# taz.de -- Andere Form von Tourismus in Marseille: Unsere Hood | |
> Flanieren kann man woanders. In Marseille zeigen Mitglieder einer | |
> Kooperative bei Touren die Kultur und Natur in den rauen Vierteln der | |
> Stadt. | |
Bild: Die nördlichen Stadtviertel, die Quartiers nord, gelten als Problemzonen | |
MARSEILLE taz | Marseille ist keine Stadt, in der es sich ruhig flanieren | |
lässt; zu bergig, zu viel Müll, zu windig, zu wimmelig. Aber immer findet | |
sich ein Plätzchen, um sich für einen Kaffee niederzulassen, eine Straße, | |
die plötzlich den Blick aufs Meer oder die Berge freigibt. | |
[1][Marseilles Innenleben ist rau], die Innenstadt hat dank | |
jahrzehntelanger Misswirtschaft, Leerstand und Immobilienspekulation eine | |
marode Bausubstanz. Als vor mehr als drei Jahren [2][im Stadtteil Noailles | |
drei Häuser einstürzten], starben acht Menschen. In jenem November 2018 | |
lebten die „Wutmärsche“ wieder auf, die Menschen besannen sich auf eine | |
andere Form des sich Bewegens durch die Stadt, und auf eine alte Form des | |
Protests, die in Marseille Tradition hat: das Marschieren. | |
Im Französischen bewahrt das Wort marcher einerseits das eher | |
militaristische Marschieren des Soldatenbataillons, das 1792 von Marseille | |
nach Paris zog und das Lied der Revolution, La Marseillaise, durchs Land | |
trug, heute die Nationalhymne. Das Marschieren taucht auch bei der von | |
Präsident Emmanuel Macron gegründeten Bewegung „La République en marche“ | |
auf, die vorgab, etwas in Bewegung setzen zu wollen. Es meint aber auch | |
schlicht: laufen, gehen, und mit „Les Excursionistes“, 1897 gegründet, | |
besitzt Marseille den ältesten Wanderklub Frankreichs. | |
1983 waren es dann die Beurs, die zweite Generation der Immigranten aus dem | |
Maghreb, die in Marseille den „Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus“ | |
initiierten. Viele kamen aus dem Norden Marseilles, wo in den 1960er Jahren | |
Hochhaussiedlungen für die Arbeitskräfte aus den Ex-Kolonien entstanden | |
waren. | |
## Die Quartiers nord | |
Heute sind Cités wie La Castellane, Le Castellas oder Les Aygalades | |
Hochburgen des Drogenhandels. Die Quartiers nord sind abgehängt, abgewertet | |
und durch falsche Stadtplanung und fehlende Verkehrsanbindungen abgestraft. | |
Doch wer meint, in den Norden Marseilles könne man keinen Fuß setzen, der | |
irrt. | |
2011 gründete sich die Kooperative [3][Hôtel du Nord]. Dahinter steht die | |
Idee, das kulturelle und historische Erbe der Quartiers nord zu vermitteln. | |
Denn im 13., 14., 15. und 16. Arrondissement gibt es nicht nur die Cités | |
mit all ihren sozialen und ökonomischen Problemen, sondern auch | |
Einsprengsel alter Fischerdörfer, kleinbürgerliche Wohngegenden, | |
Handwerkerviertel, Siedlungshäuser, Industrieruinen und -brachen. | |
Der Kooperative geht es um eine Wiederaneignung des Territoriums, der | |
eigenen Geschichte – und darum, den dort lebenden Menschen eine Stimme zu | |
geben. Die Mitglieder organisieren thematische Führungen, vertreiben lokale | |
Produkte wie Seife oder Honig. „Wir sind weder ein Hotel noch ein Museum“, | |
versucht Julie de Muer, eine der Gründerinnen, den Charakter der | |
Kooperative zu erklären. Doch auch wer nur eine Übernachtungsmöglichkeit | |
sucht, wird auf ihrer Webseite fündig. | |
Julie de Muer sitzt an einem Märzabend in der Küche ihrer Mutter im Viertel | |
