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# taz.de -- Die Jamaika-Sondierungen in drei Akten: Drama, Baby, Drama
> Die Sondierungsverhandlungen laufen nach den Regeln der klassischen
> Dramaturgie ab. Eine Verzögerung vor der Auflösung gehört dazu.
Bild: Der Spielort: das Haus der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft
Es gibt in der Dramaturgie diesen kostbaren Moment: Der Held ist nach
langer Irrfahrt fast am Ziel, nur noch wenige Meter trennen ihn von seiner
großen Liebe. Da, da drüben auf dem Bahnsteig steht sie schon und lächelt
ihm erwartungsvoll entgegen. Die Kamera hält das fest:
Schnitt/Gegenschnitt, Er/Sie, Großaufnahme/Totale.
Und zack! Geht die Schranke runter. So viel ist klar: Die beiden werden
sich nicht kriegen. Mist!
Aber überraschend geht es doch noch weiter: Die Schranke hebt sich. Blende,
Zoom, Licht – Kuss und Umarmung, dazu Geigenmusik. Puh, das ist gerade noch
mal gut gegangen.
Den Moment mit der Schranke nennt man in der Literatur, im Film und auf der
Bühne das retardierende Moment. Es ist jene Stelle, an der nach dem
eigentlichen Höhepunkt doch noch einmal alles zum Stillstand kommt, der
absehbare Ausgang der Geschichte plötzlich infrage steht. Das retardierende
Moment soll die Spannung noch ein letztes Mal in die Höhe treiben. Kriegen
die beiden sich? Tja, wer weiß.
## Und jetzt alle so: Retardieren
Ihr retardierendes Moment hatten die Jamaika-Unterhändler am Freitagmorgen.
Superoptimistisch waren die ChefInnen von Union, FDP und Grünen zuvor in
die „Nacht der Entscheidung“ gegangen. Angela Merkel als Hauptfigur war
nahezu magisches Verhandlungsgeschick angedichtet worden: Je später, desto
tougher – rätselhaft, wie sie das macht, hieß es. Es waren dies die
Ausflüsse der binnen einer Dekade erworbenen Merkel-Gläubigkeit: Die Chefin
wird’s schon richten.
Aber sie richtete es nicht. Am Freitagmorgen um halb fünf stolperten
rotäugige Gestalten aus der Parlamentarischen Gesellschaft. Mühsam rang man
sich ein paar dürre Floskeln ab: Wir wollten ja, aber die anderen sind so
mies. Das Ende schien nah.
Es war dies der dramaturgische Höhepunkt, das retardierende Moment zum
Beginn des dritten Aktes der „Jamaika“-Inszenierung. Die beiden
vorhergehenden Akte – Exposition und Konfrontation – waren zuvor ganz brav
nach Lehrbuch abgelaufen.
Im ersten Akt war die Notwendigkeit der schwarz-gelb-grünen Vernunftehe
beleuchtet, die handelnden Charaktere waren vorgestellt, ihre inneren und
äußeren Motive dargestellt worden. Merkel und Seehofer müssen
Regierungspartner finden. Die Grünen und die Gelben wollen endlich zeigen,
was sie politisch zu bewegen imstande sind. Die zweite Besetzung von der
SPD ist verhindert, sie ist auf einem Selbstfindungstrip. Und die dritte
Besetzung tourt mit ihrem Agitprop-Theater durch die Provinz. Bleiben also
nur CDU/CSU, FDP und Grüne.
## Alles ist bereit für die Auflösung
Im zweiten, dem Konfrontationsakt, werden die Hauptfiguren dann aktiv. Sie
nähern sich an, versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden, stoßen aber sehr
bald auf jenes Problem, das eigentlich schon im ersten Akt gut sichtbar
war: die Migrationsfrage. Es geht hin und her, hoch und runter und schon
bald weder vor noch zurück. Bis die Chefin die HauptdarstellerInnen
einbestellt, um die Sache zu regeln.
Alles ist bereit für die Auflösung, für einen kurzen dritten Akt, an dessen
Ende mäßiger Applaus und miese Kritiken stehen würden. Aber egal, man wäre
durch mit der Inszenierung und könnte endlich nach Hause gehen.
Aber das geneigte Publikum – mittlerweile aus immer weniger WählerInnen und
immer mehr BerichterstatterInnen bestehend – droht zum Beginn des dritten
Aktes bereits einzunicken. Deshalb, und weil die DarstellerInnen auch ihre
übermäßige Kraftanstrengung, ihr Geschick und ihre Intelligenz noch einmal
voll zur Geltung bringen wollen, gibt es ein Patt. Schon erwägt die Kritik,
„Jamaika“ aus dem Spielplan zu nehmen und die Intendanz neu auszuschreiben.
Also müssen alle noch mal so tun, als sei dies hier Improvisationstheater.
No limits, open end. Man trifft sich jetzt auf der Probebühne, am
Bühneneingang dürfen die Darsteller noch einmal zur Retardierung beitragen.
„Es ist nicht ganz trivial, die Enden zusammenzubringen“, spricht Angela
Merkel. „Es lohnt sich, dass wir in die Verlängerung gehen“, sagt Horst
Seehofer. Cem Özdemir findet, alle sollten sich noch etwas Zeit nehmen. Und
Christian Lindner erklärt Jamaika zu einem „historischen Projekt“.
Das retardierende Moment mag sich jetzt etwas ziehen. Doch am Ende gibt es
die Auflösung. Ob als Drama oder Komödie, wird sich zeigen.
18 Nov 2017
## AUTOREN
Anja Maier
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