| # taz.de -- Ausstellung erinnert an „Polenaktion“: Die vergessene Abschiebu… | |
| > Vor 80 Jahren schoben die Nazis polnische Juden an die deutsch-polnische | |
| > Grenze ab. An sechs Familien in Berlin erinnert nun eine Ausstellung. | |
| Bild: Essensausgabe im Lager Zbąszyń | |
| Am frühen Morgen des 28. Oktober 1938 stehen sie auch vor der Tür der | |
| Familie Klein in der Keibelstraße 6 nahe des Alexanderplatzes. Der jüngste | |
| Sohn, Gerhard, damals 18 Jahre alt, war als Kind ein vielversprechendes | |
| Schauspieltalent. In der Verfilmung von Erich Kästners „Emil und die | |
| Detektive“ hatte er den Professor gespielt, in Max Ophüls „Dann schon | |
| lieber Lebertran“ sogar die Hauptrolle. Doch mit dreizehn brach seine | |
| Karriere ab. Gehards Eltern sind Juden. Polnische Juden. Am 28. Oktober | |
| 1938 werden sie im Rahmen der „Polenaktion“ verhaftet und mit Sonderzügen | |
| an die polnische Grenze gebracht. | |
| In einem Interview von 1996 mit der Shoa-Foundation erinnerte sich Gerhard | |
| Klein noch gut an diesen Tag und was passierte, als sie den deutschen | |
| Grenzort Neu Bentschen passiert hatten und im Niemandsland zwischen | |
| Deutschland und Polen gelandet waren. „Dort haben sie uns gesagt: Und ihr | |
| marschiert jetzt weiter, und wer sich umdreht oder zurückkommt, da wird von | |
| der Waffe Gebrauch gemacht.“ | |
| 17.000 polnische Juden werden in diesen Tagen aus Deutschland ausgewiesen, | |
| alleine 1.500 aus Berlin. Das Schicksal der Familie Klein und weiterer fünf | |
| Berliner Familien zeigt derzeit die Ausstellung „Ausgewiesen. Die | |
| Geschichte der Polenaktion“ im Centrum Judaicum in der Oranienburger | |
| Straße. | |
| „Die Polenaktion von 1938 ist ein Stück unbekannte Geschichte“, weiß | |
| Gertrud Pickhan, Geschichtsprofessorin am Osteuropa-Institut der FU Berlin | |
| und zusammen mit Christine Fischer-Defoy vom „Aktiven Museum Faschismus und | |
| Widerstand“ Macherin der Ausstellung. „Vor allem das Schicksal der damals | |
| nach Polen gebrachten Berliner Juden ist noch nie systematisch erforscht | |
| worden.“ Das änderte sich, als Pickhan 2015 ein erstes Seminar zum Thema | |
| anbot, seitdem waren es vier. „Es waren Studierende, die angefangen haben, | |
| der Geschichte der Familien nachzuforschen.“ | |
| Schon lange trägt Pickhan, die im Jüdischen Museum bereits die Ausstellung | |
| „Berlin Transit“ über die Immigration osteuropäischer Juden in den | |
| zwanziger Jahren realisiert hat, die Idee mit sich herum, in einer weiteren | |
| Ausstellung die Polenaktion zu thematisieren. Der achtzigste Jahrestag hat | |
| das Vorhaben nun möglich gemacht. | |
| Die von Alina Bothe kuratierte und längst überfällige Ausstellung | |
| informiert über das jüdische Leben in Berlin bis 1933, die Migration von | |
| Juden aus dem späteren Polen in die Stadt, die Nazigesetze nach der | |
| Machtübernahme, aber auch die „zweite Polenaktion“ 1939, bei der 15.000 | |
| polnische Juden Deutschland verlassen mussten. Viele der Betroffenen wurden | |
| in Polen nach Beginn des Kriegs Opfer der deutschen Vernichtung oder | |
| überlebten in der Sowjetunion in Lagern in Kasachstan oder Sibirien. | |
| ## Teil einer Kettenreaktion | |
| Dass die Polenaktion bis heute weitgehend unbekannt ist, liegt daran, dass | |
| sie Teil einer Kettenreaktion ist, an deren Ende die Reichspogromnacht vom | |
| November 1938 steht. Angefangen hatte diese fatale Verkettung von | |
| Ereignissen im März 1938 mit dem Einmarsch der Nazis in Österreich und dem | |
| „Anschluss ans Reich“, der von zahlreichen Pogromen begleitet wurde. | |
| Weil die polnische Regierung fürchtete, dass die österreichischen und nun | |
| auch deutschen Juden mit polnischem Pass über die Grenze nach Polen | |
| fliehen, erging der sogenannte Märzerlass. Der besagte, dass allen | |
| polnischen Staatsbürgern, die fünf Jahre oder länger im Ausland lebten, die | |
