# taz.de -- Verfassungsrichterin über Gerechtigkeit: „Recht ersetzt Sozialpo… | |
> Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer über die Menschenwürde von | |
> Hartz-IV-Beziehenden und die Vorteile einer Verfassung ohne soziale | |
> Grundrechte. | |
Bild: Obdachlosigkeit wie auf der Hamburger Reeperbahn kann man als ungerecht e… | |
taz: Frau Baer, was ist Gerechtigkeit? | |
Susanne Baer: Ich nehme an, Sie wollen eine Antwort aus meiner Sicht als | |
Verfassungsrichterin | |
Ja, bitte. | |
Dann kann ich die Frage nicht beantworten. Wir entscheiden nicht, was | |
Gerechtigkeit ist. | |
Wie bitte? Das Bundesverfassungsgericht kann nicht definieren, was | |
Gerechtigkeit ist? | |
So ist es. Das Grundgesetz schafft den Rahmen, in dem Gerechtigkeitsfragen | |
von der Gesellschaft und in den Parlamenten beantwortet werden müssen. | |
Genügt es, wenn alle ähnlich gute Chancen haben? Sollen möglichst viele vom | |
wachsenden Reichtum profitieren? Für diese Diskussion gibt es die | |
Demokratie, mit den Parteien, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der | |
Presse. | |
Das Verfassungsgericht hat hier keinerlei Präferenz? | |
Nein. Vielleicht hoffen manche zu oft, dass „Karlsruhe“ es schon richten | |
wird. Ein Verfassungsgericht hat aber nicht die Funktion, Vorstellungen von | |
Gerechtigkeit mit Leben zu füllen. Hier müssen sich die Menschen | |
zuallererst selbst einbringen. Also: Wählen gehen und öffentlich gerade | |
auch mit denen streiten, die anderer Meinung sind. | |
Und was tut das Verfassungsgericht für die Gerechtigkeit? | |
Eine Menge! Es sichert den offenen politischen Prozess – mit der | |
Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, den Oppositionsrechten. Es | |
klärt die demokratischen Standards, nach denen Politik für Gerechtigkeit | |
sorgt. Und es klärt, was politisch nicht zur Disposition steht, also die | |
Grundrechte. Verfassungsrecht setzt die Leitplanken der Sozialpolitik, | |
ersetzt sie aber nicht. | |
Und wo liegt diese Untergrenze? | |
Ganz zentral ist das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen | |
Existenzminimums. Das war schon nach dem Krieg wichtig, mit sehr vielen | |
Geflüchteten. Es steht heute hinter unserem Urteil von 2010, der | |
sogenannten Hartz-IV-Entscheidung. Ausgangspunkt ist die Menschenwürde – | |
nicht zufällig der erste Artikel im Grundgesetz. | |
Eine konkrete Summe für das Existenzminimum haben Sie darin aber nicht | |
genannt … | |
Nein. Das Existenzminimum im konkreten sozialen Kontext zu berechnen, ist | |
Sache des Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht hat aber gefordert, | |
dass Sozialleistungen nachvollziehbar und tragfähig berechnet werden. Der | |
Gesetzgeber darf nichts ins Blaue hinein schätzen – das steht da wörtlich. | |
Und er muss ohne Diskriminierung sicherstellen, dass Menschen tatsächlich | |
menschenwürdig leben können. | |
Und am Ende bekamen alle fünf Euro mehr pro Monat … | |
Bitte vergessen Sie nicht, dass wir zwei Jahre später an das | |
Asylbewerberleistungsgesetz genau diesen Maßstab angelegt und es als | |
„evident unzureichend“ beanstandet haben. Der Gesetzgeber hatte die | |
Leistungen von Anfang an extrem niedrig angesetzt und nie erhöht. Das | |
unterschritt klar die Grenze, die das Grundgesetz zieht. Und die | |
Entscheidung ist auch heute wichtig. | |
Nützt das soziale Verfassungsrecht also besonders den Außenseitern, weil | |
man sich um die sozialen Rechte der Mehrheit keine Sorgen machen muss? | |