L’Estaque, einem von italienischen Einwanderern geprägten Vorort am Meer im | |
Norden Marseilles. In L’Estaque mietete sich Ende des 19. Jahrhunderts der | |
Maler Paul Cézanne ein, als es noch ein Fischerdorf war, hier entstanden | |
Anfang des 20. Jahrhunderts viele Ziegeleien und nach dem Krieg zog ein | |
petrochemisches Werk die ganze Gegend in Mitleidenschaft. In Verduron, rund | |
einhundert Meter den Hang hoch, wurden um die Jahrtausendwende bei | |
Ausgrabungsarbeiten Überreste eines auf einem Felsvorsprung erbauten | |
gallischen Dorfes gefunden. | |
## Teilhabe und Austausch | |
Die Gallier waren bekanntlich schlau: Von hier aus hat man einen | |
großartigen Blick auf den Hafen Marseilles, die zurückgekehrten | |
Kreuzfahrtschiffe, die Hochhausriegel der Cités, die im Dunstschleier sich | |
erhebenden Berge über dem Meer. | |
Im Jahr [4][2013 wurde Marseille Europäische Kulturhauptstadt]. Damals | |
flossen Mittel in kulturelle Großprojekte [5][wie das Mucem], das Museum | |
der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers, das in das alte Fort | |
Saint-Jean am Hafen hineingebaut wurde; das Viertel Panier wurde | |
aufgehübscht. | |
Damals entstand auch der GR 2013, ein Fernwander- oder Rundweg, der durch | |
Marseille und zahlreiche Kommunen der Provence führt. Er verbindet Stadt | |
und Land, Beton und Natur, Meer, Hafen und Industrieruinen, Bäche, | |
Müllhalden und Kiesgruben. | |
„Ohne die Planungen für die Kulturhauptstadt wäre alles nicht so schnell in | |
Gang gekommen“, sagt Julie de Muer. „Das gab uns die Möglichkeit, unser | |
Konzept an den Tourismus zu koppeln.“ Die Touren, die Hôtel du Nord | |
organisiert, finden sich wie die [6][Bureau de Guides] für den GR 2013 auf | |
der offiziellen Tourismusseite von Marseille wieder, manche werden auf | |
Englisch angeboten. | |
Marschieren, gehen, laufen, die eigene Umgebung erkunden, sich die | |
Geschichte wieder aneignen: Darum geht es Hôtel du Nord, aber auch den | |
assoziierten Künstlerkollektiven, Stadtteilgruppen, die es leid waren, dass | |
ihnen ihre Stadt schlicht nicht gehört. Sie erobern sie sich zurück, | |
erkunden sie Meter für Meter, Stein für Stein. Und wer von auswärts zu | |
Besuch ist, darf mit ihnen mit – laufen, marschieren. Ein touristisches | |
Konzept, das auf Teilhabe, auf Austausch und nicht auf Konsum oder | |
Einseitigkeit beruht. Und das Schöne ist: Sie machen es für sich. | |
## Die „Künstler-Wanderer“ | |
An einem sonnigen Samstagmorgen Ende März treffen sich etwa 25 Menschen auf | |
dem Gelände einer ehemaligen Seifenfabrik, die heute der freien Szene | |
Ateliers und Probestätten bietet. Auch Projekte mit den Kids aus der nahen | |
Cité Les Aygalades finden hier statt, ein auf die Seite gekippter Bus ragt | |
als Monument in die Luft. | |
Stéphane Brisset und Dalila Ladjal [7][vom Künstlerkollektiv S]afi gehören | |
zu „Artistes-Marcheurs“, den „Künstler-Wanderern“, die den Rundweg des… | |
2013 mitkonzipiert haben. Sie begrüßen die Gruppe, zu der an diesem Tag | |
mehr Einheimische als Auswärtige zählen. Sie erweitern das Konzept des | |
Laufens um die Dimensionen: schmecken, hören, riechen, forschen. Jeder | |
bekommt ein Heftchen in die Hand gedrückt, in dem man während der Exkursion | |
Blüten und Pollen sammeln kann. | |
Pollen verbinden Pflanzen- und Tierwelt, und die Exkursion verbindet das | |
