| # taz.de -- Wahlen in Frankreich: Endlich Frühling | |
| > Frankreichs Linke ist zerstritten. Anders in Marseille: Dort geht seit | |
| > zwei Jahren ein Bündnis aus linken Parteien und Bürgergruppen neue Wege. | |
| Bild: Der Stadteil Noailles in Marseille | |
| Marseille taz | Alain Paire mit seinem Lockenkopf ist schon von Weitem zu | |
| erkennen. Es ist, als würde die Morgensonne seine weißblonden Haare noch | |
| heller leuchten lassen. Der 72-Jährige sitzt in einem Café in der | |
| Seitenstraße des Vieux Port, der aufgehübschten Hafenmeile im Zentrum von | |
| Marseille. Der Wind ist kalt, es ist früh am Tag. Früher war in dieser | |
| Gegend die Marseiller Presse zu Hause, übrig geblieben ist die | |
| kommunistische Tageszeitung La [1][Marseillaise], für die Paire | |
| gelegentlich arbeitet. „Die Kollegen sind unkompliziert und trauen sich | |
| etwas“, sagt der Kulturjournalist, der früher in Aix-en-Provence eine | |
| Galerie betrieben hat. Er kennt jeden, und jeder kennt ihn. | |
| „Keine französische Stadt ist wie Marseille“, sagt Paire. Schon gar nicht | |
| Paris, das mit seiner Innenstadt einer luxuriös verpackten | |
| Pralinenschachtel gleicht und seine unappetitlichen Bestandteile in die | |
| Banlieue, außerhalb des Rings, verbannt hat. Marseille hat eine sozial | |
| gemischte Innenstadt, wo Wohlstand und Armut aufeinandertreffen, neben- und | |
| manchmal auch miteinander existieren. Die Misswirtschaft der 25 Jahre unter | |
| dem konservativen Ex-Bürgermeister Jean-Claude Gaudin hatte die Gegensätze | |
| zementiert. „Man muss das soziale Gewebe vorsichtig reparieren“, sagt | |
| Paire. „Im Moment gibt es Vertrauen in die Politik. Die alten Hexenmeister | |
| sind verschwunden.“ Weg vom Fenster, abgewählt, nachdem am 5. November 2018 | |
| im Stadtteil Noailles drei Häuser eingestürzt waren und eines acht Menschen | |
| tot unter sich begraben hatte. | |
| Das Unglück wirkte wie ein Katalysator. Ein Bündnis linker Parteien und | |
| Bürgergruppierungen, Le Printemps Marseillais (Der Frühling von Marseille), | |
| eroberte bei den Kommunalwahlen im März und Juni 2020 das Rathaus. Es hält | |
| mit 51 Sitzen knapp die absolute Mehrheit im Stadtrat. Mit dabei: | |
| Abgeordnete der Grünen, Kommunisten, Sozialisten und von La France | |
| Insoumise. Nicht dabei: La République en Marche, die Partei von Präsident | |
| Emmanuel Macron. Mit dabei: kleine und größere Bürgerinitiativen und | |
| -kollektive. Nicht beteiligt: die militanten Vertreter des linken | |
| Spektrums. Sie seien nicht eingeladen worden, sagen die einen; sie hätten | |
| nicht gewollt, sagen die anderen. Ohne den Einsturz des Hauses in Noailles, | |
| da sind sich alle sicher, wäre das Bündnis nicht zustande gekommen. | |
| Gibt es bereits sichtbare Ergebnisse der neuen Stadtführung? Trotzt man in | |
| Marseille der anhaltenden Uneinigkeit der französischen Linken? „Die Union | |
| ist fragil“, sagt Paire, „aber im Moment hält sie.“ Der Kulturjournalist | |
| steuert die Rue Thubaneau an, wo zur Zeit der Französischen Revolution der | |
| Club der Jakobiner seine Debatten austrug. Der abgewählte Bürgermeister | |
| Gaudin ließ hier, als Marseille 2013 Kulturhauptstadt wurde, ein Denkmal | |
| für die Marseillaise einrichten. Eine [2][Multimediainstallation], die die | |
| Geschichte der heutigen Nationalhymne erzählt, die nicht immer La | |
