# taz.de -- Abschiebung aus Bayern nach Afghanistan: Alle raus hier | |
> In der Flüchtlingspolitik hat sich die Große Koalition eine härtere | |
> Gangart vorgenommen. Als Vorbild für schnellere Abschiebungen soll Bayern | |
> dienen. | |
Bild: Protest gegen Abschiebungen in Bayern | |
MÜNCHEN taz | Eigentlich sollte Sherzad Sibghatullah nicht hier sitzen. | |
Nicht in diesem ehemaligen Lebensmittelladen in der Münchner Isarvorstadt, | |
in den sich der bayerische Flüchtlingsrat eingemietet hat. Sondern irgendwo | |
in seiner Heimat Afghanistan. Schon im Dezember 2016, als mit den | |
Abschiebungen nach Afghanistan begonnen wurde, hatte man Sibghatullah einen | |
Platz im ersten Flieger reserviert. Doch das Flugzeug hob ohne ihn ab. | |
Sibghatullah war untergetaucht. | |
„Alles fit?“, begrüßt ihn Stephan Dünnwald vom Flüchtlingsrat. 30 Jahre… | |
ist Sibghatullah, mehr als fünf von ihnen hat er in Bayern verbracht. Im | |
Oktober 2012 kam er im Laderaum eines Lkws über die Grenze – nach einer | |
zweieinhalb Jahre dauernden Flucht. In seiner Heimatstadt Dschalalabad sei | |
er von den Taliban bedroht worden, erzählt Sibghatullah. Weil er für eine | |
amerikanische Organisation gearbeitet habe. Schließlich habe er sich zur | |
Flucht entschlossen. Zu seinen Eltern und dem kleinen Bruder hielt er | |
telefonisch Kontakt – bis vor acht Monaten. Da hörte er plötzlich nichts | |
mehr von ihnen. „Ich weiß nicht, was passiert ist“, sagt er. | |
Die meiste Zeit verbrachte Sibghatullah in den vergangenen Jahren in der | |
niederbayerischen Provinz, zunächst in Dingolfing, jetzt in einer | |
Gemeinschaftsunterkunft in der kleinen Gemeinde Wallersdorf. 40 bis 50 | |
Geflüchtete, vier pro Raum. Manchmal geht Sibghatullah spazieren. Oft hört | |
er dann das Wort „Kanake“. Sein Deutsch ist noch immer holprig, aber das | |
versteht er. | |
2016 kam der negative Bescheid. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge | |
(Bamf) glaubte seine Geschichte nicht. Kurz vor der Abschiebung verschwand | |
Sibghatullah für ein Jahr von der Bildfläche. Erst nach Ablauf dieser Frist | |
meldete er sich im Januar wieder und beantragte erneut Asyl. „Wenn ich | |
nicht in Afghanistan wirklich ein Problem hätte, wäre ich doch nicht hier | |
geblieben. Sechs Jahre ein solches Leben – das führt man doch nicht | |
freiwillig.“ | |
## 500 Menschen bei Anschlägen getötet | |
Momentan wartet Sibghatullah auf die neue Entscheidung. Wenn sie wieder | |
negativ ausfällt, werden sie ihm erneut einen Platz reservieren in einem | |
dieser Flugzeuge, die der Flüchtlingsrat nur noch spöttisch als „Air | |
Bavaria“ bezeichnet, da sich in ihnen vornehmlich Geflüchtete aus Bayern | |
befinden. 2017 waren es 56 von bundesweit 121. Am heutigen Dienstag soll | |
der nächste Flieger von Düsseldorf aus starten. | |
Die Abschiebungen nach Afghanistan sind eine der Besonderheiten der | |
bayerischen Flüchtlingspolitik. „Mit jeder konsequenten Abschiebung setzt | |
der Rechtsstaat ein Zeichen“, sagt Innenminister Joachim Herrmann (CSU). | |
„Gefährder, Straftäter und hartnäckige Identitätsverweigerer“ stellten … | |
Sicherheitsproblem dar, vor dem die Bürger geschützt werden müssten. | |
Doch wer sind diese Menschen, vor denen der Freistaat schützen will? Es | |
geht immerhin um Abschiebungen in ein Land, das die Taliban laut | |
internationalen Militärs wieder zu 13 Prozent kontrollieren oder | |
beeinflussen, weitere 30 Prozent sind umkämpft. Erst am Sonntag gab es in | |
Kabul erneut einen schweren Anschlag mit mindestens 57 Toten und über 100 | |
Verletzten. 2017 wurden allein in der afghanischen Hauptstadt mehr als 500 | |
Menschen bei Anschlägen getötet. | |
Detaillierte Informationen zu den Abgeschobenen gibt das Innenministerium | |
nicht heraus. Aber immer wieder werden Einzelfälle bekannt. Demnach genügt | |
es, zweimal beim Schwarzfahren erwischt worden zu sein oder eine Urkunde | |
nicht rechtzeitig vorgelegt zu haben, um nach Kabul abgeschoben zu werden. | |
Auch Freunde von Sibghatullah sind bereits abgeschoben worden. Einer sei | |
danach entführt worden, erzählt er, mittlerweile aber wieder frei; ein | |
anderer letztes Jahr von einer Autobombe in Kabul getötet worden. Doch in | |
den Augen von Bundesinnenminister Horst Seehofer sind die Hürden für die | |
Abschiebungen noch immer zu hoch. „Da ist der deutsche Rechtsstaat zu | |