Schöne mit dem Nützlichen: Im Rahmen des [8][von der EU geförderten | |
Life-Programms] wird die Gruppe ein ausgewiesenes Biosphärengebiet | |
ablaufen, seine Bodenbeschaffenheit und Pflanzenvielfalt prüfen. Stéphane | |
Brisset breitet auf dem Boden eine Karte aus, in die er Notizen eintragen | |
kann. Sein Handwerkszeug trägt er in einem hölzernen Koffer auf dem Rücken. | |
Die heutige Tour führt durch felsiges Terrain an einem Wasserfall des | |
Flusses Aygalades vorbei zum Kanal von Marseille, der die Stadt mit | |
Trinkwasser versorgt. Als er im 19. Jahrhundert angelegt wurde, überließ | |
man den Fluss der Industrie mit ihren Abfällen und Giften. Erst seitdem die | |
industrielle Produktion eingestellt oder verlagert worden ist, erobert sich | |
die Natur Terrain zurück. „In Paris spürt man den Bezug zur Natur nicht“, | |
erzählt Dalila Djabal im Gehen. Das sei in Marseille anders. Hier seien | |
Wind, Wasser, Berge und sich wild aussäende Pflanzen stets präsent. | |
Was man auf der Tour durch den Norden noch entdeckt: eine | |
Gartenlaubenkolonie der ehemaligen Eisenbahner, einen Steinbruch, | |
Heidelandschaft, einen Bürgerpark gegenüber der Cité Les Aygalades, Ende | |
März grün und nicht sonnengebleicht. | |
Die Cité liegt scheintot da. Die soziale Distanz zu überbrücken, wird nicht | |
einfach sein. Wo die Schulen schlecht ausgestattet sind, Armut, | |
Arbeitslosigkeit und Kriminalität den Alltag bestimmen, steht den meisten | |
nicht der Sinn nach Exkursionen, Spaziergängen. Doch wenn es darum geht, | |
die Umgebung zu verschönern, Flächen oder Ecken zu säubern, dann beteiligen | |
sich auch Bewohner:innen der Cités. | |
Seit sie bei Hôtel du Nord aktiv sei, habe sie ein sozial viel gemischteres | |
Umfeld, sagt Julie de Muer, und man glaubt ihr, dass sie es als Gewinn | |
empfindet. „Früher dachten wir, man muss in die Cités hineingehen, um etwas | |
zu bewirken. Aber es hat sich gezeigt, dass es viel besser ist, wenn die | |
Bewohner:innen herauskommen und sich den Zwängen des Lebens in der Cité | |
entziehen können.“ Oft sind es Frauen und Kinder. | |
Das Laufen ist eine Kulturtechnik der Armen, schreibt die einstige | |
Stadtkonservatorin Christine Breton, die daraus eine Soziologie des | |
Spaziergangs, das Konzept der Gastfreundschaft und der „Geschichtenfabrik“ | |
entwickelt hat, Ideen, die bei Hôtel du Nord eingeflossen sind. Kulturerbe | |
als lebendige Geschichte, als Wechselbeziehung zwischen den Menschen, die | |
dort leben, und denen, die zu Besuch kommen. | |
Hôtel du Nord hat [9][die Faro-Konvention des Europarats] unterzeichnet, | |
die jedem das Recht zuspricht, am Kultur- und Naturerbe teilzuhaben und es | |
auf seine Weise zu erforschen. Dann ist nicht mehr nur die Frage: Wem | |
gehört die Stadt? Sondern: Wer läuft mit? | |
12 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Linke-in-Frankreich-vor-der-Wahl/!5419540 | |
[2] /Wahlen-in-Frankreich/!5842954 | |
[3] https://www.hoteldunord.coop | |
[4] /Marseille-baut-um/!5499271 | |
[5] https://www.mucem.org/en | |
[6] https://bureaudesguides-gr2013.fr/en/home/ | |
[7] https://collectifsafi.com/nous/ | |
[8] https://ec.europa.eu/growth/industry/strategy/hydrogen/funding-guide/eu-pro… | |
[9] https://rm.coe.int/die-faro-konvention-neue-wege-fur-das-kulturerbe/1680a1e… | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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