Verfassungsrecht ist natürlich für alle da. Aber der gerichtliche | |
Grundrechtsschutz ist gerade für diejenigen wichtig, die politisch keine | |
Stimme haben oder die ausgegrenzt werden. Da kommt auch den | |
Diskriminierungsverboten des Grundgesetzes besondere Bedeutung zu. Aber | |
auch Menschen, die zur Mehrheitsgesellschaft gehören, sind unter Umständen | |
auf gerichtliche Hilfe angewiesen. Allerdings arbeiten die Behörden und | |
Gerichte meist so gut, dass Karlsruhe nicht intervenieren muss. | |
Und was sagt das Grundgesetz zur sozialen Ungleichheit? | |
Im KPD-Urteil von 1956 heißt es, das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes | |
solle „schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die | |
Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maße | |
verwirklichen.“ 1967 erklärte das Gericht, der Staat habe „die Pflicht, f�… | |
einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte | |
Sozialordnung zu sorgen …“ | |
Ein Ausgleich der sozialen Gegensätze? Die werden doch immer größer. Und | |
wenn es dann ernst wird mit der Umverteilung, etwa bei der | |
Erbschaftssteuer, dann werden Unternehmenserben weitgehend verschont … | |
Auch hier gilt: Zuerst kommt die Verantwortung der Politik, erst dann | |
eventuell das Verfassungsgericht. Die Steuerverschonung derer, die | |
Unternehmen erben, hat der Gesetzgeber beschlossen, mit dem durchaus | |
sozialen Argument, dass Arbeitsplätze gesichert werden. | |
Und das Bundesverfassungsgericht hat dieses Lobby-Märchen auch noch | |
geglaubt … | |
Scheinargumente lassen sich entlarven. In Verfahren vor dem | |
Verfassungsgericht prüfen wir nicht nur gründlich, sondern holen auch | |
Stellungnahmen ein, um ein breites Spektrum an Positionen zu | |
berücksichtigen. Im Ergebnis wurden einige Verschonungsregelungen | |
beanstandet, die eindeutig nicht der Arbeitsplatzsicherung dienten oder | |
exzessiv waren. Wir setzen eben die Leitplanken, die sich aus dem | |
Grundgesetz ergeben. Alles andere entscheidet der Gesetzgeber. | |
Und doch haben Sie mit zwei anderen Richtern ein Minderheitsvotum zu diesem | |
Urteil geschrieben. Warum? | |
Wir haben nicht das Ergebnis beanstandet, sondern an das | |
Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes erinnert. Es verpflichtet den | |
Gesetzgeber auf das Ziel, weiteres Anwachsen des Reichtums in den Händen | |
weniger zu verhindern. | |
Ist es ein Problem, dass das Grundgesetz vor allem als Verfassung der | |
Freiheit konzipiert ist? | |
Ist das so? Menschenwürde und Gleichheit gehören untrennbar zum | |
Freiheitsgebrauch dazu – die drei Grundrechte sind im Grundgesetz der | |
Auftakt, die Freiheit also weder allein noch absolut. | |
Was heißt das praktisch? Ein Beispiel bitte. | |
Wenn der Gesetzgeber etwa entscheidet, Studiengebühren zu erheben, dann | |
geht es nicht nur um die Freiheit des Berufs. Es geht auch um die sozial | |
ungleiche Realität: die Gebühren belasten Arme, Reiche aber kaum. Also ist | |
die Freiheit nur real, wenn das sozial abgefedert wird. Wie das läuft, muss | |
politisch entschieden werden – etwa über Stipendien oder nachlaufende | |
Gebühren, die erst gezahlt werden müssen, wenn Einkommen erzielt wird –, | |
aber dass es sein muss, ergibt sich aus dem Grundgesetz. | |
Der Gleichheitsgedanke kann im Sozialstaat also dazu führen, dass sozial | |
Ungleiches auch ungleich behandelt werden muss? | |
So ist es. Und dafür gibt es sehr viele Beispiele. Schematischer | |
