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# taz.de -- Grüne in der Jamaika-Sondierung: Verhandeln bis es schmerzt
> Annalena Baerbock will nichts weniger als das Klima retten. Die Grüne ist
> Teil der Sondierung – und hat eine bewegte Woche hinter sich.
Bild: Annalena Baerbock verhandelt mit über die künftige Umwelt und Europapol…
Annalena Baerbock schickt um 6.51 Uhr am Freitagmorgen eine SMS. „Stand
4.30 Uhr vertagt. Ich muss jetzt erst mal ein bisschen schlafen.“ Ein paar
Stunden später geht die Bundestagabgeordnete mit geradem Rücken und
schnellen Schritten vom Intercontinental in Berlin-Charlottenburg zum
Taxistand. Wie geht es weiter mit dem Jamaika-Bündnis nach dieser irren
Woche? „Keine Ahnung.“ Baerbock atmet tief aus. „Alles ist offen.“
Jetzt muss sie aber los. Das vierzehnköpfige Sondierungsteam der Grünen
trifft sich. Ergebnisse der Nacht besprechen. Danach muss Baerbock zur
Kanzlerin. Weiter verhandeln, weiter bangen, weiter hoffen. Das Klima und
die Welt retten. Solche Sachen.
Baerbock, 36, wache Augen, Lederjacke, ist im Moment eine gefragte Frau.
Die Abgeordnete mit Schwerpunkt Klimaschutz und Europa hat für die Grünen
in den vergangenen vier Wochen sondiert, ob ein Jamaika-Bündnis möglich
wäre. Sie hat mit Angela Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und FDP-Chef
Christian Lindner über die Zukunft Europas und den Kohleausstieg gerungen.
Sie hat die grünen Spitzenleute Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt mit
Fakten munitioniert. Sie hat die Machosprüche von FDP-Vize Wolfgang Kubicki
ertragen, ungezählte Telefonate geführt und ihre beiden Töchter, zwei und
sechs Jahre alt, recht selten gesehen.
Was denkt eine junge, ökobewegte Politikerin, von der viele sagen, sie
werde noch was, über Jamaika? Wie ist es, plötzlich der Kanzlerin
gegenüberzusitzen? Und wie sehr schmerzt es, Kompromisse einzugehen?
Noch steht Jamaika nicht. Wenn Sie diesen Text in der Zeitung lesen, kann
schon wieder alles anders sein. Selbst wenn sich die Sondierer einigen,
müsste ein Grünen-Parteitag noch sein Okay für Koalitionsverhandlungen
geben. Dass das Bündnis zustande kommen würde, konnte man auch in der
vergangenen Woche immer wieder bezweifeln.
Montag
+++ Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter wirft CSU-Landesgruppenchef
Alexander Dobrindt „zerstörerische Querschüsse“ vor. Dobrindt hatte zuvor
ein Entgegenkommen beim Familiennachzug für Flüchtlinge ausgeschlossen und
das Konzept der Grünen zum Kohleausstieg als „abwegig“ bezeichnet. Aber es
gibt auch Annäherungen. Die Grünen wollen 20 Kohlekraftwerke abschalten,
was einer Leistung von 8 bis 10 Gigawatt entspricht. Union und FDP bieten
jetzt 3 bis 5 Gigawatt an. +++
Ein Café im Erdgeschoss des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin-Mitte.
Baerbock, das Handy am Ohr, muss einen Parteifreund über den Stand der
Europa-Verhandlungen briefen. Schwierig. Sonntag saß sie in kleiner Runde
mit Merkel zusammen. Ein Punkt, bei dem man sich schon geeinigt hatte,
wurde wieder aufgemacht und in die Schreibgruppe zurücküberwiesen. Die FDP
stellte sich quer. Eigentlich wollte Baerbock zu einem Kindergeburtstag, zu
dem ihre Sechsjährige eingeladen war. „Du, die Bundeskanzlerin will mit mir
reden“, erklärte sie ihrer Tochter am Telefon. „Da muss ich hin.“
Frau Baerbock, warum machen Sie Politik? Die Abgeordnete bestellt sich um
Viertel nach elf Uhr Käsespätzle, später ist keine Zeit mehr zum Essen.
Dann erzählt sie von ihrer Kindheit in einem niedersächsischen Dorf. Wie
sie die Eltern in den 80ern zu Menschenketten gegen die Pershing II und zu
Anti-Atomkraft-Demos mitnahmen. Wie sie in den 90ern ein Anschlag auf eine
Flüchtlingsunterkunft empörte, direkt neben der Bushaltestelle, von der aus
sie morgens zur Schule fuhr.
Baerbock studiert Politikwissenschaft, öffentliches Recht und Völkerrecht,
macht ihren Master an der London School of Economics. Sie legt eine rasante
Karriere in der Politik hin. Praktikum bei der grünen Europaabgeordneten
Elisabeth Schroedter, bei der sie als Büroleiterin einsteigt, erst im
Wahlkreis Potsdam, dann in Brüssel. „Annalena Baerbock ist klar und
geradeheraus, engagiert in der Sache und fachlich fundiert“, sagt
Schroedter über sie. „Sie hat widersprochen, wenn sie etwas nicht gut
fand.“ Im Jahr 2009 wird Baerbock Vorsitzende der Brandenburger Grünen,
zieht 2013 in den Bundestag ein.