| Marseillaise hieß. Sie entstand als Kampfliedlied für ein Bataillon, das | |
| 1792 von Marseille zur Unterstützung der Revolutionstruppen nach Paris zog. | |
| Vielleicht könnte heute ebenso ein revolutionärer Funke überspringen und | |
| der Printemps Marseillais seine Botschaft ins Land tragen, hofft Alain | |
| Paire. Er glaubt an das rebellische Potenzial seiner Stadt. Die | |
| Marseillaise wurde während der deutschen Besatzung eine Hymne des | |
| Widerstands. | |
| ## Miethaie vermieten an Menschen ohne Papiere | |
| Nahe der Börse, wo man bei der Errichtung eines hässlichen Einkaufszentrums | |
| auf die Überreste des antiken Hafens von Marseille gestoßen ist, liegt das | |
| Museum zur Stadtgeschichte. Es widmet der Marseillaise zurzeit eine | |
| Sonderausstellung. Der Eintritt ist frei – eine Maßnahme der neuen | |
| Stadtregierung. Es gibt sie also, die ersten sichtbaren Ergebnisse ihrer | |
| Politik. Im Erdgeschoss ist eine neue Abteilung entstanden, ein Museum im | |
| Museum, am Point Zéro, am „Nullpunkt“ der Geschichte Marseilles, die einen | |
| Bogen bis zu den dramatischen Ereignissen im November 2018 schlägt. | |
| Architekturstudierende haben ein Holzmodell des afrikanisch geprägten | |
| Innenstadtbezirks rekonstruiert, Fotos, Videos und Audios berichten von | |
| katastrophalen Wohnverhältnissen und einer erzwungenen Umquartierung und | |
| Vertreibung von mindestens 2.500 Bewohner:innen des Viertels nach dem | |
| Einsturz. Wer den Erfolg des Printemps Marseillais verstehen will, muss zum | |
| Nullpunkt Noailles zurück. Was hier geschah, war weit mehr als der | |
| Zusammenbruch eines Hauses und einer korrupten Stadtverwaltung: Es | |
| traumatisierte ein höchst prekäres Viertel und eine Stadtgesellschaft, die | |
| ohnehin alarmiert und bereits vielfach aktiviert war. | |
| Während der Gaudin-Zeit waren zahlreiche Bürgerinitiativen entstanden wie | |
| Centre Ville pour Tous (Stadtzentrum für alle), eine der ältesten, die sich | |
| um die Rettung einzelner Quartiere bemühten. „Wir wurden nicht gehört“, | |
| sagt Hélène Froment bei einem Treffen im Café L'Ecomotive direkt am | |
| Bahnhof, einem Alternativcafé, wo es vegane Speisen und freies WLAN gibt. | |
| „Das ist jetzt anders. Man hat uns im Rathaus empfangen und mit allen | |
| Initiativen eine ‚charte de relogement‘ ausgearbeitet.“ Die Charta wurde … | |
| Stadtrat verabschiedet; sie soll dafür sorgen, dass die evakuierten | |
| Bewohner:innen nach erfolgter Sanierung in ihre Häuser oder | |
| Stadtviertel zurückkehren können. „Alle haben Angst vor Gentrifizierung.“ | |
| Nicht nur die Nummer 65 in der Rue d'Aubagne erwies sich als | |
| einsturzgefährdet, viele andere Häuser waren es damals (und sind es bis | |
| heute). Bewusster Verfall, Leerstand aus Spekulationsgründen, Abriss, | |
| lukrativer Neubau, Vergabe nach Gefälligkeit: der Marseiller Klientelismus, | |
| der die Ära Gaudin prägte. Sogenannte „Marchands de Sommeil“, das | |
| französische Wort für Miethaie, vermieteten die baufälligen Wohnungen an | |
| Menschen ohne Papiere, ohne Geld – aber nicht ohne Rückhalt. Spontan | |
| entstand nach dem Einsturz das Kollektiv 5. November, hervorgegangen aus | |
| anderen Initiativen, das Demonstrationen und Solidaritätsaktionen | |
| organisierte. | |
| ## Marseille hat viele Migrationswellen erlebt | |