| polnische Staatsangehörigkeit entzogen wird, so sie nicht bis 30. Oktober | |
| 1938 einen entsprechenden Sichtvermerk im Pass hätten. De jure galt das | |
| Gesetz für alle Polen, de facto sollten damit die polnischen Juden, die in | |
| Deutschland lebten, ausgebürgert werden. | |
| Deutschland reagierte zunächst mit einer Novellierung der | |
| Ausländerpolizeiverordnung. Die besagte, dass ein Ausländer in Deutschland | |
| seine Aufenthaltsgenehmigung automatisch verliert, wenn ihm seine | |
| Staatsangehörigkeit entzogen wird. Auch Deutschland wollte also die | |
| polnischen Juden loswerden. | |
| Kurz vor Ablauf der Frist kam es zu ersten Massenverhaftungen. Unter den | |
| Opfern waren auch die Eltern von Herschel Grynszpan in Hannover. Als | |
| Grynszpan von deren Schicksal erfuhr, erschoss er in Paris den | |
| Botschaftsrat Ernst von Rath. Das wiederum nahmen die Nazis zum Vorwand für | |
| die Novemberpogrome. „Die haben bis heute die Erinnerung an die Polenaktion | |
| überlagert“, sagt Historikerin Pickhan. Dabei war es die erste | |
| Massenverhaftung von Juden in Deutschland. | |
| Im Niemandsland an der Grenze war für den ehemaligen Kinderschauspieler | |
| Gerhard Klein erst einmal Schluss. An der Grenze zu Polen, erinnert er | |
| sich, wurde der Transport zurückgewiesen: „Wir hatten Schwierigkeiten, | |
| überhaupt nach Polen reinzukommen, obwohl wir polnische Staatsbürger | |
| waren.“ Erst nach einer Weile ging es weiter. „Sie haben uns dann | |
| weitergehen lassen, bis in die Stadt Bentschen hinein, Zbąszyń hieß der | |
| Ort.“ | |
| ## Das Wunder von Zbąszyń | |
| Zbąszyń, zu Deutsch Bentschen, zählte 5.000 Einwohner und war nach der | |
| Wiederentstehung des polnischen Staates nach dem 1. Weltkrieg Grenzort | |
| geworden. „Zbąszyń lebte regelrecht von der Grenze“, sagt der Künstler | |
| Wojciech Olejniczak, der sich in Polen seit Langem mit der Polenaktion | |
| beschäftigt. „Es gab eine Reihe von Institutionen, die mit dem | |
| Warenumschlag zu tun hatten, wie der Grenzschutz, die Polizei oder die | |
| Zollbehörde. Die Grenze spielte eine wichtige Rolle im Leben der Stadt.“ | |
| Doch auf den Ansturm von fast 10.000 Menschen, die wie Gerhard Klein in der | |
| Nacht vom 28. auf den 29. Oktober 1938 ankamen, waren die Bewohnerinnen und | |
| Bewohner von Zbąszyń nicht vorbereitet. „Die Grenzposten waren vollkommen | |
| überrascht“, sagt Olejniczak. „Wer waren diese Menschen? Waren es | |
| vielleicht Schmuggler? Es war dunkle Nacht, alle waren überfordert. Was | |
| tun?“ | |
| Doch dann geschah etwas, was man heute das Wunder von Zbąszyń nennen | |
| könnte. In kürzester Zeit lief die Hilfe an. Aus Warschau reisten Vertreter | |
| jüdischer Hilfsorganisationen an und errichteten eine Stadt neben der | |
| Stadt. Die Menschen in Zbąszyń kochten Suppe und halfen mit Decken und | |
| Möbeln. Der Bürgermeister ließ die Preise von Betten und Strohsäcken | |
| einfrieren, um Spekulation zu vermeiden. Viele Bewohner nahmen auch | |
| Flüchtlinge bei sich auf. | |
| Auch Gerhard Klein kam bald bei einer Familie in Zbąszyń unter. Später wird | |
| der Historiker Jerzy Tomaszewski in seinem Buch „Auftakt zur Vernichtung“ | |
| zu dieser polnischen Variante der Willkommenskultur sagen: „Die Einwohner | |
| von Zbąszyń haben die Ehre der Polen gerettet.“ | |
| Denn nach dem Tod von Staatsgründer Józef Piłdudski war der Antisemitismus | |
| auch in Polen auf dem Vormarsch. Zehn Prozent der polnischen Bevölkerung | |
| waren Juden, in Warschau war es sogar ein Drittel. Mit der Verschlechterung | |
| der Wirtschaftssituation wuchs auch der Antisemitismus. Doch Zbąszyń lag im | |
| Grenzland zu Deutschland, wo es trotz aller nationalistischen Rhetorik auch | |
| noch eine Kultur der Toleranz gab, meint Wojciech Olejniczak. „Ein solches | |
| Verhalten wäre nicht möglich gewesen ohne eine lange Tradition des | |
| Zusammenlebens, mag die lokale Gesellschaft mitunter auch ihre Konflikte | |