Dienstag
+++ Das Forderungspaket der Grünen sei nicht annehmbar, sagt Dobrindt. Sie
müssten sich endlich von jahrzehntelang mitgeschleiften Forderungen
verabschieden. Das Umweltbundesamt schlägt einen Kompromiss beim Klima vor.
Kraftwerke mit einer Leistung von „mindestens 5 Gigawatt“ sollen
stillgelegt werden. Besonders alte Kraftwerke sollen nur noch mit halber
Leistung laufen. +++
Studium, Praktikum, Referentenjobs, Bundestag – Baerbocks gerader
Lebenslauf spielt ausschließlich im Gewächshaus der Politik, wie bei vielen
jungen Abgeordneten. „Bei den Grünen kannst du Sachen verändern, wenn du
von etwas überzeugt bist“, sagt Baerbock. „Das Verändernwollen und -könn…
ist wahrscheinlich mein wichtigster Antrieb.“
Das ist eine Binse, einerseits, es gibt keinen Politiker in Berlin, der das
nicht von sich behaupten würde. Andererseits sind Überzeugungen und ernst
gemeinter Veränderungswillen die Rohstoffe der Demokratie. Neben ihrem
unübersehbaren Ehrgeiz, sagt ein erfahrener Grünen-Stratege, verfüge
Baerbock über drei wichtige Qualitäten. Erstens: Kampfkraft. Sie ziehe auch
dann in eine Schlacht, wenn sie nicht alle Truppen hinter sich habe.
Zweitens: Hartnäckigkeit. Sie lasse sich nicht schnell frustrieren. Und,
drittens: Sachkunde. „Annalena gibt sich bei Themen nicht mit der
Oberfläche zufrieden“, sagt er. „Sie gräbt tiefer.“
Das Mäuschen, erzählt ein Verhandler, spiele Baerbock jedenfalls nicht.
Auch dann nicht, wenn sie Merkel gegenübersitze. Sie diskutiere dann
einfach. Wie immer.
Die Jamaika-Verhandlungen sind für jemanden wie Baerbock eine harte Probe.
Sie koordiniert das Thema Europa für die Grünen und sitzt in der kleinen
Sondierungsgruppe für Klimaschutz. Als Brandenburgerin kennt sie beide
Welten. Sie kann runterbeten, wie viele Millionen Tonnen Kohlendioxid
Deutschland reduzieren müsste, um die Pariser Klimaschutzziele einzuhalten.
Und sie wird, wenn sie im Braunkohlerevier in der Lausitz unterwegs ist,
von dem Bergmann angemotzt, der Angst um seinen Job hat. Baerbock hat den
Kohleausstiegsfahrplan der Grünen mit ausgearbeitet. Aber sie sagt auch,
dass es Hunderte Millionen Euro braucht, um die Folgen für die Menschen
abzufedern.
Dobrindt, erzählt Baerbock, habe ihr bei den Sondierungen auf dem Flur
einen Spruch mitgegeben. „Ja, ja, die Grünen lebten halt in ihrer schönen,
heilen Welt.“ So etwas in der Art. Baerbock schoss zurück: „Hören Sie mal,
Sie kennen mich doch gar nicht.“ Baerbock hat ein Wahlkreisbüro in
Frankfurt (Oder), die AfD holte hier bei der Bundestagswahl gut 22 Prozent.
Von wegen heile Welt. Seit Jahren besucht sie Schulen in Brandenburg. Und
diskutiert dort mit 16-jährigen Mädchen, die Angst vor Vergewaltigung
haben, weil neben ihrer Schule eine Flüchtlingsunterkunft öffnete.
Mittwoch
+++ Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann wütet
vor laufender Kamera gegen Alexander Dobrindt und CSU-Generalsekretär
Andreas Scheuer. Er werde den Verdacht nicht los, „dass diese Herren das
gar nicht wollen, dass hier konstruktiv und erfolgreich verhandelt wird“.
FDP-Chef Lindner fordert, die Grünen müssten das Kohleangebot von Union und
FDP „einmal würdigen“.+++
„Krass, das war’s.“ Baerbock starrt am Mittwochnachmittag in ihrem
Bundestagsbüro auf einen Flachbildschirm. Gerade hält die Kanzlerin eine
Rede auf der Weltklimakonferenz in Bonn. Merkel sagt, die Erderwärmung sei
„eine Schicksalsfrage“ für die Menschheit. Die Kohle müsse einen
„wesentlichen Beitrag“ zur Erfüllung der Klimaziele leisten. „Aber wie
genau das ist, das werden wir in den nächsten Tagen miteinander ganz
präzise diskutieren müssen.“
Schicksalsfrage, aber Genaues weiß man nicht. Wie so oft wirft Merkel ein
ambitioniert klingendes Schlagwort hin, lässt aber offen, was sie will.
