# taz.de -- Kritik an der queerfeministischen Szene: Queere Maulkörbe | |
> Die queerfeministische Autorin Patsy l’Amour laLove hat mit „Beißreflexe… | |
> eine scharfe Kritik an ihrer eigenen Szene vorgelegt. Dafür wird ihr | |
> gedankt und gedroht | |
Bild: Kann weh tun: Beißreflexe in der linken Szene | |
HAMBURG taz | Wenn der linke Buchladen im Hamburger Schanzenviertel, also | |
der linke Buchladen, ein politisches Buch nicht im Sortiment führt, ist das | |
schon ein Statement. Die Rede ist nicht von Thilo Sarrazins „Deutschland | |
schafft sich ab“ oder etwas Vergleichbarem – sondern von einem Sammelband | |
der queerfeministischen Aktivistin, Geschlechterforscherin und | |
„Polit-Tunte“ Patsy l’Amour laLove. | |
„Beißreflexe“ heißt der Sammelband, den die Herausgeberin als Kritik an | |
queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten und Sprechverboten verstanden | |
wissen will. In 27 Beiträgen befassen sich die Autor*innen mit den | |
teilweise tyrannischen Strukturen und Regeln der eigenen | |
queerfeministischen Szene. | |
„Queer könnte eine Kritik an der heterosexuellen Normalität bedeuten“, | |
schreibt l’Amour laLove zu Beginn ihres Vorworts. Queer, wie sie es | |
versteht, könnte eine emanzipative Antwort sein auf die Gesellschaft, die | |
denjenigen feindselig gegenübersteht, die sich nicht in heterosexuellen | |
Zweierbeziehungen mit Blümchensex und Kleinfamilie verorten wollen. Die | |
nicht glauben, dass es nur zwei Geschlechter gibt, die nicht einsehen, dass | |
alle, die sich nicht in eine von zwei Schubladen mit den Aufschriften | |
„Frau“ und „Mann“ stecken lassen wollen, nicht sichtbar sind. Es könnte | |
eine perverse Antwort darauf sein – pervers in einem progressiven Sinn, der | |
das Anderssein feiert. | |
Stattdessen aber, so die Kritik der Autorin, sei Queer-Feminismus | |
mittlerweile zu einem Aktivismus verkommen, der auf autoritäre Weise Denk- | |
und Sprechverbote erteile. Dessen Verfechter*innen sich nicht auf | |
Diskussionen einlassen, sondern anderen das Wort verbieten, weil sie „nicht | |
qualifiziert“, „zu bürgerlich“ oder „zu privilegiert“ seien, um sich… | |
einem Thema zu äußern. Und bei dem es hauptsächlich um die Fragen zu gehen | |
scheine, wer progressiv und wer reaktionär ist, wer mehr oder weniger | |
diskriminiert wird als der oder die andere, und wer allein aufgrund seiner | |
privilegierten Existenz andere diskriminiert und deshalb bestraft gehört. | |
So berichtet zum Beispiel eine anonyme Autorin im Kapitel „Betroffenheit“ | |
von einem Vorfall auf dem feministischen e*Camp 2013, bei dem sie sich über | |
die zu laute Technomusik beschwerte und darüber zum Opfer einer | |
„Inquisition“ wurde, wie sie es nennt. Durch ihr „aggressives Auftreten�… | |
sie hatte erst einen Beschwerdezettel geschrieben, dann das Orga-Team | |
angesprochen und dann an das Awareness-Team gewandt – habe sie Menschen | |
verletzt. Nach vielen Vorwürfen und Diskussionen, in denen es nie um die | |
Lautstärke der Musik, sondern immer um das „provokative Verhalten“ und die | |
„Angriffe“ durch die Autorin ging, wurde sie des Camps verwiesen. | |
Ein anderer Beitrag widmet sich „dem Problem mit der Identität“: | |
„Identitätspolitik ist das hauptsächliche Schlachtfeld queerer Politik, ihr | |
Anfang, und leider auch ihr Ende“, schreibt Koschka Linkerhand. Identitäten | |
