| # taz.de -- Grüne zu Obergrenze in der Sondierung: 200.000 als Rahmen | |
| > Die Grünen legen ein Kompromissangebot in der Flüchtlingspolitik vor. | |
| > Unangetastet bleiben soll die Möglichkeit des Familiennachzugs. | |
| Bild: Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir am Samstagabend | |
| Berlin taz | Die Grünen haben in den Jamaika-Sondierungen am Samstagabend | |
| überraschend ein weitreichendes Kompromissangebot in der Flüchtlingspolitik | |
| vorgelegt. Sie wollen einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr | |
| akzeptieren und so dem Begrenzungswunsch der Union entgegenkommen. | |
| Gleichzeitig stellen sie Bedingungen: Das Grundrecht auf Asyl müsse gelten. | |
| Und subsidiär geschützte Flüchtlinge sollen ab März 2018 ihre Familien | |
| wieder aus Krisengebieten nach Deutschland holen dürfen. | |
| Die Ökopartei kommt CDU, CSU und FDP damit bei dem heiklen Thema entgegen, | |
| an dem die Verhandlungen zuletzt zu scheitern drohten. Das Angebot sei der | |
| Versuch, Bewegung in die festgefahrene Situation zu bringen, hieß es in | |
| Grünen-Kreisen. Ein solcher Kompromiss sei für die Grünen „schwer | |
| erträglich“. Man müsse aber zu Kenntnis nehmen, wie wichtig die Zahl | |
| 200.000 für die CSU sei. Die Union will die Aufnahme von Flüchtlingen aus | |
| humanitären Gründen auf einen Richtwert von 200.000 pro Jahr begrenzen. | |
| Das Angebot der Grünen, dessen Formulierungen der taz vorliegen, nimmt | |
| darauf Bezug. „Seit der Wiedervereinigung hat die Zahl der Flüchtlinge | |
| insgesamt nur in 5 Jahren 200.000 überschritten“, heißt es in dem Text. | |
| „Deswegen wollen wir in diesem Rahmen auch in Zukunft handeln, gerade mit | |
| Blick auf die Integrationsmöglichkeit in den Kommunen.“ Das kann man als | |
| Bekenntnis zu einer Steuerung lesen, die es dem Staat ermöglicht, besser | |
| mit Geflüchteten umzugehen. | |
| Das Wort „Rahmen“ ist dabei bewusst gewählt, es klingt flexibel. Mit den | |
| Grünen gebe es keine Obergrenze, betonte Parteichefin Simone Peter auf | |
| Twitter. In ihrem Angebot an CDU, CSU und FDP schreiben die Verhandler der | |
| Ökopartei weiter: „Das Grundrecht auf Asyl gilt. Es kennt keine Obergrenze. | |
| Wir werden es weder infrage stellen noch aushöhlen.“ Die Grünen stünden zur | |
| individuellen Bearbeitung jedes einzelnen Asylantrags und den | |
| entsprechenden Vorschriften in Europarecht, Völkerrecht und Grundgesetz. | |
| ## Asylrecht schon lange entkernt | |
| Dass Beharren der Grünen auf dem Grundrecht auf Asyl ist keine harte | |
| Bedingung. Selbst die CSU hatte es nicht ernsthaft in Frage gestellt. | |
| Außerdem hätte eine Jamaika-Regierung sowieso nicht die nötige | |
| Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, um die Verfassung zu ändern. Das | |
| deutsche Grundrecht auf Asyl spielt zudem faktisch kaum noch eine Rolle. Es | |
| wurde durch die Asylrechtsverschärfung 1993 von Union, SPD und FDP | |
| entkernt. Seitdem können sich Flüchtlinge, die aus einem EU-Land oder einem | |
| sicheren Drittstaat nach Deutschland einreisen, nicht mehr darauf berufen. | |
| Sie können nach der Dublin-Regelung in das Land abgeschoben werden, in dem | |
| sie zum ersten Mal den Boden der EU betreten haben. | |
| Die entscheidende Stoßrichtung des Grünen-Kompromisses ist deshalb der | |
| Familiennachzug. Die Große Koalition hatte entschieden, dass subsidiär | |
| Geschützte bis März 2018 Ehepartner oder Kinder nicht nach Deutschland | |
| nachholen dürfen. Das sind Menschen, die vor Krieg geflohen sind oder denen | |
| in ihrer Heimat Folter oder Todesstrafe drohen. Im Moment werden vor allem | |
| Syrer in den subsidiären Schutzstatus eingestuft. Die Union möchte die | |
| Aussetzung des Familiennachzugs für sie verlängern. Die Grünen sind strikt | |
| dagegen und argumentieren, Flüchtlinge könnten sich nur dann integrieren, | |
| wenn sie ihre Familie in Sicherheit wüssten. | |
| Der Kompromiss bedeutete also im Kern: Die Grünen retten den | |
| Familiennachzug, gehen aber einen Schritt auf die CSU zu. Wichtig ist: Aus | |
| den Formulierungen der Grünen geht nicht hervor, ob der Familiennachzug in | |
| einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr eingerechnet würde. Diese | |
| Frage ist aber entscheidend, weil er die größte Gruppe ausmachte. Wie viele | |
| Menschen durch den Familiennachzug neu ins Land kämen, ist schwer zu sagen. | |
| Das Bundesinnenministerium antwortete zuletzt ausweichend auf eine | |
| Linken-Anfrage. Das Auswärtige Amt hatte zuvor bekanntgegeben, dass gerade | |
| rund 70.000 Syrer und Iraker versuchten, zu Verwandten in Deutschland zu | |
| ziehen. Es gibt aber auch deutlich höhere Schätzungen. | |
| Im Jahr 2015 kam hunderttausende Flüchtlinge über die Balkanroute nach | |
| Deutschland. Merkels Regierung ignorierte damals aus humanitären Gründen | |
| die Dublin-Regelung und ließ sie ins Land. Ein solches Szenario wäre wohl | |
| durch den Grünen-Kompromiss nicht mehr denkbar. Denn der „Rahmen“, auf den | |
| sich die Jamaika-Regierung geeinigt hätte, wäre so massiv überschritten, | |
| dass sie handeln müsste. | |
| 19 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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