# taz.de -- Wahlen in Frankreich: Endlich Frühling | |
> Frankreichs Linke ist zerstritten. Anders in Marseille: Dort geht seit | |
> zwei Jahren ein Bündnis aus linken Parteien und Bürgergruppen neue Wege. | |
Bild: Der Stadteil Noailles in Marseille | |
MARSEILLE taz | Alain Paire mit seinem Lockenkopf ist schon von Weitem zu | |
erkennen. Es ist, als würde die Morgensonne seine weißblonden Haare noch | |
heller leuchten lassen. Der 72-Jährige sitzt in einem Café in der | |
Seitenstraße des Vieux Port, der aufgehübschten Hafenmeile im Zentrum von | |
Marseille. Der Wind ist kalt, es ist früh am Tag. Früher war in dieser | |
Gegend die Marseiller Presse zu Hause, übrig geblieben ist die | |
kommunistische Tageszeitung La [1][Marseillaise], für die Paire | |
gelegentlich arbeitet. „Die Kollegen sind unkompliziert und trauen sich | |
etwas“, sagt der Kulturjournalist, der früher in Aix-en-Provence eine | |
Galerie betrieben hat. Er kennt jeden, und jeder kennt ihn. | |
„Keine französische Stadt ist wie Marseille“, sagt Paire. Schon gar nicht | |
Paris, das mit seiner Innenstadt einer luxuriös verpackten | |
Pralinenschachtel gleicht und seine unappetitlichen Bestandteile in die | |
Banlieue, außerhalb des Rings, verbannt hat. Marseille hat eine sozial | |
gemischte Innenstadt, wo Wohlstand und Armut aufeinandertreffen, neben- und | |
manchmal auch miteinander existieren. Die Misswirtschaft der 25 Jahre unter | |
dem konservativen Ex-Bürgermeister Jean-Claude Gaudin hatte die Gegensätze | |
zementiert. „Man muss das soziale Gewebe vorsichtig reparieren“, sagt | |
Paire. „Im Moment gibt es Vertrauen in die Politik. Die alten Hexenmeister | |
sind verschwunden.“ Weg vom Fenster, abgewählt, nachdem am 5. November 2018 | |
im Stadtteil Noailles drei Häuser eingestürzt waren und eines acht Menschen | |
tot unter sich begraben hatte. | |
Das Unglück wirkte wie ein Katalysator. Ein Bündnis linker Parteien und | |
Bürgergruppierungen, Le Printemps Marseillais (Der Frühling von Marseille), | |
eroberte bei den Kommunalwahlen im März und Juni 2020 das Rathaus. Es hält | |
mit 51 Sitzen knapp die absolute Mehrheit im Stadtrat. Mit dabei: | |
Abgeordnete der Grünen, Kommunisten, Sozialisten und von La France | |
Insoumise. Nicht dabei: La République en Marche, die Partei von Präsident | |
Emmanuel Macron. Mit dabei: kleine und größere Bürgerinitiativen und | |
-kollektive. Nicht beteiligt: die militanten Vertreter des linken | |
Spektrums. Sie seien nicht eingeladen worden, sagen die einen; sie hätten | |
nicht gewollt, sagen die anderen. Ohne den Einsturz des Hauses in Noailles, | |
da sind sich alle sicher, wäre das Bündnis nicht zustande gekommen. | |
Gibt es bereits sichtbare Ergebnisse der neuen Stadtführung? Trotzt man in | |
Marseille der anhaltenden Uneinigkeit der französischen Linken? „Die Union | |
ist fragil“, sagt Paire, „aber im Moment hält sie.“ Der Kulturjournalist | |
steuert die Rue Thubaneau an, wo zur Zeit der Französischen Revolution der | |
Club der Jakobiner seine Debatten austrug. Der abgewählte Bürgermeister | |
Gaudin ließ hier, als Marseille 2013 Kulturhauptstadt wurde, ein Denkmal | |
für die Marseillaise einrichten. Eine [2][Multimediainstallation], die die | |
Geschichte der heutigen Nationalhymne erzählt, die nicht immer La | |
Marseillaise hieß. Sie entstand als Kampfliedlied für ein Bataillon, das | |
1792 von Marseille zur Unterstützung der Revolutionstruppen nach Paris zog. | |
