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# taz.de -- Fluglärm und Anwohner: Der Himmel fliegt in Fetzen
> Wer in einer Einflugschneise lebt, gehört zu den
> Modernisierungsverlierern. Das zieht Scham, Wut und Ohnmacht nach sich.
Bild: Dem Himmel so nah: Wohnen im Berliner Norden
Vergeblich spricht man das aus, was man sieht; das, was man sieht, liegt
nie in dem, was man sagt. So lautet eine berühmte Aussage Michel Foucaults.
Ersetzt man das Verb „sehen“ durch „hören“, so trifft dieser Satz gena…
Schwierigkeit, die man hat, wenn man über Fluglärm sprechen will. Noch
schwieriger ist es, über Fluglärm zu schreiben; denn das, was man hört,
lässt sich kaum schriftlich ausdrücken – weder diskursiv noch
lautmalerisch.
Am ehesten noch poetisch. Es dröhnt. Der Himmel fliegt in Fetzen. Das Herz
spannt sich an, wird nervös, verzweifelt. Wird das denn nie aufhören? Durch
das abendliche Schlafzimmerfenster sieht man die Lichter der landenden
Flugzeuge, hintereinander aufgereiht wie auf einer Autobahn, die den
Horizont quert. Unten der verlassene alte Garten. Das Dröhnen wird immer
nur für einen kurzen Moment unterbrochen; denn die Flugzeuge kommen im
Minutentakt. Weltkriegsdröhnen, ein Albtraum.
Diese Erfahrung – und jetzt wird’s prosaisch – macht man zum Beispiel in
Heinersdorf, 10 Kilometer vom Flughafen Tegel entfernt. Die
Bürgerinitiative „Tegel endlich schließen!“ bietet auf ihrer Website eine
App an, mit der man in seinem Garten den Fluglärm messen kann, um
Wahrnehmungen zu objektivieren. In einer zahlenfixierten Gesellschaft gibt
es keinen anderen Weg. Zudem informiert die Website darüber, wie
gesundheitsschädlich Lärm ist, zumal die Peaks über 100 Dezibel erreichen.
Was der Leser aber schnell merkt: Auch die Autoren der Bürgerinitiative
suchen nach treffenden Worten. Mal ist von „Getöse“ die Rede, mal von
„Lärmwahnsinn“, mal von „Dauerbeschallung“. Doch das Steigern der
Ausdrücke, der „Fluch des Superlativs“ (Viktor Klemperer), führt dazu, da…
sich die Sprache abnutzt.
Es lässt sich eben schwer ausdrücken, was man wahrnimmt – vor allem, wenn
man möchte, dass es jemand, der nicht betroffen ist, nachempfinden kann,
also jemand, der beispielsweise im Südwesten Berlins lebt und gern von
Tegel aus in den Urlaub fliegt. Viele, die im Norden in der Einflugschneise
wohnen, haben eben Pech. Irgendeiner muss ja dran glauben! Leise Flugzeuge
gibt es bisher kaum, ihre Entwicklung ist noch zu kostspielig, heißt es,
und Urlaub – Kanaren im Februar – das hat man sich doch redlich verdient.
Deswegen haben Fluglärmgegner, die selbst gern das Flugzeug benutzen, in
jeder Diskussion schlechte Karten.
Es mag sie geben, für die Fliegen okay ist, nur bitte nicht über meinem
Grundstück! Oder die, die bestreiten, dass es einen Zusammenhang zwischen
eigener Flugzeugnutzung und Lärmbelästigung gibt. Aber solche Dementis
klingen selbst in postfaktischen Zeiten einfach nur irre. Gute Argumente
hat tatsächlich nur der, der aufs Fliegen weitgehend verzichtet. Das ist –
argumentationslogisch – trivial; doch ist diese logische Konsequenz der
Grund dafür, dass Diskussionen über Fluglärm so oft ins Leere laufen.
