher | |
Input von der Basis wie gerufen. | |
## Vorreiter Neukölln | |
Noch legen sich die bestehenden Gruppen unterschiedlich stark ins Zeug, in | |
Reinickendorf, Spandau und Marzahn-Hellersdorf hat sich noch gar kein | |
Netzwerk gegründet. Wie erfolgreich der Graswurzellobbyismus sein kann, | |
zeigt dagegen das Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln, „die Mutter aller | |
Radnetzwerke“, wie ein Aktivist scherzhaft, aber nicht ohne Stolz sagt: | |
2015 gegründet, haben die AktivistInnen den Volksentscheid Fahrrad | |
mitinitiiert, der schon bei der ersten Unterschriftensammlung an der | |
100.000-Marke kratzte und so einen radpolitischen Paradigmenwechsel | |
lostrat. | |
Dass die neue Bewegung von Neukölln ausging, war fast zwingend, wenn man | |
sich die Infrastruktur im Bezirk ansieht: Auf den drei anfangs erwähnten | |
Magistralen ist Radfahren in etwa das Gegenteil von „sicher und | |
komfortabel“, wie es der Volksentscheid zu seinem Mantra machte. | |
„Wir haben mittlerweile fast 100 institutionelle Mitglieder“, erklärt | |
Saskia Ellenbeck, zusammen mit Peter Feldkamp und Jan-Michael Ihl eine der | |
Initiatorinnen des Netzwerks. „Das ist eine ganz heterogene Gruppe aus | |
Gewerbetreibenden, aber auch Kitas oder Schulen, die alle sagen: Wir | |
brauchen andere Verkehrspolitik im Kiez!“ Ganz normale RadfahrerInnen sind | |
natürlich auch dabei, sie tragen die Aktionen und Kampagnen, mit denen sie | |
auf mangelhafte Wegeverbindungen, auf die vom motorisierten Verkehr | |
verpestete Luft oder die Gefährdung von radfahrenden Kindern hinweisen. | |
Als größten bisherigen Erfolg können sich die Neuköllner Netzwerker die | |
Ausweisung des Weigandufers am Neuköllner Schifffahrtkanal als | |
Fahrradstraße ans Revers heften. Die Initiative dazu war mal von der | |
Piratenfraktion ausgegangen, aber hätten Ellenbeck und ihre Mitstreiter sie | |
nicht adoptiert und vorangetrieben, wäre sie von der SPD-dominierten BVV | |
längst zu den Akten gelegt worden. „Damals gab es noch viel Unwissenheit in | |
Bezug auf Fahrradstraßen, das Thema war einfach noch neu“, erinnert sich | |
Ellenbeck. „Es gab Ängste, das Ufer sei dann für Autos völlig tabu. Aber | |
AnliegerInnen dürfen es ja auch weiterhin benutzen.“ | |
## Autos ausschließen | |
Noch wichtiger als die Fahrradstraßenschilder, die demnächst aufgestellt | |
werden sollen, ist für Ellenbeck die ebenfalls beschlossene Umgestaltung | |
des Wildenbruchplatzes, der bis an den Kanal herangezogen und für Pkws | |
tatsächlich unpassierbar wird. „Modaler Filter“, heißt das im | |
VerkehrsplanerInnen-Jargon. Sprich: Radfahrer und Fußgängerinnen werden | |
weiterhin durchgelassen, für Menschen in Autos dagegen wird ein Schleichweg | |
nachhaltig zerteilt. | |
Die Arbeit wird den Neuköllner AktivstInnen auch in den kommenden Jahren | |
nicht ausgehen. Wenn tatsächlich irgendwann die Tram M10 von der Warschauer | |
Straße zum Hermannplatz verlängert ist und die A100 von Süden Autos | |
anspült, wird die Sonnenallee unter noch stärkerem Verkehrsdruck ächzen. | |
Ellenbeck warnt: „Die einzige Strategie des Bezirksamts ist bisher leider, | |
Nebenrouten wie die Donaustraße zu asphaltieren. Aber die Autofahrer oder | |
ihre Navigationsgeräte werden diese Routen finden. Da muss noch | |
weitergedacht werden.“ | |
Irgendwann fragt man sich als Beobachter: War da nicht was? Wurde für diese | |
Art politischer Einflussnahme nicht der Allgemeine Deutsche Fahrradclub | |
(ADFC) gegründet, der auch in vielen Berliner Bezirken Gruppen unterhält? | |
Dass sich die Netzwerke und der ADFC in irgendeiner Form als Konkurrenten | |
begreifen, will keiner der Beteiligten so sehen. Es gebe da viel Austausch | |
und auch große Überschneidungen, sagt der Sprecher des ADFC-Landesverbands, | |
Nikolas Linck, Aktionen würden gemeinsam durchgeführt: „Genau das brauchen | |
wir doch, dass Leute sich zusammentun, die sich in ihrem Bezirk auskennen.“ | |
Das sei umso wichtiger, so Linck, als die planerische Man- und Womanpower | |
für die Verkehrswende längst nicht vollständig zur Verfügung stehe: „Die | |
neugeschaffenen Stellen in den Bezirksämtern sind bis dato gerade mal zur | |
Hälfte besetzt.“ | |
Was niemand so aussprechen will: Der ADFC hatte über lange Jahre jegliche | |
offene Konfrontation mit dem Senat vermieden. Man lobte das Erreichte und | |
verließ sich auf die Strategie, Kritikwürdiges in Hintergrundrunden wie den | |
„FahrRäten“ zu äußern, runden Tischen, an denen neben Verwaltung und | |
Verbänden auch VertreterInnen von Polizei, BVG und S-Bahn sitzen. Mit dem | |
Volksentscheid und den Netzwerken wehte plötzlich wieder ein schärferer | |
Wind, Forderungen wurden gestellt, öffentlicher Druck aufgebaut. Das, | |
glaubt Saskia Ellenbeck, komme gerade bei der jüngeren Generation gut an. | |
Das Verhältnis zum ADFC mit seiner fachlichen Expertise bezeichnet sie als | |
„komplementär“. | |
In Spindlersfeld ist man mittlerweile beim Thema „Parking Day“ angekommen �… | |
einem Aktionstag, an dem Straßenparkplätze mit kreativen | |
Alternativnutzungen belegt werden, um zu zeigen, wie viel öffentlichen Raum | |
abgestellte Autos verbrauchen. „Wir könnten Decken ausbreiten und ein | |
Picknick auf der Straße veranstalten“, schlägt Sophie Lattke vor: „Letztes | |
Jahr war ich in Essen, da haben wir ein Bällebad aufgebaut.“ Ein anderer | |
hat noch eine spielerische Idee: „Carcassonne! Alle bringen ihr | |
Carcassonne-Spiel mit! Zu Hause reicht die Tischfläche doch nie aus!“ Wenn | |
es den neuen Radaktiven an einem nicht mangelt, ist es Kreativität. | |
26 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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