Vielleicht könnte heute ebenso ein revolutionärer Funke überspringen und | |
der Printemps Marseillais seine Botschaft ins Land tragen, hofft Alain | |
Paire. Er glaubt an das rebellische Potenzial seiner Stadt. Die | |
Marseillaise wurde während der deutschen Besatzung eine Hymne des | |
Widerstands. | |
## Miethaie vermieten an Menschen ohne Papiere | |
Nahe der Börse, wo man bei der Errichtung eines hässlichen Einkaufszentrums | |
auf die Überreste des antiken Hafens von Marseille gestoßen ist, liegt das | |
Museum zur Stadtgeschichte. Es widmet der Marseillaise zurzeit eine | |
Sonderausstellung. Der Eintritt ist frei – eine Maßnahme der neuen | |
Stadtregierung. Es gibt sie also, die ersten sichtbaren Ergebnisse ihrer | |
Politik. Im Erdgeschoss ist eine neue Abteilung entstanden, ein Museum im | |
Museum, am Point Zéro, am „Nullpunkt“ der Geschichte Marseilles, die einen | |
Bogen bis zu den dramatischen Ereignissen im November 2018 schlägt. | |
Architekturstudierende haben ein Holzmodell des afrikanisch geprägten | |
Innenstadtbezirks rekonstruiert, Fotos, Videos und Audios berichten von | |
katastrophalen Wohnverhältnissen und einer erzwungenen Umquartierung und | |
Vertreibung von mindestens 2.500 Bewohner:innen des Viertels nach dem | |
Einsturz. Wer den Erfolg des Printemps Marseillais verstehen will, muss zum | |
Nullpunkt Noailles zurück. Was hier geschah, war weit mehr als der | |
Zusammenbruch eines Hauses und einer korrupten Stadtverwaltung: Es | |
traumatisierte ein höchst prekäres Viertel und eine Stadtgesellschaft, die | |
ohnehin alarmiert und bereits vielfach aktiviert war. | |
Während der Gaudin-Zeit waren zahlreiche Bürgerinitiativen entstanden wie | |
Centre Ville pour Tous (Stadtzentrum für alle), eine der ältesten, die sich | |
um die Rettung einzelner Quartiere bemühten. „Wir wurden nicht gehört“, | |
sagt Hélène Froment bei einem Treffen im Café L'Ecomotive direkt am | |
Bahnhof, einem Alternativcafé, wo es vegane Speisen und freies WLAN gibt. | |
„Das ist jetzt anders. Man hat uns im Rathaus empfangen und mit allen | |
Initiativen eine ‚charte de relogement‘ ausgearbeitet.“ Die Charta wurde … | |
Stadtrat verabschiedet; sie soll dafür sorgen, dass die evakuierten | |
Bewohner:innen nach erfolgter Sanierung in ihre Häuser oder | |
Stadtviertel zurückkehren können. „Alle haben Angst vor Gentrifizierung.“ | |
Nicht nur die Nummer 65 in der Rue d'Aubagne erwies sich als | |
einsturzgefährdet, viele andere Häuser waren es damals (und sind es bis | |
heute). Bewusster Verfall, Leerstand aus Spekulationsgründen, Abriss, | |
lukrativer Neubau, Vergabe nach Gefälligkeit: der Marseiller Klientelismus, | |
der die Ära Gaudin prägte. Sogenannte „Marchands de Sommeil“, das | |
französische Wort für Miethaie, vermieteten die baufälligen Wohnungen an | |
Menschen ohne Papiere, ohne Geld – aber nicht ohne Rückhalt. Spontan | |
entstand nach dem Einsturz das Kollektiv 5. November, hervorgegangen aus | |
anderen Initiativen, das Demonstrationen und Solidaritätsaktionen | |
organisierte. | |
## Marseille hat viele Migrationswellen erlebt | |
In der Rue d’Aubagne klafft jetzt eine Baulücke. Starker Regen hatte 2018 | |
dazu beigetragen, dass die schon vorher beanstandeten Risse die Häuser | |
regelrecht zerbröseln ließen. Weitere Häuser, die schmale Straße hoch, | |
stehen leer, verrammelte Fenster, Graffiti. Davor stehen Stühle und Tische, | |
die Anwohner rausgestellt haben, um sich zum Gespräch niederzulassen. Vor | |
