# taz.de -- Post-Jamaika-Strategie der Grünen: Mit vollem Kurs auf Neuwahl | |
> Özdemir und Göring-Eckardt wollen Spitzenkandidaten bleiben, das Programm | |
> bleibt gleich. Intern gibt es Unmut über die Biegsamkeit in den | |
> Sondierungen. | |
Bild: Sie wissen, wo sie hinwollen – aber vielleicht nicht unbedingt in diese… | |
BERLIN taz | Bevor Cem Özdemir am Dienstag nach Schloss Bellevue fuhr, um | |
mit dem Bundespräsidenten über Auswege aus der Nach-Jamaika-Situation zu | |
sprechen, postete er ein Foto von sich auf Twitter. Özdemir, Brille, grauer | |
Anzug, blickt ernst nach unten, vor sich einen Stapel Zeitungen. | |
Staatstragend soll das wirken, aber auch tatkräftig. | |
Die Botschaft: Die Grünen sind bereit, Verantwortung für das Land zu | |
übernehmen. Fragt sich nur: wie? An das Zustandekommen einer | |
Minderheitsregierung glaubt in der Grünen-Spitze niemand so recht. „Ich | |
gehe Stand heute davon aus, dass es eher Neuwahlen geben wird“, sagte | |
Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Montag. | |
Entsprechend bereit man sich in der Ökopartei gedanklich auf Neuwahlen vor | |
– und damit auch auf einen neuen Wahlkampf. Wer ihn anführt, ist schon | |
jetzt klar. Cem Özdemir und Göring-Eckardt werden wohl wieder die | |
Spitzenkandidaten. „Es spricht nichts dafür, etwas, was sehr erfolgreich | |
war, zu ändern“, sagte Özdemir. | |
Beide können sich auf die gewonnene Urwahl, das 8,9-Prozent-Wahlergebnis | |
und die disziplinierten Sondierungen für ein Jamaika-Bündnis berufen, die | |
sie geleitet haben. Konkurrenz ist nicht in Sicht – und wäre auch nicht | |
mehr zu organisieren. Die Grünen kegeln die Spitzenposten bekanntlich per | |
Basisabstimmung aus, dafür wäre die Zeit bis zu einer Neuwahl zu knapp. | |
## Keine Programmänderung | |
Strategisch werden die Grünen wieder darauf setzen, sich alle Koalitionen | |
offen zu halten. „Die Grünen sind eine Partei der linken Mitte“, sagte | |
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner am Dienstag. „Wir bleiben bei unserem | |
Kurs der Eigenständigkeit.“ Die Sondierungen hätten erneut gezeigt, dass es | |
ökologische und soziale Reformen nur mit den Grünen gebe. Dass es größere | |
Änderungen am Programm gibt, ist nicht zu erwarten. Nur die Ehe für alle, | |
die inzwischen Realität ist, wird in den Forderungen wohl gestrichen. | |
Die Grünen wollen weiter auf einen geschlossenen Auftritt setzen. Die | |
Abgeordnete Agnieszka Brugger, die im Sondierungsteam saß und das Netzwerk | |
Grün.Links.Denken koordiniert, warnte vor Strategiedebatten. Sie sehe weder | |
für solche Diskussionen noch für Farbenspiele aktuell Bedarf. „Wir sollten | |
als klare Kraft der linken Mitte am gemeinsamen Kurs der letzten Wochen | |
festhalten.“ | |
Die Ökopartei hat sich während der Sondierungen professionell und | |
pragmatisch präsentiert. Ihre Verhandler gingen akribisch vorbereitet in | |
die Gespräche, informierten ihre Basis über Fortschritte und machten | |
Kompromissangebote. Bei den Wählern kommt das gut an. In Umfragen lagen die | |
Grünen zuletzt bei 11 Prozent. Auch der Abbruch der Jamaika-Sondierungen | |
schadete nicht. Bei einer Blitzumfrage des Instituts infratest dimap am | |
Montag landeten sie bei 11 Prozent, bei einer Forsa-Erhebung sogar bei 12 | |
Prozent. | |
Die Sondierungen könnten jedoch auch unangenehme Folgen haben. Denn so | |
wurde öffentlich, welche Zugeständnisse die Grünen für eine | |
Regierungsbeteiligung gemacht hätten. Sie kassierten früh Forderungen in | |
der Steuerpolitik, etwa die Vermögensteuer oder eine faire Erbschaftsteuer. | |
Auch die Ziele, im Jahr 2030 aus der Kohlekraft und aus der Produktion von | |
Verbrennungsmotoren auszusteigen, mussten dran glauben. | |
Besonders ein Angebot in der Flüchtlingspolitik sorgte intern für | |
Irritationen. Das vierzehnköpfige Sondierungsteam wollte auf der | |
Zielgeraden einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr akzeptieren, um | |
im Gegenzug den Familiennachzug für syrische Kriegsflüchtlinge wieder zu | |
realisieren. Die Idee wurde mit dem Label „atmender Rahmen“ versehen. | |
## Neue schwarz-grüne Sympathie | |
„Klingt für mich wie ‚Kollateralschäden‘ für zivile Kriegsopfer“, tw… | |
danach Daniel Wesener, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus. Eine | |
linksgrüne Bundestagsabgeordnete hält das Angebot für einen Fehler. „Dem | |
Team ist intern deutlich gespiegelt worden, dass das too much war.“ Ob | |
solche Verstimmungen sich auf dem Parteitag am Samstag materialisieren, ist | |
aber ungewiss. | |
Interessant ist, dass die zähen, wochenlangen Sondierungen eine neue, | |
[1][schwarz-grüne Sympathie] produzierten. Unions-Leute lobten die | |
Sachkenntnis der Grünen. Jene wiederum applaudierten in der Nacht auf | |
Montag freundlich der Kanzlerin, nachdem die FDP-Verhandler abgerauscht | |
waren. War die Jamaika-Sondierung die entscheidende Lockerungsübung für | |
Schwarz-Grün? | |
Die Grünen mühen sich, diesem Eindruck entgegen zu wirken. Dass im Moment | |
wieder viel von „Eigenständigkeit“ und der „Partei der linken Mitte“ d… | |
Rede ist, gehört dazu. „Auch wenn wir auf ein Ergebnis hingearbeitet haben, | |
bleiben kulturelle und inhaltliche Unterschiede“, sagte Parteichefin Simone | |
Peter. „Deswegen bleiben für uns linke Bündnisse weiter möglich.“ Sie se… | |
aber bei Linkspartei und SPD nicht, dass sie daran Interesse hätten. | |
Es könnte also auf ein bekanntes Setting hinauslaufen: Offiziell halten | |
sich die Grünen vor Neuwahlen alles offen. Doch eigentlich ist allen klar, | |
dass nur Schwarz-Grün im Topf ist. | |
21 Nov 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Sondierungen-gescheitert/!5465454 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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