lasch“, schimpfte er im Januar in der Bild. | |
## „Es ist sehr viel martialisches Gebrüll“ | |
Von „völliger Symbolpolitik“ spricht dagegen Stephan Dünnwald vom | |
Flüchtlingsrat. Nur die bayerische Regierung halte aus wahltaktischen | |
Gründen rigoros an Abschiebungen nach Afghanistan fest. „Man will diese Tür | |
unbedingt offen halten, um zu zeigen: Das Herkunftsland Afghanistan | |
bedeutet nicht unbedingt eine Bleibeperspektive für den Flüchtling.“ | |
Für Christine Kamm, asylpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, passt | |
das ins Gesamtbild: „Die versuchen abzuschieben, wen auch immer sie | |
abschieben können.“ Längst schon würde Abschiebung in Bayern als | |
eigenständiges Ziel beschrieben, vom angeblichen Primat der freiwilligen | |
Rückkehr spüre man nicht mehr viel. Sogar Kranke würden abgeschoben, | |
moniert Kamm und erzählt von einem Fall aus Deggendorf. | |
Von dort habe man einen 20-Jährigen aus Sierra Leone im Rahmen des | |
Dublin-Verfahrens nach Mailand abgeschoben. Der Mann habe Hepatitis B und C | |
gehabt, und man habe gewusst, dass er in Italien keine medizinische | |
Versorgung bekommen würde. Nachdem er es geschafft hatte, wieder nach | |
Deutschland zurückzukommen, wollte man ihn vom Krankenbett aus erneut | |
abschieben. Das konnten die Ärzte zwar verhindern, doch zwei Tage später | |
starb der Mann. | |
„Es ist sehr viel martialisches Gebrüll“, sagt Kamm. „Die Politik übt | |
starken Druck auf die Geflüchteten aus. Viele tauchen dann unter – nicht | |
unbedingt ein Gewinn an Sicherheit.“ Doch es bleibt nicht bei Gebrüll und | |
Symbolik. Worin sich die bayerische Flüchtlingspolitik bisher deutlich von | |
der anderer Bundesländer unterscheidet, ist vor allem das Ziel, die | |
Integration von Geflüchteten zu verhindern. Denn: „Das Schlimmste ist ein | |
Fußball spielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist, | |
weil den wirst du nie wieder abschieben.“ Das berühmte Zitat des damaligen | |
CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer dient in Bayern gewissermaßen als | |
Leitsatz. Sprich: Wer vom Bamf keine Bleibeperspektive bescheinigt bekommt, | |
soll sich tunlichst nicht integrieren dürfen, um damit keine | |
Abschiebehindernisse zu schaffen. | |
Dieses Ziel verfolgt die bayerische Regierung mit zwei Maßnahmen: | |
Arbeitsverboten und Lagerunterbringung. Dort, wo die Ausländerbehörden | |
Ermessensspielraum haben, entscheiden sie in Bayern in der Regel gegen eine | |
Arbeitserlaubnis. Vom „verordneten Rumsitzen“ spricht Dünnwald. | |
## Neues Abschiebegefängnis | |
Zum besseren Rumsitzen wurden denn auch seit 2015 die Transitzentren und | |
Erstaufnahmeeinrichtungen in Manching, Deggendorf, Regensburg und Bamberg | |
eingerichtet, die nun auch den von der Großen Koalition geplanten | |
Anker-Lagern als Vorbild dienen sollen. Anfangs sollten hier nur | |
Geflüchtete aus den sogenannten sicheren Herkunftsländern untergebracht und | |
im Schnellverfahren abgeschoben werden, inzwischen sind es auch | |
Asylbewerber aus den Ländern, bei denen die Anerkennungsquote in der ersten | |
Instanz unter 50 Prozent liegt. | |
Eine bayerische Besonderheit in der Abschiebepraxis sieht | |
Grünen-Politikerin Kamm auch darin, dass der Freistaat sehr stark auf das | |
Instrumentarium der Abschiebehaft setzt. In Eichstätt gibt es ein eigenes | |
Abschiebegefängnis, jüngst wurde zudem die JVA Erding in eines umgewidmet, | |
und am Mittwoch kündigte der neue Ministerpräsident Markus Söder in seiner | |
Regierungserklärung noch eine dritte Einrichtung in Hof an. | |
925 Menschen kamen 2017 in Bayern in Abschiebehaft, antwortete das | |
Innenministerium auf eine Anfrage Kamms. Obwohl die Haft lediglich als sehr | |
kurzfristige Maßnahme gedacht ist, um zu verhindern, dass | |
ausreisepflichtige Geflüchtete untertauchen, waren es im Schnitt 30 Tage, | |
die die Geflüchteten in der Anstalt auf ihre Abschiebung warteten, in | |
etlichen Fällen auch einige Monate. Kostenpunkt: 5,7 Millionen Euro – | |
Personalkosten nicht eingerechnet. | |
Auch Sherzad Sibghatullah droht beim nächsten Mal Abschiebehaft. Aber er | |
hat noch Hoffnung. Sagt er. Und: „Ich werde kämpfen – egal, wie lang das | |
dauert.“ | |
24 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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