dem Mahnmal mit den Opfern des 5. November hängen Jugendliche ab. Plakate | |
und beschriftete Bettlaken informieren die Vorübergehenden über den Stand | |
der Verhandlungen mit den Behörden. Die umquartierten Mieter:innen | |
wollen zurückkehren. „Die Abgeordneten reden und reden über die | |
Renovierung“, heißt es auf einem Plakat. Und spöttisch weiter: „Das ist | |
gut. Doch unter dem letzten Anstrich ist immer noch die gleiche Scheiße.“ | |
Das gesetzlich verankerte „Recht auf menschenwürdiges Wohnen“ sei bisher | |
nicht umgesetzt worden, sagt Kevin Vacher, Jahrgang 1990, Soziologe und | |
Aktivist des Kollektivs 5. November am Telefon. „Das Gesetz ist da. Es geht | |
darum, es anzuwenden.“ Für ein Treffen hat er keine Zeit, er bereitet | |
gerade die Kampagne seiner Gruppierung für die Parlamentswahlen vor, die | |
vier Wochen nach der Präsidentschaftskür stattfinden. Im Programm: ein | |
„Gesetz Rue d’Aubagne“, das Spekulation und Vertreibung vorbeugen soll. D… | |
angekündigten Maßnahmen zur Sanierung der Innenstadt ließen auf sich | |
warten, sagt Vacher noch. Seine Sympathien für die neue Stadtführung halten | |
sich hörbar in Grenzen. | |
„Es fehlt an allem in Marseille“, sagt Michèle Rubirola. Die 65-jährige | |
Politikerin weiß um die wachsende Ungeduld der Menschen. Die Grüne, deren | |
Parteimitgliedschaft derzeit ruht, war die Nummer Eins auf der Liste des | |
Printemps Marseillais. Ihrer Kandidatur als Grüne, die sich nicht um | |
Parteilinien schert und nicht aus einem großen Parteiapparat kommt, | |
verdankt der Printemps Marseillais seinen Sieg. Wenige Monate nach ihrer | |
Vereidigung als Bürgermeisterin trat sie „aus gesundheitlichen Gründen“ | |
zurück und überließ das Amt dem Sozialisten Benoît Payan, dem sie nun als | |
Stellvertreterin und erste Referentin dient. Ein abgemachter Deal, glauben | |
viele; Rubirola selbst sagt ruhig in ihrem sonnigen Amtszimmer im Rathaus: | |
„Wir haben nur die Personalie, nicht das Programm geändert. Ich stehe für | |
seine Inhalte.“ | |
Draußen am Rathaus, Blick auf den Hafen, flattern Fahnen im Wind, darunter | |
die ukrainische Flagge. Odessa ist Partnerstadt. „Wir sind ein | |
Laboratorium“, sagt Rubirola. „Wir probieren aus. Es muss funktionieren.“ | |
Das Laboratorium: Rund 870.000 Menschen leben in der zweitgrößten Stadt | |
Frankreichs, etwa zehn Prozent haben keinen französischen Pass, etwa 40 | |
Prozent Migrationshintergrund. Es gibt eine große islamische und eine nicht | |
unwesentliche jüdische Gemeinde. Rubirola selbst hat spanische und | |
italienische Großeltern. Marseille hat viele Migrationswellen erlebt; | |
Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Italiener und Armenier, in den 60er | |
Jahren, nach der Unabhängigkeit Algeriens, zogen Algerier und | |
Algerienfranzosen in die Region, letztere bis heute oft Anhänger von Marine | |
Le Pen und ihrem rechtsextremen Rassemblement National (RN), der in | |
Marseille derzeit keine Rolle spielt – ebenso wenig wie die Macronisten, | |
die hier nie Fuß gefasst haben. | |
## Eine arme Stadt in einer reichen Region | |
„Macron setzt nur auf Unternehmer, auf seine Freunde“, sagt der Marseiller | |
Anthropologe Michel Peraldi. „Seine eigenen Abgeordneten gehören nicht zur | |
Clique.“ Auch der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon von den | |
„Insoumis“ (Die Unbeugsamen) hat in Marseille seinen Wahlkreis, ohne hier | |