| ausgetragen haben.“ | |
| Bereits in Zbąszyń haben Olejniczak und die Stiftung Tres eine Ausstellung | |
| am Bahnhof und an der ehemaligen Grenze im Wald initiiert. Ihr Motto: „Ein | |
| Koffer ist nie nur Symbol einer Reise.“ Nun hat er für die Ausstellung in | |
| Berlin einen Stuhl mitgebracht, der aus dem Atelier des Fotografen Sikorski | |
| stammt, in dem sich damals viele Bewohner von Zbąszyń, aber auch viele der | |
| Neuankömmlinge, ablichten ließen. So kann sich jeder, der die Ausstellung | |
| besucht, auf diesem Stuhl fotografieren lassen, über dem auf Polnisch und | |
| Deutsch steht: „Ich war in Zbąszyń.“ | |
| ## Von Tel Aviv nach Dahlem | |
| Gerhard Klein war es bald nach der Ankunft gelungen, ein Zimmer in Zbąszyń | |
| zu mieten, doch in Polen bleiben wollte er nicht. Schon in Berlin hatte er | |
| Kontakt zu zionistischen Organisationen aufgenommen, um nach Palästina | |
| fliehen zu können. Im März 1939 war es dann soweit. Er schiffte sich auf | |
| der „Colorado“ ein, die ihn über das jugoslawische Šušak nach Tel Aviv | |
| brachte. | |
| Kleins Eltern Heinrich und Lina hatten dieses Glück nicht. Seinem Vater war | |
| es zwar erlaubt worden, im April 1939 kurzzeitig nach Berlin | |
| zurückzukehren, um sein Geschäft aufzulösen und sein Eigentum (weit unter | |
| Wert) zu verkaufen. Nach seiner Rückkehr nach Zbąszyń verlor sich aber die | |
| Spur. Vermutlich sind er und Lina Klein im Getto Tschenstochau oder im | |
| Vernichtungslager Treblinka ermordet worden. Beide wurden nach dem Krieg | |
| für tot erklärt. | |
| Die Söhne Gerhard und Werner lebten in Palästina zunächst in einem Kibbuz, | |
| um schließlich in Tel Aviv 1944 das avantgardistische „Teatron HaKameri“ zu | |
| gründen. Gerhard Klein kehrte 1952 nach Berlin zurück, schaffte es aber | |
| nicht, seine Schauspielerkarriere wieder aufzunehmen. Stattdessen kaufte er | |
| das Kino „Capitol“ in Dahlem, das er bis 1986 leitete. Er starb 1999, sein | |
| Bruder Werner bereits 1970. Sowohl Gerhards als auch Werners Töchter leben | |
| in Berlin. | |
| Anders als in Hamburg, wo es eine Gedenktafel gibt, ist die Polenaktion in | |
| Berlin kein Gegenstand öffentlichen Erinnerns. Vielleicht aber setzt die | |
| Ausstellung im Centrum Judaicum nun die nötige Debatte in Gang. | |
| 18 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
| ## TAGS | |
| Nazis | |
| Judenverfolgung | |
| Ausstellung | |
| Hannover | |
| Jüdisches Leben | |
| Faschismus | |
| NS-Raubkunst | |
| Kippa | |
| PiS | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Die verlorene Oper“ in Hannover: Scheitern am Scheitern | |
| Dramatiker Albert Ostermaier und Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson machen | |
| sich auf die Suche nach einem nie realisierten | |
| Brecht/Weill-Gesamtkunstwerk. | |
| Ausstellung im Roten Rathaus: Jüdisches Leben an der Oder | |
| Die Ausstellung „Im Fluss der Zeit“ erinnert an das Schicksal deutscher und | |
| polnischer Juden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie vor 1990 in Vergessenheit | |
| geraten waren. | |
| Madeleine Albright legt Buch vor: Tanz den Mussolini | |
| Der Faschismus ist nicht vergangen, sagt die ehemalige US-Außenministerin | |
| Madeleine Albright. „Faschismus. Eine Warnung“ heißt ihr neues Buch. | |
| Gestohlene Judaica: Die Spur des Sabbatleuchters | |
| Wie erforscht man die Herkunft jüdischer Kulturgüter? Eine Fachtagung in | |
| Berlin unternahm den Versuch, Museumsmitarbeiter zu schulen. | |
| Soli-Aktion gegen Antisemitismus: 2.500 BerlinerInnen tragen Kippa | |
| Zur Soli-Demo vor der Jüdischen Gemeinde in Berlin kommen rund 2.500 | |
| Menschen. Vertreter der Gemeinde mahnen, Judenhass nicht kleinzureden. | |
| Polnisches Institut Berlin: Warschau will es rechter haben | |
| Nach Katarzyna Wielga-Skolimowska wird auch deren Nachfolgerin Hanna | |
| Radziejowska gefeuert. Ihr folgt eine Vertraute des polnischen | |
| Botschafters. |