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# taz.de -- Gedenken an NS-Opfer: In Serbien war Schluss
> Heinz Cassirer fiel nach fast zweijähriger Flucht durch Europa doch den
> Nazis zum Opfer. Nun werden Stolpersteine für ihn und seine Eltern
> verlegt.
Bild: Das letzte Bild von Heinz Cassirer (M.) und seinen Eltern, aufgenommen am…
Das Haus in der Gustav-Freytag-Straße 7 in Schöneberg beherbergte im
Erdgeschoss einmal einen Buchladen. Geleitet wurde der von Alice und Arthur
Cassirer, die praktischerweise im selben Haus wohnten, im 3. Stock. Dann
waren da noch ihre Kinder Gertrud und Heinz, geboren 1919 und 1918. Von
Heinz wissen wir, dass er sehr gerne Bücher las und Mitglied eines
Rudervereins in Wannsee war, dem schon seine Eltern angehört hatten.
Nur Gertrud hat den Holocaust überlebt. Sie emigrierte im August 1939 nach
Lateinamerika und ist im Februar 2010 verstorben. Alice, Arthur und Heinz
Cassirer gelang die Flucht nicht.
An diesem Samstag um 10.30 Uhr werden in Erinnerung an die drei Berliner
Stolpersteine vor dem Haus Gustav-Freytag-Straße 7 verlegt. Ein Verwandter
der Cassirers wird sprechen, der in diesem Text nicht mit seinem richtigen
Namen genannt werden möchte, aus Furcht vor antisemitischen Übergriffen.
Deutschland im Jahr 2018. Nennen wir ihn Thomas Heilbronn.
Alice und Arthur Cassirer, Jahrgang 1893 und 1891, verloren 1937 ihren
Buchladen, der „arisiert“ wurde. Ende 1938, nach der Pogromnacht, kam
Arthur für Wochen ins KZ Sachsenhausen, so wie rund 20.000 andere jüdische
Männer. Später musste er in Berlin Zwangsarbeit leisten. Alice und Arthur
sind am 19. Februar 1943 mit dem „29. Ost-Transport“ nach Auschwitz
deportiert worden. An welchem Tag sie dort ermordet wurden, ist nicht
bekannt, deshalb hat man sie wie so viele Opfer zum 8. Mai 1945 für tot
erklärt.
Auschwitz, diese deutsche Mordfabrik, ist zum Synonym für den Holocaust
geworden. Andere Tötungsstätten sind nicht so bekannt. Und wohl nur ganz
wenige Menschen wissen etwas mit dem Begriff Kladovo-Transport anzufangen.
Heinz Cassirer ist dieser Transport zum Verhängnis geworden. Dabei sollte
die Reise, so die Hoffnung der Teilnehmer, in der Rettung in Palästina
münden.
Es existiert dieses Bild, aufgenommen am 17. November 1939 in Berlin. Es
zeigt Heinz Cassirer mit seinen Eltern. Auf der Rückseite steht geschrieben
„Letzte Stunde im Elternhaus“. Kurz darauf machte sich Heinz auf den Weg
nach Wien.
Vorher schon hatte Heinz an einer landwirtschaftlichen Ausbildung in Gut
Winkel/Spreenhagen (Mark) teilgenommen, als Vorbereitung für das Exil in
Palästina. So wurde er zusammen mit etwa 130 weiteren Flüchtlingen aus der
Reichshauptstadt von den Leitern der zionistischen Auswanderungsinitiative
für die illegale Reise ausgewählt. Illegal war sie, weil die britische
Mandatsmacht in Palästina keine Einwanderungszertifikate bereitgestellt
hatte. Die Nazis dagegen favorisierten damals, kurz nach Beginn des
Krieges, noch die Vertreibung der Juden.
## Donaufahrt mit Hakenkreuzflagge
Von Wien ging es nach Bratislava, nun angeschlossen einer großen
Flüchtlingsgruppe mit mehr als 800 Teilnehmern, meist österreichische
Juden. Von dort, nach quälender Wartezeit, über die Donau – in Richtung
Rumänien, mit dem Ziel Schwarzes Meer, in der Hoffnung, irgendwie Palästina
zu erreichen. Sie fuhren zunächst mit dem Dampfer „Uranus“, auf dem die
Hakenkreuzflagge wehte. Sie besaßen zehn Reichsmark, und das Gepäck war auf
acht Kilogramm limitiert. Es war eiskalt. In Budapest wurden die
Flüchtlinge auf drei kleine Dampfer umgeladen.
In Serbien war Schluss. Der Eisgang auf der Donau machte eine Weiterreise
unmöglich. Die Schiffe sollten in Kladovo überwintern, einem kleinen,
abgelegenen Hafen. Es fanden sich keine neuen Boote, auch nicht nach dem
Winter. Dort saß die Gruppe unter elenden Bedingungen fest – bis zum
September 1940.
Dann ging es weiter, aber in die verkehrte Richtung, donauaufwärts nach
Sabac. Einigen jungen Juden gelang von dort die Flucht, wenige erreichten
mehr als ein Jahr später ihr Ziel Palästina. Heinz Cassirer war nicht unter
ihnen.
Im Frühjahr 1941 eroberte die Wehrmacht Jugoslawien. Die Nazis hatten die
Flüchtlinge eingeholt. Ihr Ziel war nicht länger die Vertreibung, sie
hatten sich zum Massenmord entschlossen.
## Erschossen an der Save
Heinz Cassirer und die anderen Kladovo-Flüchtlinge kamen in ein örtliches
KZ. Am 10. Oktober 1941 befahl General Franz Böhme: „805 Juden und
Zigeuner werden aus dem Lager Sabac, der Rest aus dem jüdischen
Durchgangslager Belgrad entnommen.“ Einen Tag später begann der
Todesmarsch, dem sich die männlichen Flüchtlinge des Kladovo-Transports
anschließen mussten. Sie wurden am 12. und 13. Oktober 1941 an der Save
erschossen. Zu den Opfern zählte nach allem, was man weiß, auch Heinz
Cassirer. Er wurde 23 Jahre alt. Die Frauen wurden bald darauf in einem
Gaswagen ermordet.
Der 50-jährige Thomas Heilbronn, Urenkel von Alice und Arthur Cassirer und
Cousin von Heinz, wird am Samstag bei der Stolpersteinverlegung sprechen.
Er wird sagen: „Als Erkenntnis aus den Biografien von Alice, Arthur und
Heinz möchte ich Euch bitten, Ungerechtigkeiten, Unmenschlichkeit und der
Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie entgegenzutreten.“
15 Jun 2018
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Holocaust
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Schwerpunkt Nationalsozialismus
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