lokal verankert zu sein. Im Gegensatz zu Macron hat er aber eine aktive | |
Anhängerschaft, viele davon in den Kollektiven und Bürgervereinen | |
organisiert, die ihm eine Basis verschaffen. | |
Marseille ist eine arme Stadt in einer reichen Region. Etwa 25 Prozent | |
seiner [3][Bevölkerung] lebt unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit | |
liegt mit 11 Prozent höher als im Landesdurchschnitt, in den armen | |
Stadtteilen im Norden der Stadt geht sie teilweise rauf bis zu 40 Prozent. | |
Hier sitzen die Jugendlichen als Späher an den Zugängen der Cités und | |
regeln den Drogenverkehr. Sie geraten manchmal zwischen die Fronten der | |
rivalisierenden Banden, allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres hat | |
es acht Tote gegeben. Ist es da ein Trost, dass Ex-Bürgermeister Gaudin, | |
inzwischen 82 Jahre alt, Ende März zu sechs Monaten mit Bewährung | |
verurteilt wurde? Wegen Begünstigung seiner Mitarbeiter: Statt ganzer Tage | |
arbeiteten sie nur halbe, bei vollem Gehalt; zudem schrieben sie sich | |
Überstunden auf, die sie nie machten. | |
Vize-Bürgermeisterin Michèle Rubirola weiß, die Zeit rennt ihnen davon. | |
Frühling bleibt nicht ewig Frühling, der rosafarbene Blumenstrauß auf ihrem | |
Tisch muss wöchentlich ausgetauscht werden. Es sei nicht einfach, in einer | |
pluralistischen Mehrheit zu arbeiten, gibt sie zu. Es gibt die großen | |
Themen – Schulen, Wohnungen, Nahverkehr –, die angepackt werden müssen, und | |
es gibt die kleinen Dinge, die schneller umgesetzt werden können: | |
Sanierung der Schwimmbäder, Solarmodule auf Schuldächern, ein öffentlich | |
zugängliches Portal für die Vergabe von Wohnungen und Kitaplätzen mit einem | |
klaren Kriterienkatalog. Rubirola, von Beruf Ärztin, hat einen kommunalen | |
„Rat der Gesundheit“ ins Leben gerufen. Neuerdings gebe es Obst statt | |
Ricard bei Empfängen – manche belächelten das, erzählt Rubirola. Sie ist | |
überzeugt: „Die soziale Frage kann nur über die Ökologie gelöst werden.“ | |
Deswegen strecke man die Fühler aus nach anderen grün oder links regierten | |
Städte wie Grenoble, Lyon, Bordeaux oder Strassbourg. „Wir inspirieren uns | |
gegenseitig.“ | |
## Ein ethischer Code | |
Eins der grünen Vorzeigeprojekte des Printemps Marseillais ist die | |
Bewerbung Marseilles bei der EU, als eine von 100 „klimaneutralen“ Städten | |
einen Probelauf zu machen. Félix Blanc, 37, von Anfang an beim Printemps | |
dabei, arbeitet in der Abteilung, die im Rathaus die Energiewende | |
verantreiben soll. Er formuliert es etwas anders als Michèle Rubirola: „Ich | |
bin überzeugt, dass die Energiewende nur gelingen kann, wenn man die Armut | |
und das Prekariat bekämpft.“ Wie das gelingen kann? Indem man Wohnungen | |
nicht nur instandsetzt, sondern auch energetisch saniert. Damit die | |
Menschen, die darin leben, nicht unnötig hohe Stromkosten zahlen müssen, | |
sagt Blanc. | |
Blanc bekommt im Rathaus die große Verwaltungsreform aus nächster Nähe mit. | |
Abteilungen werden zusammenlegt, abgeschafft oder neue ins Leben gerufen. | |
Über 17.000 Mitarbeiter zählt die städtische Verwaltung, ebenso viele | |
suchen ihre neue Bestimmung. „Man muss sie überzeugen, fortbilden, ihnen | |
Vertrauen schenken, sie bekehren“, sagt Blanc. „Das braucht Zeit. Aber es | |
geht voran.“ Joël Canicave, Vorsitzender der Fraktion Printemps | |
Marseillais, erläutert am nächsten Tag die Umstrukturierung der Verwaltung: | |
