# taz.de -- Gestohlene Judaica: Die Spur des Sabbatleuchters | |
> Wie erforscht man die Herkunft jüdischer Kulturgüter? Eine Fachtagung in | |
> Berlin unternahm den Versuch, Museumsmitarbeiter zu schulen. | |
Bild: Alex und Lotte Sonnenfeld im Wohnzimmer, Berlin 1935 | |
Etwa 20 Museumsmitarbeiter sitzen an zwei Tischen und brüten über einem | |
Haufen Papier. Die Münchner Provenienzforscherin Carolin Lange hat ihnen | |
den Stapel Kopien und ein paar Literaturhinweise zukommen lassen. Jetzt | |
sollen sie in 30 Minuten ein Rätsel lösen: Waren zwei Gemälde von Picasso | |
und Chagall im rechtmäßigen Besitz des Kunstsammlers Hildebrand Gurlittt? | |
Oder sind die Bilder Raubgut, das französischen Juden von den Nazis | |
gestohlen wurde? | |
Die gelehrigen Schüler von Lange blättern sich durch Dokumente des | |
US-Nationalarchivs, lesen einen Lebenslauf Gurlitts, in dem sich dieser zum | |
Wiederstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten stilisiert, und studieren | |
Fachliteratur. Sollte Gurlitt wirklich mit seiner schriftlich untermauerten | |
Behauptung Recht haben, er habe die Bilder von dem Schweizer Maler Karl | |
Balmer 1943 als Geschenk erhalten? | |
Die Praxisübung ist Teil eines gemeinsam vom Jüdischen Museum Berlin und | |
dem Centrum Judaicum veranstalteten Fachsymposiums zur Erforschung der | |
Herkunft von Kunstgegenständen. Eigentlich geht dabei nicht um berühmte | |
Maler, sondern um Judaica, jüdische oder vermeintlich jüdische | |
Kultgegenstände vom Sabbatleuchter bis zur Torarolle. Zielpublikum der | |
Veranstaltung sind Mitarbeiter von Museen, besonders von regionalen | |
Institutionen, und keineswegs nur auf Judaica spezialisierte Sammlungen. | |
Dass Raubkunst ein großes Problem internationaler Dimension ist, hat sich | |
längst herumgesprochen. Prominente Restitutionsverfahren um berühmte | |
Gemälde haben deutlich gemacht, dass sich immer noch tausende gestohlene | |
Kunstwerke in Privat- und Museumshand befinden. Das gilt auch für Judaica, | |
auch wenn der Fall etwas anders gelagert ist. | |
## Sabbatleuchter oder profaner Leuchter? | |
Denn viele Leuchter, Gewürzdosen oder Kidduschbecher schlummern zwar noch | |
unerkannt in Sammlungen. Doch, wie die Kuratorin Michal Friedlander vom | |
Berliner Jüdischen Museum deutlich macht, unterscheiden sich diese | |
Gegenstände in mindestens zwei Aspekten deutlich von berühmten Werken der | |
bildenden Kunst: Es handelt sich häufig um Alltagsgegenstände, zwar aus | |
Silber hergestellt, aber doch Massenware, die bisweilen bis heute | |
produziert wird. Und es ist keineswegs immer festzustellen, ob ein | |
Sabbatleuchter wirklich ein Sabbatleuchter ist, oder nicht einfach ein | |
profaner Leuchter. | |
20 Tonnen Silbergegenstände beschlagnahmten die Nazis nach der Pogromnacht | |
1938 allein von Hamburger Juden. Zwei Tonnen davon überstanden – da nicht | |
eingeschmolzen – die NS-Zeit, insgesamt 3.000 Objekte, die 1960 an | |
Hamburger Museen verteilt wurden. Wie soll man erkennen, wem sie einmal | |
gehört haben? Die Angelegenheit ist ähnlich verzwickt wie bei jüdischen | |
antiquarischen Büchern, in denen der Besitzer keinen Namen und keinen | |
Hinweis hinterlassen hat. In vielen Fällen bleibt eine Restitution | |
unmöglich. | |
Dennoch, so der Tenor der Tagung, sind die Museen dazu aufgefordert, die | |
Herkunft ihrer Judaica-Bestände unter die Lupe zu nehmen. Wichtige Hinweise | |
können schon der Zeitpunkt des Ankaufs oder der Schenkung, der Zustand der | |
Ware und der Verkäufer oder Spender ergeben. Ziel sei es, sagt die | |
Provenienzforscherin Anna-Carolin Augustin, den Gegenständen eine Vita zu | |
geben und möglichst auszuschließen, dass diese Raubkunst sind. | |
Augustin untersucht seit einem Jahr die Sammlung Zwi Sofer im Jüdischen | |
Museum Berlin – etwa 300 Judaica-Objekte unterschiedlichster Provenienz. | |