Formalismus kann sehr ungerecht sein. Deshalb gilt auch, dass | |
wirtschaftlich Leistungsfähigere höhere Steuern zahlen als wirtschaftlich | |
Schwächere. | |
Hartz IV wird von der Linken als „Armut per Gesetz“ gebrandmarkt. Wie ist | |
die verfassungsrechtliche Sicht? | |
Entscheidend ist, die Menschenwürde unter den Bedingungen der Freiheit für | |
Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen gleichermaßen zu wahren. Das | |
ist für den Gesetzgeber keine einfache Aufgabe. So darf er verlangen, dass | |
erwachsene Kinder, die bei ihren Eltern wohnen, mit diesen aus einem Topf | |
wirtschaften, solange das zumutbar ist – das mussten wir erst jüngst | |
klären. Und wer sich bei längerer Erwerbslosigkeit mit eigenen Ersparnissen | |
helfen kann, muss diese einsetzen, bevor der Staat einspringt, denn | |
Sozialrecht darf sich an Bedürftigkeit orientieren. | |
Der Schutz der Lebensleistung und des einmal erreichten Besitzstandes ist | |
kein verfassungsrechtlicher Wert? | |
Das Eigentum wird vom Grundgesetz durchaus geschützt. Aber Eigentum ist | |
eine rechtliche Konstruktion und solidarische Sicherungssysteme sind etwas | |
anderes. | |
Wie meinen Sie das? | |
Wer in die Rentenversicherung einzahlt, erwirbt Anwartschaften auf eine | |
Rente, aber keinen Anspruch genau auf die einmal einbezahlte Summe. Um die | |
Funktionsfähigkeit dieser Alterssicherung für alle zu sichern, sind auch | |
Rentenkürzungen zulässig. Das entscheidet wieder die Politik; das muss | |
gesellschaftlich verhandelt werden. Erst im Konflikt klärt das | |
Verfassungsgericht, ob die Leitplanken stehen. | |
Das Grundgesetz kennt bisher keine sozialen Grundrechte, wie zum Beispiel | |
ein Recht auf Arbeit oder auf eine menschenwürdige Wohnung. Würde das die | |
Position der Schwachen in sozialen Auseinandersetzungen nicht deutlich | |
verbessern? | |
Das klingt zwar gut. Aber in der Sache ist es zweifelhaft. Ein Recht auf | |
Arbeit finden Sie in einigen deutschen Landesverfassungen, wie Berlin oder | |
Hessen, und im Ausland. Aber es ist da kein einklagbares Recht, sondern | |
wird als Programmsatz verstanden. Da wird eine Verfassung zum leeren | |
Versprechen. Das schwächt dann die Bedeutung und den Wert der Verfassung | |
selbst. | |
Dann müssten die sozialen Grundrechte eben als einklagbares Recht | |
ausgestaltet werden… | |
Das würde die Gerichte überfordern, den Gesetzgeber strangulieren und die | |
politische Debatte lähmen. Die Grundrechte des Grundgesetzes haben zwar | |
eine starke soziale Dimension und sind einklagbar. Aber zuerst entscheiden | |
sich Verteilungsfragen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. | |
Deutschland ist ein reiches Land. Wo es keine privaten Arbeitsplätze gibt, | |
müsste der Staat eben neue Stellen schaffen. Das ließe sich doch | |
gerichtlich leicht kontrollieren. | |
Das mag Ihre politische Präferenz sein. Aber wie halten Sie es dann mit | |
sozialem Wohnraum? Mit Schulen? Mit der Betreuung für kleine Kinder und der | |
Pflege alter oder kranker Menschen? Und das ist nur der Anfang einer langen | |
Liste, über die politisch diskutiert werden muss. Verfassungsgerichte | |
müssen diese Diskussion offen halten, nicht schließen. | |
Sie finden also eine Verfassung ohne soziale Grundrechte besser? | |
Sie ist ehrlicher. So hat sich das Grundgesetz als Verfassung ohne leere | |
Versprechungen bewährt. | |
11 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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