„Wir gehen sie von oben nach unten an.“ Der Kopf der Verwaltung wurde | |
ausgetauscht, aus 14 Referaten wurden sieben, ihre Leitungen neu benannt, | |
die Mitarbeiterzahl von 80 auf 40 reduziert. | |
„Wir sind auf der Hälfte der Strecke.“ Canicave gehört wie Bürgermeister | |
Benoît Payan der Parti Socialiste an, er hat die Aufgabe, den Bürgermeister | |
im Interview zu vertreten. Er ist der Finanzbeauftragte, ein schwieriger | |
Job. 1,5 Milliarden Euro Schulden hat die Stadt von ihrer | |
Vorgängerregierung geerbt, allein zwei Millionen gehen jährlich zur | |
Rückzahlung drauf. Andere erzählen, dass nicht nur die Kassen, sondern auch | |
Schubladen und Computer geleert waren, als der Printemps Marseillais | |
antrat. | |
„Wir Abgeordneten haben uns einen ‚code de pratique‘ gegeben,“ sagt | |
Canicave, einen ethischen Code. „Und wir wenden ihn an.“ Kein Champagner | |
bei Empfängen, die Zahl und die Klasse der Dienstwagen reduzieren, | |
öffentliche Leuchtkörper gegen LEDs austauschen: Das ist unspektakulär und | |
ethisch korrekt. Canicave erklärt das klientelistische Prinzip der | |
Vorgängerregierung und warum es „so schwer ist, aus diesem Denken | |
herauszukommen“: Aufträge Wohnungen, Jobs – „man gab es ja Freunden“. | |
## Es geht voran. Langsam. | |
Im Fall des Printemps Marseillais kommt ihnen ein neuer Freund zu Hilfe: | |
Präsident Emmanuel Macron. Er verkündete im September in Marseille seinen | |
Plan Marseille-en-grand: ein Paket von insgesamt 1,5 Milliarden Euro, das | |
für mehr Sicherheit (Polizei), sanierte Schulen und verbesserten Nahverkehr | |
sorgen soll. Der Staat gibt – und kontrolliert. Ein | |
Partnerschaftsunternehmen wurde bereits gegründet. 174 Schulen sollen in | |
den nächsten vier Jahren unter ökologischen Gesichtspunkten saniert werden, | |
erklärt Canicave. | |
Er klingt stolz. „Es ist das erste Mal, dass der Staat in die Infrastruktur | |
der Schulen investiert.“ Vor allem in den Schulgebäuden der Quartiers Nord | |
mangelte es an allem: Es regnete rein, im Winter fiel die Heizung, im | |
Sommer die Kühlung aus, die Toiletten eine Zumutung. Jetzt hängt an | |
Marseiller Schulen ein Plakat der Stadt, das verkündet, welche Arbeiten | |
bereits ausgeführt worden sind. | |
Es geht voran. Langsam. Mit Widerständen, was auch an der komplizierten | |
Konstruktion der Zuständigkeiten liegt. Im Fall von Marseille gibt es drei | |
Akteure: die Stadt, in der gerade Frühling ist; die Region, das Departement | |
Bouches-des-Rhônes, wo der Printemps Marseillais im vergangenen Jahr den | |
Einzug ins Regionalparlament verpasste; und den Metropolverbund | |
Aix-Marseille-Provence, der mit Martine Vassal die bei den Kommunalwahlen | |
unterlegene konservative Konkurrentin des Printemps zur Vorsitzenden hat. | |
Die Metropole mit ihren reichen Gemeinden verfügt über deutlich mehr Geld | |
als Marseille. | |
Projekte wie die Verbesserung des Nahverkehrs, zum Beispiel eine bessere | |
Anbindung der Cités, blockiert man dort. Marseille besitzt gerade mal zwei | |
Metro- und drei Tramlinien – der Rest steckt im Straßenverkehr und in | |
Bussen fest. Die anderen grünen Städte hätten es leichter, sagt Rubirola, | |
„wir haben die Metropole gegen uns.“ Und die hat das Sagen beim Müll, beim | |
Verkehr und beim Bauen. Im vergangenen Herbst hatten wochenlange Streiks | |
der Müllabfuhr Marseille Berge an Müllsäcken auf den Straßen beschert. | |
## Keine gemeinsame Stimme, aber ein Programm | |
Michel Peraldi, emeritierter Anthropologe und Autor mehrerer Bücher über | |