Zusammengetragen wurden sie von dem jüdischen Sammler gleichen Namens nach | |
Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein erster Überblick ergab keinerlei Hinweise | |
auf die Herkunft all der Gewürzdosen, Glasobjekte und Leuchter. Bei rund | |
zwei Dritteln der Sammlung handelt es sich um nicht identifizierbare | |
Massenware, so Augustin. „Die klassischen Methoden der Provenienzforschung | |
liefen damit ins Leere“, sagt sie. | |
## Die Geschichte der Objekte erzählen zu können | |
Also begann Augustin nachzuforschen: Wo hat der 1980 verstorbene Zwi Sofer | |
sein Leben verbracht? Sie stieß auf Briefe, Devisenakten – und auf eine | |
Sammlung von Visitenkarten. Mithilfe dieser Papiere gelang es, Näheres über | |
die Judaica-Sammlung zu erfahren. Inzwischen steht fest: 40 der Objekte | |
können als „nicht belastet“ eingestuft werden, bei 20 konnte der | |
Vorbesitzer identifiziert werden. Und bisher fand sich kein Fall von | |
Raubkunst. | |
Augustins Ziel ist es, dem Besucher nicht nur die Objekte zu präsentieren, | |
sondern auch deren Geschichte zu erzählen. Das kann schriftlich erfolgen, | |
mit Audioguides oder mit anderen technischen Hilfsmitteln, erzählt sie. Es | |
gehe darum, „Transparenz herzustellen“. | |
Michal Friedlander berichtet aus der Praxis des Ankaufs. Einmal bekam das | |
Jüdische Museum Berlin einen siebenarmigen Leuchter von einem Priester | |
angeboten, der erzählte, Bekannte hätten diesen zur Aufbewahrung von | |
benachbarten Juden erhalten, die in der NS-Zeit deportiert wurden. Die | |
Geschichte könnte stimmen. Doch Friedlander verzichtete auf den Leuchter, | |
weil nicht herauszufinden war, wer der frühere Besitzer gewesen sein | |
könnte. | |
Sie fragt, was es bedeutet, wenn deutsche Bürger Judaica an ein jüdisches | |
Museum übereignen möchten. „Handelt es sich um eine Art Wiedergutmachung“, | |
womöglich für das, was die Urgroßeltern in der Nazi-Zeit getrieben haben? | |
Ist es eine späte Folge von Scham und Wegschauen? Und ist ein | |
Chanukkaleuchter eigentlich jüdischer als ein Teekessel, der einmal von | |
Juden benutzt worden ist? | |
## Kunstvolle Fälschungen mit möglichst vielen Davidsternen | |
Judaica, das ist auch ein riesengroßer Markt, wo mit Gewürzdosen aus dem | |
17. Jahrhundert Spitzenpreise zu erzielen sind. Bei einem Workshop | |
präsentiert Friedlander kunstvolle Fälschungen, mit möglichst vielen | |
angepappten Davidsternen als Beweis für die angeblich jüdische Herkunft. | |
Sie warnt vor Angeboten im Internet und vor Objekten, die man angeblich | |
gerade eben erst auf einen Dachboden gefunden hat. | |
Friedlander erwartet für die Zukunft, dass deutschen Museen mehr Judaica | |
aus Privatbesitz angeboten wird. Es gebe ein neues Bewusstsein im Land. | |
Zugleich frage sie sich aber auch, ob diese Gegenstände nicht besser in | |
nichtjüdische als jüdische Sammlungen gehörten, schließlich seien sie auch | |
Teil der deutschen Geschichte. | |
Zur besseren Provenienzforschung, so ein Fazit, ist eine stärkere | |
Vernetzung der Forscher und eine engere Kooperation mit israelischen | |
Einrichtungen notwendig. Schließlich scheitern viele Mitarbeiter deutscher | |
Museen schon an den hebräischen Schriftzeichen, die sie nicht zu deuten | |
verstehen. | |
Und der Workshop mit den Gemälden von Chagall und Picasso? Die Lernenden | |
sind auf die richtige Spur gestoßen: Die Werke tauchen in einem | |
Inventarverzeichnis Gurlitts auf, in dem angegeben wird, er habe diese 1942 | |
in Frankreich gekauft – von wegen Schenkung. Den letzten Beweis aber | |
liefert Provenienzforscherin Carolin Lange selbst ab: Sie hat nachgewiesen, | |
dass das Dokument, mit dem der Maler Karl Balmer angeblich die Schenkung | |
bestätigt, und ein Brief aus dem Hause Gurlitt mit derselben | |
Schreibmaschine geschrieben wurden. | |
21 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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