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# taz.de -- Debatte Französischer Wahlkampf: Die Missachtung der Banlieues
> Um die Großsiedlungen hat sich Präsident Hollande kaum gekümmert. Von den
> FavoritInnen im Wahlkampf ist aber noch weniger zu erwarten.
Bild: Auch die Sanierung Hunderter von Quartieren hat die sozioökonomische Sit…
So ist das seit Anfang der achtziger Jahre: Erst muss ein spektakulärer
Vorfall oder ein Krawall passieren, damit das Problem der Banlieues in
Frankreich Thema der öffentlichen Debatte wird. Auch im
Präsidentschaftswahlkampf 2017 hätten die Banlieues keine Rolle gespielt,
wäre nicht im Februar ein junger Schwarzer vergewaltigt worden – während
seiner zeitweiligen Festnahme in Aulnay-sous-Bois, einer Pariser Vorstadt.
Aus Furcht vor Aufständen, ähnlich der, die das Land 2005 in Brand gesetzt
hatten, tat die Regierung Hollande alles, um die Empörung über die
rassistische Polizeigewalt, die sich in den sozialen Netzwerken und in den
Siedlungen Bahn brach, zu beschwichtigen.
Im Gegensatz zu Nicolas Sarkozy, der 12 Jahre zuvor die Existenz von
Polizeigewalt schlicht geleugnet hatte, begab sich der jetzige Präsident
ans Krankenbett des Opfers und der Innenminister verurteilte die
betreffenden Beamten nachdrücklich. Diese symbolischen Akte, in Verbindung
mit einem Großeinsatz von Ordnungskräften in den sensibelsten Quartieren
der Pariser Region, erlaubten es, die Explosion zu verhindern. Eines aber
haben sie nicht verschleiern können: die düstere Bilanz der Amtszeit
François Hollandes in Bezug auf die Siedlungen der Banlieues.
In diesen Vierteln, in denen sich die Minoritäten konzentrieren, wurde 2012
zumeist für Hollande gestimmt, aus Abneigung gegen Sarkozy, aber auch aus
Zustimmung zum Programm des sozialistischen Kandidaten, das zwei lange
verlangte Maßnahmen enthielt: die Einführung des lokalen Wahlrechts auch
für Nicht-EU-BürgerInnen, die sich seit mehr als 10 Jahren in Frankreich
aufhalten, und der Pflicht, polizeiliche Identitätskontrollen aktenkundig
zu machen, um damit diskriminierendes Verhalten seitens der Beamten zu
bekämpfen.
Beide Wahlversprechen sind nicht eingelöst worden und zudem konnten auch
die Milliarden von Euros, die in die Sanierung Hunderter von Quartieren
investiert wurden, die sozioökonomische Situation in den Banlieues nicht
verbessern: Dort ist einer von vier Erwerbsfähigen ohne Job, gegenüber
einem von zehn im Landesdurchschnitt; von den 4.8 Millionen BewohnerInnen
leben 42 Prozent unter der Armutsgrenze, dreimal soviel wie im Rest
Frankreichs. Schlimmer noch: Der Sicherheitswahn und die islamophobe
Verkrampfung, die den Angriffen auf Charlie Hebdo und das Bataclan folgten,
haben die Diskriminierungen, denen die BewohnerInnen dieser stigmatisierten
Gegenden ausgesetzt sind, noch verstärkt.
## „Verpasstes Rendevous“
Was schlagen die BewerberInnen um die Präsidentschaft also für jene
Territorien vor, in denen sich alle Probleme ballen und die alle Risse
innerhalb der Gesellschaft symbolisieren? Was die bisherigen FavoritInnen
der Meinungsumfragen, Emmanuel Macron, François Fillon und Marine Le Pen
betrifft: wenig bis gar nichts. Das hatte den Verband der Bürgermeister der
Banlieues Ende März dazu bewegt, „die Missachtung durch die Kandidaten“
anzuprangern – nach dem „verpassten Rendezvous zwischen Francois Hollande
und den Banlieues“.
