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# taz.de -- Vor den Wahlen in Frankreich: Der Netflix-Präsident
> Am Sonntag wählt Frankreich. Vor dem ersten Wahlgang inszeniert sich
> Favorit und Amtsinhaber Macron als smarter Bewahrer der Grande Nation.
Bild: Versucht Bürgernähe zu suggerieren: Wahlkampfbesuch von Emmanuel Macron…
Emmanuel Macron sagt, sinngemäß übersetzt, in leicht flapsigem Unterton:
„Die dümmsten Fehler habe ich immer dann gemacht, wenn ich mir meiner
selbst zu sicher war.“ Es soll wohl selbstkritisch herüberkommen. Dann
versinkt er im Fond seiner Präsidentenlimousine. Der Mann versteht zu
schauspielern, sein Handwerk hat er bekanntlich in einer von seiner
späteren Frau Brigitte geleiteten Schultheatergruppe in der französischen
Provinz gelernt.
Wo sind wir hier? Voilà: Der mit derzeit rund 27 Prozent aussichtsreichste
Kandidat für die erste Runde, vor der rechten Marine Le Pen mit um die 21
Prozent, spielt sich selbst. Und das Youtube-Spektakel heißt der
Einfachheit halber [1][„Le candidat“]. Jede Woche gibt es eine neue,
mehrere Minuten lange Folge. Die Miniserie funktioniert nach dem
Netflix-Prinzip – eine Pseudorealität erscheint derart perfekt
ausgeleuchtet, elegant manipulativ inszeniert und geschnitten, dass man
sich in der Wirklichkeit wähnt.
Doch sehen wir stets nur den rastlosen Mimen Macron. Das Ganze soll
Bürger:innennähe vorgeben – „avec vous“ heißt das Motto – das sowohl
„mit euch“ als auch „mit Ihnen“ bedeutet. Es suggeriert, dass der
44-Jährige mittlerweile mit ganz Frankreich auf Sie und Du ist. Es gelingt
ihm nur mäßig. Zwar ist er immer noch klarer Favorit und wird wohl ein
zweites und verfassungsrechtlich bedingt vorerst letztes Mal Präsident
werden. Doch rund 30 Prozent der Französ:innen wollen erst mal gar nicht
wählen, und mehr als ein Drittel im Land erklärt sich als stramm
rechtsaußen.
Macrons ihm nachhängendes Image des arroganten, nicht zuhören könnenden
Überfliegers, der etwa die aktivistische Gelbwestenbewegung 2018
unterschätzt und lange nicht ernst genommen hatte, will er mit der „Avec
vous“-Kampagne abstreifen. Sie soll Herz und Demut angesichts der Nöte und
Sorgen der Französ:innen signalisieren. Derzeit versucht sich der
Ex-Banker und Absolvent der Elite-Hochschule ENA als Kümmerer um die und
Bewahrer der Grande Nation. Beiwerk dafür ist ihm seine von ihm 2016
gegründete Bewegung La République en Marche (LREM), die er strikt vertikal
managen lässt.
Diese Konstellation passte auch zu seinem [2][befremdlich pompösen Auftritt
in der La-Défense-Arena] am vergangenen Samstag vor mehr als 30.000 Fans.
Allerdings: Quer durch alle Parteien ist Wahlkampf in Frankreich eine oft
pathetisch ablaufende Geschichte. Überall weht dann ein Fahnenmeer, das mal
mehr, mal weniger oder gar nicht mit Europafahnen durchsetzt ist.
In dem Pariser Rugbystadion schwor er seine Fans dann auch auf „Kampf“ und
„Generalmobilisierung“ für aufklärerische und liberale Werte der Republik
ein. Das linke französische Onlinemagazin Mediapart kommentierte bissig:
„Eine Veranstaltung, als wenn die letzten fünf Jahre nichts passiert sei.“
Richtig, und der deutsche Bundestagswahlkampf im vergangen Jahr – erinnert
sich jemand noch daran? – wirkte dagegen wie ein „ZDF-Fernsehgarten“ ohne
Musik.