| In der Rue d’Aubagne klafft jetzt eine Baulücke. Starker Regen hatte 2018 | |
| dazu beigetragen, dass die schon vorher beanstandeten Risse die Häuser | |
| regelrecht zerbröseln ließen. Weitere Häuser, die schmale Straße hoch, | |
| stehen leer, verrammelte Fenster, Graffiti. Davor stehen Stühle und Tische, | |
| die Anwohner rausgestellt haben, um sich zum Gespräch niederzulassen. Vor | |
| dem Mahnmal mit den Opfern des 5. November hängen Jugendliche ab. Plakate | |
| und beschriftete Bettlaken informieren die Vorübergehenden über den Stand | |
| der Verhandlungen mit den Behörden. Die umquartierten Mieter:innen | |
| wollen zurückkehren. „Die Abgeordneten reden und reden über die | |
| Renovierung“, heißt es auf einem Plakat. Und spöttisch weiter: „Das ist | |
| gut. Doch unter dem letzten Anstrich ist immer noch die gleiche Scheiße.“ | |
| Das gesetzlich verankerte „Recht auf menschenwürdiges Wohnen“ sei bisher | |
| nicht umgesetzt worden, sagt Kevin Vacher, Jahrgang 1990, Soziologe und | |
| Aktivist des Kollektivs 5. November am Telefon. „Das Gesetz ist da. Es geht | |
| darum, es anzuwenden.“ Für ein Treffen hat er keine Zeit, er bereitet | |
| gerade die Kampagne seiner Gruppierung für die Parlamentswahlen vor, die | |
| vier Wochen nach der Präsidentschaftskür stattfinden. Im Programm: ein | |
| „Gesetz Rue d’Aubagne“, das Spekulation und Vertreibung vorbeugen soll. D… | |
| angekündigten Maßnahmen zur Sanierung der Innenstadt ließen auf sich | |
| warten, sagt Vacher noch. Seine Sympathien für die neue Stadtführung halten | |
| sich hörbar in Grenzen. | |
| „Es fehlt an allem in Marseille“, sagt Michèle Rubirola. Die 65-jährige | |
| Politikerin weiß um die wachsende Ungeduld der Menschen. Die Grüne, deren | |
| Parteimitgliedschaft derzeit ruht, war die Nummer Eins auf der Liste des | |
| Printemps Marseillais. Ihrer Kandidatur als Grüne, die sich nicht um | |
| Parteilinien schert und nicht aus einem großen Parteiapparat kommt, | |
| verdankt der Printemps Marseillais seinen Sieg. Wenige Monate nach ihrer | |
| Vereidigung als Bürgermeisterin trat sie „aus gesundheitlichen Gründen“ | |
| zurück und überließ das Amt dem Sozialisten Benoît Payan, dem sie nun als | |
| Stellvertreterin und erste Referentin dient. Ein abgemachter Deal, glauben | |
| viele; Rubirola selbst sagt ruhig in ihrem sonnigen Amtszimmer im Rathaus: | |
| „Wir haben nur die Personalie, nicht das Programm geändert. Ich stehe für | |
| seine Inhalte.“ | |
| Draußen am Rathaus, Blick auf den Hafen, flattern Fahnen im Wind, darunter | |
| die ukrainische Flagge. Odessa ist Partnerstadt. „Wir sind ein | |
| Laboratorium“, sagt Rubirola. „Wir probieren aus. Es muss funktionieren.“ | |
| Das Laboratorium: Rund 870.000 Menschen leben in der zweitgrößten Stadt | |
| Frankreichs, etwa zehn Prozent haben keinen französischen Pass, etwa 40 | |
| Prozent Migrationshintergrund. Es gibt eine große islamische und eine nicht | |
| unwesentliche jüdische Gemeinde. Rubirola selbst hat spanische und | |
| italienische Großeltern. Marseille hat viele Migrationswellen erlebt; | |
| Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Italiener und Armenier, in den 60er | |
| Jahren, nach der Unabhängigkeit Algeriens, zogen Algerier und | |
| Algerienfranzosen in die Region, letztere bis heute oft Anhänger von Marine | |