Nach seinem diesbezüglichen Projekt befragt, erklärte Macron, „den
Quartieren keine Versprechungen machen zu wollen. Man hat ihnen Vieles
zugesagt, und dann keine Taten folgen lassen“. De facto beschränkt sich
sein Programm darauf, Betriebe, die BewohnerInnen der Banlieues einstellen
wollen, von Sozialabgaben zu befreien (was schon 2013 erprobt wurde – ohne
Erfolg). Fillon will weiterführen, was er einst als Premier betrieben
hatte: ein Programm des urbanen Umbaus und die Schaffung von
Freihandelszonen, mit denen Unternehmen in die Banlieues gelockt werden
sollen.
Erwartungsgemäß ist Marine Le Pen den Banlieues am feindlichsten gesonnen.
Die Kandidatin der extremen Rechten will gar alle Zuwendungen für diese
kosmopolitischen Viertel streichen. In ihrem Programm geht die Demontage
der quartiersbezogenen Sozial- und Stadtentwicklungspolitik Hand in Hand
mit Sicherheitsverschärfungen – zur Kontrolle jener Siedlungen, die Le Pen
stets als unter das Joch von Dealern und radikalen Islamisten geratene,
rechtsfreie Zonen präsentiert.
## Die linken Kandidaten werden nicht mehr gehört
Ganz anders verhält es sich mit den zwei wichtigsten Kandidaten der Linken,
Benoit Hamon und Jean-Luc Melenchon. Sie schlagen viele Maßnahmen vor, die
direkt oder indirekt den Banlieues gelten. Doch so sehr sie sich auch einig
zeigen in der Entschlossenheit, Segregation und sozialräumliche
Ungleichheit bekämpfen zu wollen, ihre Programme stimmen nur zum Teil
miteinander überein. Egal in welchem der fraglichen Bereiche (Schule,
Beschäftigung, Gesundheit, Wohnen, Transport, Kultur): Melenchon
verspricht, die Budgets der öffentlichen Einrichtungen in den
benachteiligten Quartieren kräftig aufstocken. Hier ist er weniger
realistisch und innovativ als Hamon. Indem Hamon, anstatt zusätzliche
Mittel zu versprechen, das Anliegen der Anerkennung und des Kampfes gegen
Diskriminierungen betont, eröffnete er neue Perspektiven für Viertel, deren
Lage sich in den vergangenen Dekaden kontinuierlich verschlechtert hat.
Selbst wenn jüngste Umfragen auf einen starken Anstieg der Popularität
Melenchons hindeuten, auf Kosten von Hamon, kann bezweifelt werden, dass
die ehrgeizigen Pläne der Linken an den Wahlurnen der Banlieues honoriert
werden. Vor allem, weil dort eben viele Zuwanderer leben, die kein
Wahlrecht besitzen, ebenso wie prekäre Bevölkerungsgruppen, die von diesem
Recht weniger Gebrauch machen als andere: Viele der französischen
BewohnerInnen sind nicht in den Wählerlisten eingetragen und unter denen,
die es sind, ist die Enthaltung massiv. Aber auch, weil die linken
Kandidaten nicht mehr gehört werden. Man erinnert sich in den Siedlungen
nur zu gut an die gebrochenen Versprechungen von François Mitterand und
François Hollande. Generell herrscht in den Banlieues große Skepsis
gegenüber den politisch Verantwortlichen, aber darin unterscheiden sie sich
nur wenig vom übrigen Frankreich. In dieser Hinsicht ist ihre Krise nur die
verschärfte Erscheinungsform einer Krise, die das ganze Land erfasst hat.
Übersetzung: Oliver Pohlisch
Lesen Sie auch das Interview mit Renaud Epstein über sein Projekt [1][„Un
jour, une ZUP, une carte postale“].
21 Apr 2017
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Renaud Epstein
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