# taz.de -- Queere Kunst aus der Türkei: Stumm, aber bedeutend | |
> Trotz Repressionen findet die LGBTIQ-Szene ihre Schlupflöcher. | |
> Künstler*innen vergleichen ihre Situation mit einem ins türkische | |
> Alphabet migrierten Buchstaben. | |
Bild: Nilbar Güreş, “Rose of Sapatão“ | |
Der erste Blick in den Ausstellungsraum wird auf die Installation von Viron | |
Erol Vert gelenkt. Ein schwerer türkischer Teppich mit blau-rot-gelben | |
Ornamenten hängt an mehreren Ketten waagrecht von der Decke, genau auf der | |
richtigen Höhe, um bestiegen zu werden wie eine Hängematte. Kopfstützen und | |
Schlaufen aus schwarzem Leder für andere Gliedmaßen sind ebenfalls Teil des | |
Kunstwerks „İnci Pasajı“ (dt.: Perlen-Passage). | |
Das unkonventionelle Sexspielzeug bringt das Thema der Ausstellung auf den | |
Punkt. Der Teppich liegt nicht schwer und bieder auf dem Wohnzimmerboden, | |
wo er in westlichen Denkmustern seinen Platz findet, sondern ist hier Teil | |
einer erotischen Fantasie, der sich Besucher*innen der Ausstellung „ğ – | |
queere Formen migrieren“ im schwulen Museum hingeben können. | |
Der Titel ist doppeldeutig, denn der Buchstabe „ğ“ oder „das weiche g“… | |
Namen der Ausstellung hat selbst Migrationshintergrund. Bei der | |
Schriftreform durch Atatürk im Jahr 1928 ist er in das lateinische Alphabet | |
gewandert. Die Linguisten hatten Probleme, für den arabischen Klang ein | |
lateinisches Äquivalent zu erfinden, da er an sich stumm bleibt, aber in | |
einem Wort angewendet dessen Aussprache verändert. | |
## Queere Menschen sind wie wie das „ğ“ | |
„Die Art und Weise, wie mit dem „ğ“ also dem „weichen g“ (tr.: yumu�… | |
umgegangen wird, entspricht der Behandlung von queeren Personen in der | |
Gesellschaft“, erklärt Aykan Safoğlu, einer der Künstler und Kuratoren der | |
Ausstellung. „Der Buchstabe ist substanziell, aber bekommt nicht genügend | |
Aufmerksamkeit“. | |
Aykan Safoğlu hat zusammen mit dem Künstler Emre Busse die Ausstellung | |
gestaltet. Die beiden kommen aus Istanbul. In Berlin haben sie eine zweite | |
Heimat gefunden: „Wir fühlen uns den Menschen hier gegenüber verpflichtet �… | |
besonders den Migrant*innen“, betonen sie. | |
Vor einem Jahr wurde Emre Busse gebeten, einen Raum zu bespielen, der sich | |
mit dem Thema LGBTIQ* unter türkischen Migrant*innen auseinandersetzt. Zu | |
dem Zeitpunkt waren bereits zwei Filmprojekte von ihm im Schwules Museum zu | |
sehen, die er mit dem Kollektiv von Pornceptual realisiert hatte. | |
„Ich bin aber kein Kurator“, sagt der Filmemacher, „deshalb habe ich Aykan | |
gefragt, ob er mitmachen will“. Beide Künstler waren verwundert darüber, | |
dass die türkische Queer-Szene nicht schon vorher in einer Kunstinstitution | |
einen Platz gefunden hatte. Eine Erklärung dafür finden sie in der | |
institutionalisierten deutschen Kulturszene, die es für jeden schwierig | |
macht, eigenständig einen Zugang zu finden. | |
## Dildo auf Häckeldecke | |
„Hier in Deutschland bekommt man nicht die Werkzeuge oder den Zugang zu | |
Institutionen. Wenn man nicht gefragt wird, teiluzuhaben, ist es ein | |
andauernder Kampf, den man für sich selbst und seine Gründe führen muss. | |
Das ist das Problem, nicht dass die Leute nicht an dem Thema interessiert | |
wären oder keine Ideen hätten“, findet Aykan Safoğlu. | |
Eine interessante Idee steckt auch hinter der Installation „Rose of | |
Sapatão“, die eine pinke Rose zeigt, wie sie einen Dildo zärtlich küsst. | |
Die Künstlerin Nilbar Güreş hatte die Arbeit einst für die 31. Sao Paulo | |
Biennale angefertigt. „Dort ist Sapatao (wortwörtlich Herrenschuh) ein | |
Schimpfwort für maskuline Queer-Frauen oder Lesben. Ich habe versucht, | |
diese diskriminierende Bedeutung zu verändern und daraus etwas schönes, | |
positives zu kreieren“, erzählt die Künstlerin. | |
Auf Kniehöhe wächst die Pflanze aus dem Schuh und beugt sich dann herunter | |
