# taz.de -- Wahlkampffinale in Frankreich: Alles ist offen | |
> Vier KandidatInnen liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Außerdem wird | |
> eine Rekordzahl von Enthaltungen und Leerstimmen erwartet. | |
Bild: Endspurt im Wahlkampf: Da sollte nochmal nachplakatiert werden | |
PARIS taz | Man wusste seit Langem, dass diese Präsidentschaftswahl nicht | |
nach dem üblichen Schema verläuft. Die politische Bipolarität links-rechts | |
scheint definitiv überholt oder verwischt zu werden. Wer hätte vor einem | |
Monat vorausgesagt, dass es am 7. Mai womöglich zu einer Stichwahl zwischen | |
der Rechtspopulistin Marine Le Pen und dem Linkspopulisten Jean-Luc | |
Mélenchon kommen könnte? | |
Diese Hypothese eines Finales unter Extremisten kann heute nicht mehr | |
ausgeschlossen werden. Laut den Umfragen zu den Wahlabsichten liegen heute | |
vier Kandidaten so nahe beieinander, dass jeder von ihnen noch eine reelle | |
Chance hat, sich für einen der beiden Plätze im zweiten Durchgang zu | |
qualifizieren. Die letzten Tage der Kampagne werden so zu einem spannenden | |
Kopf-an-Kopf-Rennen. | |
Die bisherigen Favoriten, die FN-Kandidatin Le Pen und der Linksliberale | |
Emmanuel Macron, haben mit derzeit noch 23 bis 24 Prozent je rund drei | |
Punkte eingebüßt. Der Konservative François Fillon konnte sich trotz der | |
kompromittierenden Enthüllungen über seine Scheinbeschäftigungsaffäre auf | |
19 bis 20 Prozent halten. Das eigentliche Phänomen der Schlussphase des | |
Wahlkampfs aber ist der linke Volkstribun Mélenchon. | |
Er hat zu einem fulminanten Spurt angesetzt. In zwei Wochen hat er | |
mindestens sechs Punkte in den Prognosen hinzugewonnen. Das ging vor allem | |
auf Kosten des Sozialisten Benoît Hamon, der nunmehr klar unter der | |
Schwelle von 10 Prozent angegeben wird. Mélenchon, der als vermeintlicher | |
Überparteilicher im Namen des Unbeugsamen Frankreich (La France insoumise) | |
antritt, hat dank einer populistischen Kampagne Fillon eingeholt. | |
## Aggressiver Wahlkampf, rhetorische Stinkbomben | |
Schon die Vorstellung, dass die Präsidentenwahl am Ende eventuell zwischen | |
einem radikalen Linken und einer Rechtsextremistin ausgemacht werden | |
könnte, hat den Amtsinhaber François Hollande aus der Reserve gelockt. | |
Eigentlich wollte er eisern (oder beleidigt?) schweigen. Er hatte in der | |
Öffentlichkeit weder für den Sozialisten Hamon noch für seinen ehemaligen | |
Berater und Wirtschaftsminister Macron Sympathien gezeigt. Das müssten ihm | |
beide eher danken, denn angesichts der wenig glänzenden Bilanz des | |
scheidenden Präsidenten wäre eine Ermunterung aus dem Élysée-Palast | |
wahrscheinlich kein Geschenk, sondern wahlpolitisch kontraproduktiv. | |
Trotzdem hat Hollande aufgrund der neuen Ausgangslage sein Schweigen | |
gebrochen. Er warnt in einem Interview mit dem Magazin Le Point | |
ausdrücklich vor der Demagogie der Populisten: „Es droht Gefahr seitens der | |
Vereinfachungen und Verfälschungen, man schaut nur auf das Spektakel des | |
Volkstribuns und nicht auf den Sinn seiner Worte.“ Im privaten Kreis soll | |
Hollande laut Le Monde sogar erklärt haben: „Diese Wahlkampagne riecht | |
übel.“ | |
Ohne sie beim Namen zu nennen, macht er dabei Mélenchon und Le Pen für | |
rhetorische Stinkbomben in ihrem aggressiven Wahlkampfstil verantwortlich. | |
Beide mobilisieren das „Volk“ gegen das System, sie drohen im Fall ihres | |
Wahlsiegs mit radikalen Änderungen und namentlich auch mit einer | |
Volksabstimmung über den EU-Austritt („Frexit“). Das protektionistische und | |
nationale Wirtschaftsmodell, das Le Pen und Mélenchon in unterschiedlicher | |
Form vorschlagen, wäre aus der Sicht von Hollande (und der meisten | |
Ökonomen) ruinös. | |
In der französischen Öffentlichkeit wird Hollande aber bereits wie ein | |
Pensionierter der Politik mit Nachsicht behandelt. Bei seinen zahlreichen | |
Visiten für Einweihungen, Ordensverleihungen oder Beerdigungen werde er | |
inzwischen nicht mehr mit Pfiffen, sondern mit höflichem Desinteresse | |
empfangen „wie ein Varietésänger“ von früher, erzählt einer seiner | |
Begleiter. Man begreift, dass der gegenwärtige Präsident bereits niemanden | |
mehr stört. | |
## Glaubwürdige Prognose unmöglich | |
In dieser Wahlkampagne wurden alle „Bisherigen“ systematisch ins Abseits | |
befördert – wie dies die Populisten von links und rechts ständig fordern: | |
Als Erster musste Hollande selbst auf eine Kandidatur verzichten; | |
Ex-Präsident Nicolas Sarkozy schaffte nicht einmal die Hürde der Vorwahlen | |
seiner Partei Les Républicains, auch sein Parteikollege, der | |
Expremierminister Alain Juppé, unterlag; bei der Kandidatenkür der | |
Sozialisten erwies es sich für Manuel Valls als unverzeihlicher Nachteil, | |
zuvor Regierungschef gewesen zu sein. | |
Nach dem ersten Wahlgang, wenn die beiden Finalisten feststehen, will der | |
noch amtierende Präsident auch sagen, wen er unterstützt. Hollande möchte | |
so im „Vertrauen auf die Intelligenz der Franzosen“ noch Einfluss nehmen | |
auf die Wahl seines Nachfolgers. Das könnte angesichts der vier | |
Möglichkeiten wohl nur Macron sein. Hollande hofft, der nächste Präsident | |
werde „mit neuen Aktionen fortsetzen“, was er begonnen habe. Das scheint | |
allerdings gegenwärtig für die allermeisten seiner Landsleute kaum ein | |
entscheidendes Kriterium zu sein. Ein Drittel von ihnen ist angeblich noch | |
unschlüssig. Es wird zweifellos mit einer Entscheidung in der letzten | |
Minute den Ausgang dieses ersten Wahlgangs bestimmen. | |
Ein Symptom der Krise des politischen Systems in Frankreich ist es auch, | |
dass dieses Mal eine Rekordzahl von Enthaltungen und Leerstimmen erwartet | |
wird. Das wiederum macht für die Umfrageinstitute jede glaubwürdige | |
Prognose in diesem außerordentlich spannenden Wahlfinale praktisch | |
unmöglich. Wer unbedingt einen Tipp braucht, kann also genausogut einen | |
Wahrsager fragen, wer der nächste Staatschef der französischen Republik | |
wird. | |
19 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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