würden fetischisiert, indem man sie als etwas Absolutes behandele – zum | |
Beispiel durch die Annahme, ein schwuler cis-Mann könne gar nicht | |
verstehen, wie es sich anfühlt, als Trans-Mann dieses oder jenes zu | |
erleben. Deshalb dürfe sich Ersterer in einer Debatte über Diskriminierung | |
von Trans-Menschen auch gar nicht äußern. | |
Linkerhand kritisiert, dass Identitäten also gar nicht mehr auf | |
gesellschaftliche Verhältnisse zurückgeführt werden, sondern sich nur auf | |
sich selbst bezögen und damit nicht mehr hinterfragbar seien. Wer es doch | |
wage, sie zu hinterfragen, nach Erklärungen zu suchen, Ambivalenzen oder | |
Widersprüche zu thematisieren, werde verbannt. | |
Dahinter steht ein erzieherischer Anspruch und die Verkehrung einer von | |
außen erfahrenen Autorität nach innen, also in die eigene Szene, schreibt | |
Patsy l’Amour laLove. Man fühle sich verletzt durch die Privilegien der | |
anderen – derer, die in der Mehrheitsgesellschaft den Ton angeben, weil sie | |
weiß sind, Mann oder Frau sind, heterosexuell begehren. „Die zentrale | |
Annahme lautet, dass es Privilegierte gebe, deren Privilegiertheit an sich | |
andere unterdrücke: Dein Glück bedeutet mein Unglück“, schreibt die | |
Autorin. Daraus folge, gegen die eigene Szene gewandt, dass die | |
Sichtbarkeit von weißen Schwulen in Berlin Trans-Leute, Lesben und People | |
of Colours unterdrücke. | |
Nun ist ein Hauptpunkt von l’Amour laLoves Kritik aber eben auch die | |
Kritikunfähigkeit der queerfeministischen Szene. Und die reagierte, | |
zumindest teilweise, als ob sie genau das beweisen wollte was l'Amour | |
laLove ihr vorwirft. | |
In den sozialen Netzwerken tobt der Mob: Twitter-User*innen nannten das | |
Buch „vertextete Gewalt“, beschimpften die Herausgeberin als „Schwuchtel�… | |
der man „das Maul stopfen“ müsse oder „die Zähne ausschlagen“ solle. … | |
drohte Gewalt mit dem Baseballschläger an, jemand anders rief zur | |
Bücherverbrennung auf. Das Buch sei trans-feindlich, unsolidarisch, | |
antimuslimisch-rassistisch, werfen sie der Herausgeberin vor. | |
Auch dass der Schanzenbuchladen „Beißreflexe“ nicht im Sortiment führt, | |
wird im Netz diskutiert. Manche halten das für Zensur, anderen wäre es am | |
liebsten, dass das Buch nirgendwo verkauft wird. Der Buchladen selbst | |
äußert sich nicht. Allerdings kann man das Buch dort bestellen, nur | |
auslegen wollen sie es nicht. | |
Patsy l’Amour laLove macht trotzdem viele Lesungen. Bei den bisherigen | |
Veranstaltungen haben sich kontroverse und anregende Diskussionen ergeben, | |
sagt sie. Die Säle waren voll, ihr Buch ist derzeit im Handel vergriffen. | |
Die erste Auflage von 1.000 Stück war innerhalb von zwei Wochen | |
ausverkauft, die zweite innerhalb von zehn Tagen. | |
Am Freitag ist l’Amour laLove in Hamburg, um in der Roten Flora unweit des | |
Schanzenbuchladens zu lesen. Aktivist*innen haben Protest angekündigt. Die | |
Veranstalter*innen vom linken Magazin Phase 2 haben die Kommentarspalte der | |
Facebook-Veranstaltung wegen Anfeindungen und Hass-Kommentaren gesperrt. | |
L’Amour laLove findet es „erstaunlich“, wie heftig die Reaktionen aus der | |
Szene zum Teil ausfallen. Gleichzeitig sei es aber auch nicht überraschend | |
– schließlich zeigen die Aktivist*innen, die dafür sorgen wollten, dass die | |