auf das Sexspielzeug. Die Konstellation steht auf einem runden niedrigen | |
Tisch, auf dem eine weiße Häckeldecke liegt, eine Fiskos-masa-örtüsü. | |
„Dieser Tisch ist meistens für zwei Frauen, da sitzt man und quatscht“, | |
erklärt Nilbar. Bei genauerem Hinsehen werden sogar kleine eingewebte | |
Dildo-Motive in queer-Farben sichtbar. | |
Die Arbeit wirkt feingliedrig und anmutig, ganz anders als die rohe | |
Diskriminierung, die queere Menschen in der Türkei oft erfahren. „LGBTIQ | |
haben in der Türkei immer schon extreme Schwierigkeiten gehabt“, so Nilbar | |
Güreş. „Nach meiner Beobachtung in der türkischen Gesellschaft ist alles, | |
was unter den Begriff ‚männlich‘ fällt, willkommen und das Weibliche wird | |
grundsätzlich verachtet“. | |
Hoffnung säen | |
Die LGBTIQ-Szene in der Türkei findet trotz Repressionen immer noch ihre | |
Schlupflöcher. So wurde auch in mehreren türkischen Medien jenseits des | |
Mainstream über die Ausstellung berichtet. Auch Aykan Safoğlu bleibt | |
hoffnungsvoll: „Ich glaube an die Macht des Volkes und das Bedürfnis der | |
Menschen, in der Not etwas zu bewegen.“ | |
Genau das war laut dem Kuratorenduo auch das Ziel ihres Projekts: Positive | |
Emotionen auslösen und die Menschen dazu ermutigen, weitere Schritte zu | |
gehen. Um Platz für Diskussionen zu schaffen, kreierten Emre Busse und | |
Aykan Safoğlu die Ausstellung als Treffpunkt. Dazu gehört ein vielseitiges | |
Rahmenprogramm mit Lesungen, Künstlergesprächen, Filmen und Workshops. | |
Der Boden besteht aus weichen Matten, auf denen jeder Besucher stumme, aber | |
bedeutende Fußspuren in dem Raum hinterlässt, genauso wie das „ğ“ seine | |
Spuren in der Sprache hinterlässt oder die queere Szene in unserer | |
Gesellschaft. | |
Noch nicht rosa gespült | |
Für Emre Busse ist das „queere Moment in Istanbul einzigartig, weil es noch | |
nicht pink-washed ist“, erzählt er. Dagegen bildet der pinke | |
Internetauftritt und die Magenta gestrichenen Büroräume des schwulen | |
Museums einen Kontrast. Hier bewegt sich die queere Szene nicht im | |
Untergrund, ganz im Gegenteil. | |
„Vielleicht war Zensur in der Türkei schon immer das Problem“, meint Aykan | |
Safoğlu, „denn das war auch schon so unter der kemalistischen Elite.“ In | |
den letzten Jahren aber habe die Kunstszene mehr Aufmerksamkeit erhalten. | |
So wurde auch die LGBTIQ-Szene sichtbarer, die zuvor nur hinter | |
verschlossenen Türen existierte. | |
Das Ölgemälde „Taner and Taner“ von dem Künstler Taner Ceylan hat der | |
Kurator Safoğlu das erste Mal auf der Istanbuler Biennale 2003 gesehen. Auf | |
dem Bild ist der Künstler zweimal zu sehen, beim Anal-Sex mit sich selbst. | |
Das Selbstbildnis steht für eine türkisch-queere Gesellschaft die gar nicht | |
so stumm und zurückhaltend ist. Ganz anders als das „weiche g“ im Alphabet, | |
das oft für den Unwissenden unsichtbar bleibt. | |
Die Ausstellung „ğ – queere Formen migrieren“ läuft noch bis zum 29. Mai | |
2017 im [1][Schwulen Museum*]. | |
4 May 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.schwulesmuseum.de/aktuell/view/g-kuir-formlarin-goecue/ | |
## AUTOREN | |
Verena Niepel | |
Sophia Flores | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Queer | |
Theater Berlin | |
Queer | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Queeres Projekt: Haus am Ende des Regenbogens | |
Eine Initiative will im bisherigen taz-Haus ein queeres Geschichts- und | |
Bildungszentrum einrichten – und auf dem benachbarten Grundstück neu bauen. | |
Premiere von „Get Deutsch or Die Tryin“: Grabrede auf den Vater | |
Leuten mit Träumen kommt dieses kalte Almanya nicht entgegen: Am Berliner | |
Gorki-Theater wird das Stück „Get Deutsch Or Die Tryin’“ uraufgeführt. | |
Kritik an der queerfeministischen Szene: Queere Maulkörbe | |
Die queerfeministische Autorin Patsy l’Amour laLove hat mit „Beißreflexe“ | |
eine scharfe Kritik an ihrer eigenen Szene vorgelegt. Dafür wird ihr | |
gedankt und gedroht |