Baerbock schnaubt und notiert etwas. Dann diktiert sie ihrem Mitarbeiter
die letzten Sätze einer vorbereiteten Pressemitteilung. Ihre Schlagwörter
heißen: Enttäuschung. Verpasste Chance. Trauriges Schauspiel. Baerbock
telefoniert noch mit dem Guardian-Reporter, der um ein Statement gebeten
hat. Wenn das Merkels Antwort auf die Schicksalsfrage sei, „then we have to
be very worried“.
Nun verzögert Merkel den Kohleausstieg seit Jahren. Selbst wenn sich Union
und FDP bewegen, reicht es vielleicht nicht. In Momenten wie diesen merkt
man, das Baerbock noch die Abgebrühtheit fehlt, die sich viele Politiker
irgendwann aneignen. „Das zerreißt mich innerlich“, sagt sie. „Vielleicht
klingt das jetzt klischeehaft. Aber meine Kinder werden mich später fragen,
was ich gegen die Klimakrise getan habe.“
Wie viel Veränderung erwarten Sie von Jamaika, Frau Baerbock? „Wir Grüne
sind auch mit der Hoffnung gestartet, dass wir vielleicht etwas Neues
hinkriegen, gerade weil die Parteien aus unterschiedlichen Richtungen
kommen.“ Baerbock denkt zwei, drei Sekunden nach. Davon sei nicht viel
übrig geblieben. „Jetzt geht es um eine Abwägung: Bekommen wir es an
einigen Punkten hin, einen Wandel einzuleiten?“
Donnerstag
+++ Kanzlerin Merkel sagt: „Ich glaube, es kann gelingen.“ Es gebe zwar
noch „gravierende Unterschiede“ zwischen den Parteien, eine Einigung sei
aber möglich. In der Nacht will Merkel in großer Runde die Streitpunkte
abräumen. +++
Auf dem kleinen Tisch in Baerbocks Büro liegt am späten
Donnerstagnachmittag ein dicker Stapel. 61 Seiten, ein Entwurf des
Sondierungspapiers, voll mit eckigen Klammern. Die Klammern bedeuten:
Alles, was darin steht, ist kein Konsens. „Im Moment, bei 100 strittigen
Punkten, würde ich sagen: Das Glas ist halb leer.“ Bei vielen lägen die
Nerven blank, denn es gehe nun nicht mehr um schöne Kompromisse, sondern um
letzte Kampflinien. Ab wann wäre Jamaika nicht mehr tragbar?
Baerbock hat am Ende vor allem das Europa-Kapitel mit verhandelt. Manche
Erfolge sind unsichtbar. Die FDP-Forderung, den europäischen Rettungsschirm
ESM auslaufen zu lassen, taucht in dem Kapitel nicht mehr auf. Hätte
Deutschland ernsthaft erwogen, den Mechanismus, der überschuldete
EU-Staaten stützt, sterben zu lassen – die Folgen wären gravierend gewesen.
Andere Erfolge sind sichtbarer. Bei der Bankenunion, die Not leidende
Großbanken kontrolliert abwickeln soll, sind sich Union und Grüne einig.
Und die Union kommt den Grünen bei der Absicht entgegen, Wirtschaftsschocks
abzufedern. Nur die FDP stemmt sich noch dagegen. Das muss Merkel regeln.
Baerbock denkt in ihrem Sessel über Kompromisse nach. Sich einzugestehen,
dass man an einigen Punkten verloren hat, gehöre dazu. Aber man müsse die
eigene Identität noch erkennen. „Eine Schmerzgrenze ist der
Familiennachzug.“ Baerbock hat in Potsdam einen Flüchtlingshilfeverein
gegründet. „Meinen syrischen Leuten erklären, tut mir leid, aber ich werde
dafür stimmen, dass eure Kinder und Ehefrauen niemals sicher nach
Deutschland kommen dürfen?“ Baerbock lehnt sich etwas vor. „Das werde ich
nicht tun.“
Ein Ja zu dieser Koalition werde fürchterlich schwer. Ein Nein aber auch.
Angenommen, Union und FDP kommen den Grünen beim Familiennachzug entgegen,
blockieren aber die Abschaltung der Kohlekraftwerke: Darf man einen
Kompromiss ablehnen, der Menschen davor retten könnte, im Mittelmeer zu
ertrinken? Baerbock wirkt meist tough und überlegt. Doch in diesen Sekunden
spürt man, wie es in ihr arbeitet.
Freitag
+++ Die Union hat in der Nacht einen Kompromiss beim Klimaschutz angeboten.
Sie will 7 Gigawatt Kohlestrom vom Netz nehmen. Das liegt deutlich näher an
der Grünen-Forderung. Unions-Innenpolitiker fordern die Abschaffung des
Familiennachzugs. Merkel schwört die CDU in einer Telefonkonferenz des
Bundesvorstands auf eine Einigung ein: „Es gehört der Wille aller dazu.“
+++
„Mama, wann ist das endlich zu Ende?“ Diese Frage stellt die Tochter gerade
jeden Tag. Baerbock kann sie ihr auch nicht beantworten.
17 Nov 2017
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Klimakonferenz COP23
Jamaika
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Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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Jamaika-Koalition
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