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# taz.de -- Sondierungen gescheitert: Jamaika? Neinmaika!
> Die FDP lässt die Sondierungen in der Nacht auf Montag platzen. Union und
> Grüne zeigen eine bislang ungewohnte Nähe.
Bild: Achja, die taz immer mit ihren blöden Kalauern…
Berlin taz | Christian Lindner hastet am Sonntag um Mitternacht mit
schnellen Schritten zu der schwarzen Limousine, die in der Auffahrt wartet.
Fotografen hetzen hinter ihm her, Reporter rufen ihm Fragen zu.
Aber der FDP-Chef, sonst nie um eine geschliffene Bemerkung verlegen, will
jetzt nicht antworten. Er weiß, dass die Fragen ein schlechtes Licht auf
ihn werfen. Wo ist die staatspolitische Verantwortung der FDP geblieben?
Was ist der wahre Grund für den Ausstieg? Hat er Angst vor dem Regieren?
Kurz zuvor hat er sich in der kalten Nachtluft im Scheinwerferlicht vor der
Landesvertretung Baden-Württembergs in Berlin aufgebaut. Neben ihm sein
Vize Wolfgang Kubicki, Generalsekretärin Nicola Beer und die anderen
FDP-Verhandler, alle mit steinernen Mienen. Lindner schaut immer wieder auf
den Zettel, auf dem er sich Notizen gemacht hat. Seine Hände zittern etwas,
vielleicht nur wegen der Kälte.
„Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, sagt Lindner.
Es sei nicht gelungen, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Das wäre aber die
Voraussetzung für eine stabile Regierung gewesen. „Nach Wochen liegt aber
heute unverändert ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen
und Zielkonflikten vor.“ Den Geist des Sondierungspapiers könne und wolle
die FDP nicht verantworten. „Viele der diskutierten Maßnahmen halten wir
sogar für schädlich.“
## Merkel nüchtern
Damit platzt jäh der Traum eines Jamaika-Bündnisses. Lindners Entscheidung,
überraschend aus den Sondierungen auszusteigen, löst ein politisches Beben
aus. Und es lässt sich im Moment schwer vorhersagen, welche Trümmer es
hinterlässt.
Kanzlerin Angela Merkel steht vor einer der schwersten Krisen ihrer
Amtszeit. Die SPD muss sich überlegen, ob sie von ihrem kategorischen Nein
zu einer Großen Koalition abrückt. Und die Deutschen müssen vielleicht neu
wählen, nach einem langwierigen Prozess, in dem der Bundespräsident eine
wichtige Rolle spielt.
Es dauert eine Stunde, bis sich die Verhandler von Union und Grünen so weit
sortiert haben, um Statements abzugeben. Merkel reagiert, wie man es von
ihr kennt: geschäftsmäßig, nüchtern und ruhig. Die Union habe geglaubt,
dass man gemeinsam auf einem Weg gewesen sei, bei dem man eine Einigung
hätte erreichen können, sagt sie. CDU und CSU hätten nichts unversucht
gelassen, um eine Lösung zu finden. Auch beim Thema Migration hätte man
eine Lösung mit den Grünen finden können. An der Union und den Grünen, so
Merkels Botschaft, lag es jedenfalls nicht.
## Fast herzliche Vertrautheit
Auch CSU-Chef Horst Seehofer lässt niemanden im Unklaren, wen er für den
Schuldigen des Schlamassels hält. Dass die FDP ausgestiegen sei, bedeute
eine Belastung für die Bundesrepublik Deutschland, sagt er. Er sei über
weite Strecken des Tages davon ausgegangen, dass es am Ende
Sondierungsergebnisse geben werde, die man den Parteigremien vorlegen
könne. Eine Einigung sei „zum Greifen nah“ gewesen.