| Le Pen und ihrem rechtsextremen Rassemblement National (RN), der in | |
| Marseille derzeit keine Rolle spielt – ebenso wenig wie die Macronisten, | |
| die hier nie Fuß gefasst haben. | |
| ## Eine arme Stadt in einer reichen Region | |
| „Macron setzt nur auf Unternehmer, auf seine Freunde“, sagt der Marseiller | |
| Anthropologe Michel Peraldi. „Seine eigenen Abgeordneten gehören nicht zur | |
| Clique.“ Auch der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon von den | |
| „Insoumis“ (Die Unbeugsamen) hat in Marseille seinen Wahlkreis, ohne hier | |
| lokal verankert zu sein. Im Gegensatz zu Macron hat er aber eine aktive | |
| Anhängerschaft, viele davon in den Kollektiven und Bürgervereinen | |
| organisiert, die ihm eine Basis verschaffen. | |
| Marseille ist eine arme Stadt in einer reichen Region. Etwa 25 Prozent | |
| seiner [3][Bevölkerung] lebt unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit | |
| liegt mit 11 Prozent höher als im Landesdurchschnitt, in den armen | |
| Stadtteilen im Norden der Stadt geht sie teilweise rauf bis zu 40 Prozent. | |
| Hier sitzen die Jugendlichen als Späher an den Zugängen der Cités und | |
| regeln den Drogenverkehr. Sie geraten manchmal zwischen die Fronten der | |
| rivalisierenden Banden, allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres hat | |
| es acht Tote gegeben. Ist es da ein Trost, dass Ex-Bürgermeister Gaudin, | |
| inzwischen 82 Jahre alt, Ende März zu sechs Monaten mit Bewährung | |
| verurteilt wurde? Wegen Begünstigung seiner Mitarbeiter: Statt ganzer Tage | |
| arbeiteten sie nur halbe, bei vollem Gehalt; zudem schrieben sie sich | |
| Überstunden auf, die sie nie machten. | |
| Vize-Bürgermeisterin Michèle Rubirola weiß, die Zeit rennt ihnen davon. | |
| Frühling bleibt nicht ewig Frühling, der rosafarbene Blumenstrauß auf ihrem | |
| Tisch muss wöchentlich ausgetauscht werden. Es sei nicht einfach, in einer | |
| pluralistischen Mehrheit zu arbeiten, gibt sie zu. Es gibt die großen | |
| Themen – Schulen, Wohnungen, Nahverkehr –, die angepackt werden müssen, und | |
| es gibt die kleinen Dinge, die schneller umgesetzt werden können: | |
| Sanierung der Schwimmbäder, Solarmodule auf Schuldächern, ein öffentlich | |
| zugängliches Portal für die Vergabe von Wohnungen und Kitaplätzen mit einem | |
| klaren Kriterienkatalog. Rubirola, von Beruf Ärztin, hat einen kommunalen | |
| „Rat der Gesundheit“ ins Leben gerufen. Neuerdings gebe es Obst statt | |
| Ricard bei Empfängen – manche belächelten das, erzählt Rubirola. Sie ist | |
| überzeugt: „Die soziale Frage kann nur über die Ökologie gelöst werden.“ | |
| Deswegen strecke man die Fühler aus nach anderen grün oder links regierten | |
| Städte wie Grenoble, Lyon, Bordeaux oder Strassbourg. „Wir inspirieren uns | |
| gegenseitig.“ | |
| ## Ein ethischer Code | |
| Eins der grünen Vorzeigeprojekte des Printemps Marseillais ist die | |
| Bewerbung Marseilles bei der EU, als eine von 100 „klimaneutralen“ Städten | |
| einen Probelauf zu machen. Félix Blanc, 37, von Anfang an beim Printemps | |
| dabei, arbeitet in der Abteilung, die im Rathaus die Energiewende | |
| verantreiben soll. Er formuliert es etwas anders als Michèle Rubirola: „Ich | |
| bin überzeugt, dass die Energiewende nur gelingen kann, wenn man die Armut | |
| und das Prekariat bekämpft.“ Wie das gelingen kann? Indem man Wohnungen | |