Flora-Lesung abgesagt werde, damit ein Verhalten, dass die Autor*innen im | |
Buch mehrfach beschreiben. Für viele ist das der Beweis, dass l’Amour | |
laLoves Kritik berechtigt ist. „Die Reaktionen auf Beißreflexe sind | |
Beißreflexe“, schreibt der Journalist Alexander Nabert auf Twitter. „Schö… | |
dass der Hass auf das Buch, seine Herausgeberin und seine Autor*innen, | |
zeigt, dass die These des Buches richtig ist.“ | |
Die Flora-Veranstaltung abzusagen, ist für l’Amour laLove keine Option. | |
„Wegen solch autoritärer Leute sollte man keinen gut vorbereiteten und | |
sicherlich schönen Abend mit wichtigen Diskussionen absagen“, sagt sie. | |
Viel wichtiger seien die positiven und differenzierten Rückmeldungen zum | |
Buch, die nur nicht so spektakulär seien, wie die Aufforderung, ihr die | |
Zähne auszuschlagen. „In Kassel kam zum Beispiel ein junger Aktivist auf | |
mich zu und bedankte sich für das Buch, weil er dadurch bemerkt habe, dass | |
Psychoterror und Ausschlüsse gar nicht zwingend Teil von queerem Aktivismus | |
sein müssen.“ Er habe nun eine neue Gruppe gegründet und mache lustvolle | |
Politik. | |
Die umstrittene Veranstaltung in der Flora abzusagen, kann für die Autorin | |
und Herausgeberin außerdem schon deshalb keine Option sein, weil sie eines | |
ja gerade nicht will: Kritiker*innen zum Verstummen bringen oder Debatten | |
verunmöglichen. Sie will sich nicht falsch verstanden wissen: „Natürlich | |
sollen sich Leute, die Feindseligkeit erfahren, dazu auch öffentlich Gehör | |
verschaffen!“, schreibt sie in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. | |
„Wenn man aber vom Inhalt des Gesagten absieht und nur noch darauf achtet, | |
welche Hautfarbe oder sexuelle Orientierung die Sprecherin hat – dann ist | |
man mit so einem Ansatz keinen Deut besser als die Rechten.“ | |
Kritikunfähigkeit kann man l’Amour laLove jedenfalls ebenso wenig vorwerfen | |
wie Unwillen, in die Debatte zu gehen. So gesehen kann der angekündigte | |
Protest für die Flora-Veranstaltung sogar eine Bereicherung sein. | |
Jedenfalls wenn die Kritiker*innen des Buches nicht nur Sprechverbote zu | |
erteilen versuchen, sondern auch inhaltlich diskutieren wollen. Dass manche | |
beißen, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlen, ist nachvollziehbar. | |
Allerdings sei dieser „Beißreflex“ ja eigentlich gar kein Reflex, schreibt | |
l’Amour laLove. Eher als etwas Unüberlegtes, Instinktives bezeichne der | |
Beißreflex ja ein bewusstes politisches Programm. Daher sei der Buchtitel | |
eigentlich verharmlosend. | |
Für manche ist er aber ohne Zweifel eine ungeheure Provokation, wie | |
Reaktionen auf „Beißrefelxe“ zeigen. Und allein damit ist der Herausgeberin | |
schon etwas gelungen: eine Debatte zu führen, die manche, auch mit Gewalt, | |
verhindern wollen. Auch daran zeigt sich, wie wichtig es ist, dass geredet | |
wird. „Es wird oft gesagt, man würde zu viel diskutieren und zu wenig | |
Praxis machen“, schreibt l’Amour laLove. „Man sollte aber nicht mit dem | |
Denken aufhören.“ | |
Patsy l'Amour laLove (Hg.): „Beißreflexe“, Querverlag Berlin 2017, 269 | |
Seiten, 16,90 Euro | |
Lesung und Diskussion: Freitag, 26.5.2017, 18 Uhr, Rote Flora, | |
Achidi-John-Platz 1, Hamburg | |
25 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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