## Die in der Einflugschneise sieht man nicht
Es gibt nämlich kaum noch jemanden, der nicht auch mal in ein Flugzeug
steigt – vor allem, seit es Billigflieger gibt. Es ist sicherlich
illusorisch zu fordern, auf das Flugzeug als Verkehrsmittel gänzlich zu
verzichten – doch eine bewusstere Nutzung wäre schon viel.
Es gibt die unumgänglichen Geschäftsreisen, die Auslandsjahre der Schul-
und Studentenzeit, Verwandtenbesuche in Übersee; aber Inlandsflüge,
Städteurlaub in Europa, Reisen für ein oder zwei Wochen nach Dubai oder
Thailand sind unter ökologischen Gesichtspunkten indiskutabel.
Man vergisst häufig, dass der Begriff der Ökologie nicht nur die
Luftverschmutzung durch Schadstoffe bezeichnet, sondern auch das Zerstören
von Lebensräumen durch Lärm. Und wie beim Klimawandel zunächst Gebiete
betroffen sind, die für die Emissionen gar nicht oder nur begrenzt
verantwortlich sind, so leiden auch unter dem Lärm zunächst nur die
Menschen, die an den Rändern der Städte in den Einflugschneisen leben.
Die meisten der Lärmverursacher bekommen davon gar nichts mit. Oder frei
nach Brecht: Die in der Einflugschneise sieht man nicht.
Deswegen erscheint der Berliner Volksentscheid über den Weiterbetrieb des
Flughafens Tegel, den der FDP-Politiker Sebastian Czaja initiiert hat, ja
auch so ungerecht. Der Volksentscheid, der im September zeitgleich mit der
Bundestagswahl stattfindet, lässt die Berliner darüber abstimmen, ob der
Senat sich mit einer juristisch wohl unmöglichen Offenhaltung beschäftigen
soll, damit man bequem und ökologievergessen von Tegel aus fliegen kann und
fast 300.000 Menschen im Berliner Norden weiter unter ohrenbetäubendem Lärm
leiden.
## Eine Minderheit verliert
Der Volksentscheid spiegelt die Ignoranz wider, welche die gesamte
Umweltdebatte prägt: die Ignoranz gegenüber den Verlierern der
industriellen und verkehrstechnischen Aufrüstung. So gibt es ein
eigentümliches Schamgefühl, das man empfindet, wenn man in einer
Einflugschneise lebt. Man gehört zu den Modernisierungsverlierern; und
selbst sogenannte Lärmschutzmaßnahmen helfen einem nichts, wenn man nicht
mehr im Garten sitzen kann. Scham empfindet man aber auch, weil man nicht
das Geld und vielleicht auch nicht die Kraft hat wegzuziehen. Oder weil man
sein Haus oder seine Wohnung nicht verkaufen möchte.
Dass nun eine Mehrheit über das potenzielle Weiterleiden einer Minderheit
abstimmt, produziert weitere Ohmachts- und Schamgefühle. Und Wut. Zumal
nicht einmal ein Hardcore-Utilitarist den Volksentscheid als eine gerechte
Abstimmung einstufen würde. Unternähme man nämlich eine Interessenabwägung,
käme man zu dem Ergebnis, dass die Interessen der Fluglärmgeschädigten die
Urlaubs- und Reiseinteressen der Fluggäste schlichtweg übertreffen.
Innerstädtischer Fluglärm macht krank, zum BER nach Schönefeld fahren
nicht.
Sicher ist es für viele Nordberliner kein gutes Gefühl, dass mit der
Eröffnung des BER andere im Süden Berlins und in Brandenburg das erhöhte
Flugaufkommen ertragen müssen, auch wenn es wesentlich weniger sind, die
leiden.
Würde sich doch der Fluglärm über das gesamte Stadtgebiet verteilen! Aber
Lärm kennt keine Verteilungsgerechtigkeit. Gäbe es sie, dann hätte der
Volksentscheid keine Aussicht auf Erfolg.
21 Jul 2017
## AUTOREN
Nils Schulz
## TAGS
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