| nicht nur instandsetzt, sondern auch energetisch saniert. Damit die | |
| Menschen, die darin leben, nicht unnötig hohe Stromkosten zahlen müssen, | |
| sagt Blanc. | |
| Blanc bekommt im Rathaus die große Verwaltungsreform aus nächster Nähe mit. | |
| Abteilungen werden zusammenlegt, abgeschafft oder neue ins Leben gerufen. | |
| Über 17.000 Mitarbeiter zählt die städtische Verwaltung, ebenso viele | |
| suchen ihre neue Bestimmung. „Man muss sie überzeugen, fortbilden, ihnen | |
| Vertrauen schenken, sie bekehren“, sagt Blanc. „Das braucht Zeit. Aber es | |
| geht voran.“ Joël Canicave, Vorsitzender der Fraktion Printemps | |
| Marseillais, erläutert am nächsten Tag die Umstrukturierung der Verwaltung: | |
| „Wir gehen sie von oben nach unten an.“ Der Kopf der Verwaltung wurde | |
| ausgetauscht, aus 14 Referaten wurden sieben, ihre Leitungen neu benannt, | |
| die Mitarbeiterzahl von 80 auf 40 reduziert. | |
| „Wir sind auf der Hälfte der Strecke.“ Canicave gehört wie Bürgermeister | |
| Benoît Payan der Parti Socialiste an, er hat die Aufgabe, den Bürgermeister | |
| im Interview zu vertreten. Er ist der Finanzbeauftragte, ein schwieriger | |
| Job. 1,5 Milliarden Euro Schulden hat die Stadt von ihrer | |
| Vorgängerregierung geerbt, allein zwei Millionen gehen jährlich zur | |
| Rückzahlung drauf. Andere erzählen, dass nicht nur die Kassen, sondern auch | |
| Schubladen und Computer geleert waren, als der Printemps Marseillais | |
| antrat. | |
| „Wir Abgeordneten haben uns einen ‚code de pratique‘ gegeben,“ sagt | |
| Canicave, einen ethischen Code. „Und wir wenden ihn an.“ Kein Champagner | |
| bei Empfängen, die Zahl und die Klasse der Dienstwagen reduzieren, | |
| öffentliche Leuchtkörper gegen LEDs austauschen: Das ist unspektakulär und | |
| ethisch korrekt. Canicave erklärt das klientelistische Prinzip der | |
| Vorgängerregierung und warum es „so schwer ist, aus diesem Denken | |
| herauszukommen“: Aufträge Wohnungen, Jobs – „man gab es ja Freunden“. | |
| ## Es geht voran. Langsam. | |
| Im Fall des Printemps Marseillais kommt ihnen ein neuer Freund zu Hilfe: | |
| Präsident Emmanuel Macron. Er verkündete im September in Marseille seinen | |
| Plan Marseille-en-grand: ein Paket von insgesamt 1,5 Milliarden Euro, das | |
| für mehr Sicherheit (Polizei), sanierte Schulen und verbesserten Nahverkehr | |
| sorgen soll. Der Staat gibt – und kontrolliert. Ein | |
| Partnerschaftsunternehmen wurde bereits gegründet. 174 Schulen sollen in | |
| den nächsten vier Jahren unter ökologischen Gesichtspunkten saniert werden, | |
| erklärt Canicave. | |
| Er klingt stolz. „Es ist das erste Mal, dass der Staat in die Infrastruktur | |
| der Schulen investiert.“ Vor allem in den Schulgebäuden der Quartiers Nord | |
| mangelte es an allem: Es regnete rein, im Winter fiel die Heizung, im | |
| Sommer die Kühlung aus, die Toiletten eine Zumutung. Jetzt hängt an | |
| Marseiller Schulen ein Plakat der Stadt, das verkündet, welche Arbeiten | |
| bereits ausgeführt worden sind. | |
| Es geht voran. Langsam. Mit Widerständen, was auch an der komplizierten | |
| Konstruktion der Zuständigkeiten liegt. Im Fall von Marseille gibt es drei | |
| Akteure: die Stadt, in der gerade Frühling ist; die Region, das Departement | |
| Bouches-des-Rhônes, wo der Printemps Marseillais im vergangenen Jahr den | |