Dann kommt ein interessantes Lob aus dem Munde des Mannes, der die
Obergrenze wie eine Monstranz vor sich hergetragen hatte. Auch bei der
schwierigen Frage der Zuwanderung „wäre eine Einigung möglich gewesen.“
Auch diese Sätze zielen auf die Grünen. Jene hatten sich sogar in der
heiklen Flüchtlingspolitik maximal kompromissbereit gezeigt. Sie boten etwa
an, einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr zu akzeptieren. Am Ende
dankt Seehofer dann noch ausdrücklich Merkel.
Die Unionsleute fangen an zu klatschen, aber nicht nur die. Auch Jürgen
Trittin applaudiert, ebenso Claudia Roth, andere Grüne auch. In diesen
Minuten lässt sich gut beobachten, dass da etwas gewachsen ist zwischen den
Schwarzen und Grünen in den vergangenen Wochen. Es spielen sich Szenen fast
herzlicher Vertrautheit ab.
Merkel lächelt der jungen Grünen Agnieszka Brugger zu, sagt zu
Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann: „Das ist auch so eine
Kämpferin.“ Dafür wird sie von Claudia Roth umarmt. Grünen-Fraktionschef
Anton Hofreiter scherzt mit CDU-Finanzminister Peter Altmaier und
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Man mag sich, man schätzt sich.
## Näher als gedacht
Vielleicht, denkt man da, könnten die Zeiten der FDP als natürlicher
Partnerin der Union bald vorbei sein. Ob Lindner das bedacht hat? Hinter
vorgehaltener Hand formulierten manche CDU-Politiker, was sie von Lindners
Hasadeursstück halten. Die FDP sei immer eine staatstragende Partei
gewesen, sagte einer. Er sei gespannt, wie das FDP-Klientel, etwa die
Unternehmerschaft, auf den Ausstieg reagiere.
Die Spitzenleute der Grünen hielten der FDP offen vor, sich vor der
Verantwortung gedrückt zu haben. „Ein Bündnis hätte zustande kommen
können“, sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Bei Klimaschutz,
Landwirtschaft und Migration sei man am Ende näher beieinander gewesen, als
man es gedacht hätte.
Parteichef Cem Özdemir sagte, die Grünen hätten bis zur letzten Sekunde die
Bereitschaft gehabt, eine Koalition zu bilden. „Ein Partner hatte diese
Bereitschaft nicht.“ Die FDP habe die einzig mögliche Konstellation zur
Regierungsbildung „leider abgelehnt und zunichte gemacht“. Die Grünen seien
bei vielen Themen an ihre Schmerzgrenzen und darüber hinaus gegangen.
## Versuchte Provokation
Führende Grünen- und CDU-Politiker erzählen unisono, dass der FDP gute
inhaltliche Angebote gemacht worden seien. So habe man ihr etwa den
schrittweisen Abbau des Soli bis 2021 garantiert, so dass im letzten Jahr
der Legislaturperiode drei Viertel aller Menschen keinen
Solidaritätszuschlag mehr bezahlt hätten. Auch bei der
Vorratsdatenspeicherung habe es noch Zugeständnisse gegeben. „Die FDP hätte
ein dickes Paket bekommen“, sagte ein wichtiger Grüner. „Die haben geradezu
Anlässe gesucht, um es platzen zu lassen.“
In der Tat hatte die Verhandlungsstrategie der FDP Fragen aufgeworfen. Bei
manchen Themen, etwa der Flüchtlingspolitik, suchten die Freidemokraten
laut Verhandlern den Schulterschluss mit der CSU oder überholten sie gar
rechts. Das würde zu der These passen, dass die FDP die Grünen so lange
provozieren wollte, bis jene die Gespräche von sich aus abbrächen. Dann
wäre die FDP nicht schuld gewesen.
Dass Lindner sich lieber in der Opposition gegen eine Große Koalition
profilieren würde, ist kein abwegiger Gedanke. So kann er die Strategie der
nationalliberalen Attacke weiterfahren – und die Partei in Ruhe
stabilisieren.
20 Nov 2017
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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