Nun ist Macron kein Demagoge, wie es Marine Le Pen vom rechtsextremen
Rassemblement National und der [3][reaktionäre Kandidat Éric Zemmour] von
der Bewegung Reconquête sind. Macron ist ein hochbegabter
Sowohl-als-auch-Bluffer, ein sozialdemokratisch angehauchter und unheimlich
von sich eingenommener Verkäufer.
## Macron als Start-up
Er ist sein eigenes, stets hochtourig laufendes, erzliberales Start-up.
Derzeit schafft er es, die gesunkene Arbeitslosigkeit in Frankreich für
seine Popularität zu nutzen. Doch wankt der schuldenfinanzierte Aufschwung
nach dem Corona-Lockdown schon jetzt durch die wirtschaftlichen und
politischen Unwägbarkeiten von Putins Krieg – Ausgang auf ganzer Linie
ungewiss.
Andererseits ist dieser Krieg ein willkommener Anlass für Macron, sich als
[4][franko-europäischer, staatsmännischer Beschützer] und transatlantischer
Weltenlenker zu präsentieren. „Die Rückkehr der Tragik“ nennt er den
Überfall Putins auf die Ukraine und die Konsequenzen daraus für die, es
klingt im Kriegszusammenhang wie Hohn, Weltgemeinschaft. Politik, Krieg und
Tragik in einem Atemzug: Diese brenzlig gefühlvolle Variation kommt einem
nüchternen Kanzler Scholz nicht auf den Merkzettel.
Bei Macron ist es ein ganz bewusst von ihm gewählter Cliffhanger, der mit
ambivalenten und mulmigen Gefühlen der Wähler:innen spielt. Wenn es
schiefgeht und Putin noch eins militärisch drauflegt, dann hat der Westen,
hat Frankreich möglicherweise schlicht Pech gehabt, die Rückkehr der Tragik
eben – doch, halt, stopp! Ich, Macron, werde mich, sinngemäß, „mit ganzer
Kraft dafür einsetzen, dass es nicht so weit kommt“. Lasset uns beten zum
Präsidenten!
## Die großen Vergessenen
Lasset uns beten zum Besseren, das gilt auch für die zum Teil rigide Innen-
und Gesellschaftspolitik dieser französischen Regierung und ihrer
Vorgängerinnen. Drei davon hat Macron in seiner Amtszeit eingesetzt und
gelenkt; die Macht dazu gibt ihm die Verfassung. Die [5][großen Vergessenen
dieser Jahre], aber nicht nur dieser, sind die Menschen in den lange schon
sozial ruinierten Vorstädten, in den Sozialbausiedlungen, den „cités“ etwa
von Paris, Lyon, Marseille und Lille.
Als Macron 2017 frisch gewählt war, bat er den konservativen Politiker
Jean-Louis Borloo, einen Aktionsplan für diese abgehängten Orte
auszuarbeiten. Der rund zwei Milliarden Euro dafür veranschlagende Bericht
verschwand sang- und klanglos in den Schubladen des Élysée-Palasts.
Eins hat der Präsident definitiv geschafft: Er hat die einst großen
französischen Volksparteien, die Sozialisten und die Republikaner, final
versenkt. Die wichtigste Frage nach der Wahl wird nicht sein, was Macron
noch im Köcher hat, sondern, wie sich das rechte und rechtsextreme, aber
auch das linke und das grüne Lager neu formieren. Die entscheidende Wahl,
sie findet in Frankreich wohl im Frühjahr 2027 statt.
7 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=vT1uvtxMxPE
[2] https://www.youtube.com/watch?v=fnPrPR2jBkQ
[3] /Rechter-Zemmour-erklaert-Kandidatur/!5815701
[4] /Praesidentschaftswahl-in-Frankreich/!5838708
[5] /Vor-den-Wahlen-in-Frankreich/!5843143
## AUTOREN
Harriet Wolff
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Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022
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