| Einzug ins Regionalparlament verpasste; und den Metropolverbund | |
| Aix-Marseille-Provence, der mit Martine Vassal die bei den Kommunalwahlen | |
| unterlegene konservative Konkurrentin des Printemps zur Vorsitzenden hat. | |
| Die Metropole mit ihren reichen Gemeinden verfügt über deutlich mehr Geld | |
| als Marseille. | |
| Projekte wie die Verbesserung des Nahverkehrs, zum Beispiel eine bessere | |
| Anbindung der Cités, blockiert man dort. Marseille besitzt gerade mal zwei | |
| Metro- und drei Tramlinien – der Rest steckt im Straßenverkehr und in | |
| Bussen fest. Die anderen grünen Städte hätten es leichter, sagt Rubirola, | |
| „wir haben die Metropole gegen uns.“ Und die hat das Sagen beim Müll, beim | |
| Verkehr und beim Bauen. Im vergangenen Herbst hatten wochenlange Streiks | |
| der Müllabfuhr Marseille Berge an Müllsäcken auf den Straßen beschert. | |
| ## Keine gemeinsame Stimme, aber ein Programm | |
| Michel Peraldi, emeritierter Anthropologe und Autor mehrerer Bücher über | |
| Marseille, keines davon ins Deutsche übersetzt, bezweifelt nicht, dass es | |
| dem Printemps ernst ist mit seinen Vorhaben. „Aber ich frage mich, ob es | |
| ihnen gelingt, die Mittel dafür zu mobilisieren.“ Die Mittel sind Geld, das | |
| fehlt, Geduld, die – noch – vorhanden ist, und ein Kampfgeist, der durch | |
| jahrelange Ignoranz und Misswirtschaft geschult und gestärkt worden ist. | |
| „Manchmal knallt es, manchmal passt es“, sagt Péraldi, über den Printemps. | |
| Ob denn die beachtliche Anzahl der Initiativen, die weiterhin aktiv sind, | |
| ihr großer Kollektivgeist etwas Marseille-Spezifisches hat? Péraldi glaubt: | |
| „Ja schon. Es gibt eine enorme Energie.“ | |
| Die Stadt ist stark segmentiert: reich der Süden, arm der Norden, sozial | |
| gemischt die Innenstadt. Das kann eine explosive Mischung sein. Vom | |
| Präsidentschaftswahlkampf ist auf den Straßen wenig zu bemerken. „Die Leute | |
| sind erschöpft von der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine“, sagt Michèle | |
| Rubirola. Traditionell ist die Wahlenthaltung in Marseille hoch. Macron | |
| hatte die Eröffnung seines Wahlkampfauftritts in Marseille abgesagt; er | |
| punktet lieber mit Putin-Diplomatie. | |
| Mélenchons Veranstaltung am Strand vergangenen Sonntag war nicht rasend gut | |
| besucht. Die politischen Sympathien der Leute vom Printemps Marseillais | |
| sind so verschieden wie ihre politische Herkunft oder Zugehörigkeit. „Wir | |
| sprechen nicht mit einer Stimme“, sagt Felix Blanc, „aber wir arbeiten am | |
| gleichen Programm.“ So wird jeder von ihnen am 10. April jemand anderen | |
| wählen: auf einen gemeinsamen Kandidaten konnte sich die nationale Linke | |
| nicht einigen. Auf lokaler Ebene könnte es für eine Zeit lang klappen. | |
| Einen Text über Marseille zu schreiben, ohne auf den Fussball und den | |
| Olympique Marseille zu sprechen zu kommen, geht nicht, hat ein Freund | |
| gesagt. Doch: geht. | |
| 2 Apr 2022 | |
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| [1] https://www.lamarseillaise.fr | |
| [2] https://musees.marseille.fr/presentation-du-memorial-de-la-marseillaise | |
| [3] https://www.citypopulation.de/de/france/marseille/ | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Seifert | |
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