Marseille, keines davon ins Deutsche übersetzt, bezweifelt nicht, dass es | |
dem Printemps ernst ist mit seinen Vorhaben. „Aber ich frage mich, ob es | |
ihnen gelingt, die Mittel dafür zu mobilisieren.“ Die Mittel sind Geld, das | |
fehlt, Geduld, die – noch – vorhanden ist, und ein Kampfgeist, der durch | |
jahrelange Ignoranz und Misswirtschaft geschult und gestärkt worden ist. | |
„Manchmal knallt es, manchmal passt es“, sagt Péraldi, über den Printemps. | |
Ob denn die beachtliche Anzahl der Initiativen, die weiterhin aktiv sind, | |
ihr großer Kollektivgeist etwas Marseille-Spezifisches hat? Péraldi glaubt: | |
„Ja schon. Es gibt eine enorme Energie.“ | |
Die Stadt ist stark segmentiert: reich der Süden, arm der Norden, sozial | |
gemischt die Innenstadt. Das kann eine explosive Mischung sein. Vom | |
Präsidentschaftswahlkampf ist auf den Straßen wenig zu bemerken. „Die Leute | |
sind erschöpft von der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine“, sagt Michèle | |
Rubirola. Traditionell ist die Wahlenthaltung in Marseille hoch. Macron | |
hatte die Eröffnung seines Wahlkampfauftritts in Marseille abgesagt; er | |
punktet lieber mit Putin-Diplomatie. | |
Mélenchons Veranstaltung am Strand vergangenen Sonntag war nicht rasend gut | |
besucht. Die politischen Sympathien der Leute vom Printemps Marseillais | |
sind so verschieden wie ihre politische Herkunft oder Zugehörigkeit. „Wir | |
sprechen nicht mit einer Stimme“, sagt Felix Blanc, „aber wir arbeiten am | |
gleichen Programm.“ So wird jeder von ihnen am 10. April jemand anderen | |
wählen: auf einen gemeinsamen Kandidaten konnte sich die nationale Linke | |
nicht einigen. Auf lokaler Ebene könnte es für eine Zeit lang klappen. | |
Einen Text über Marseille zu schreiben, ohne auf den Fussball und den | |
Olympique Marseille zu sprechen zu kommen, geht nicht, hat ein Freund | |
gesagt. Doch: geht. | |
2 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.lamarseillaise.fr | |
[2] https://musees.marseille.fr/presentation-du-memorial-de-la-marseillaise | |
[3] https://www.citypopulation.de/de/france/marseille/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Marseille | |
Linke | |
GNS | |
Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022 | |
Emmanuel Macron | |
Städte | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022 | |
Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022 | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022 | |
Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Andere Form von Tourismus in Marseille: Unsere Hood | |
Flanieren kann man woanders. In Marseille zeigen Mitglieder einer | |
Kooperative bei Touren die Kultur und Natur in den rauen Vierteln der | |
Stadt. | |
Präsidentenwahl in Frankreich: Macron muss zittern | |
In der zweiten Runde trifft der Amtsinhaber, wie 2017, auf die | |
Rechtspopulistin Marine Le Pen. Sie könnte von rechten und linken Stimmen | |
profitieren. | |
Frankreich vor der Präsidentenwahl: Aufholjagd à la Le Pen | |
Die rechtsextreme Kandidatin ist Amtsinhaber Macron dicht auf den Fersen. | |
Ihre Inszenierung als Kümmerin für sozial Benachteiligte scheint | |
anzukommen. | |
Vor den Wahlen in Frankreich: Der Netflix-Präsident | |
Am Sonntag wählt Frankreich. Vor dem ersten Wahlgang inszeniert sich | |
Favorit und Amtsinhaber Macron als smarter Bewahrer der Grande Nation. | |
Wahlen in Frankreich: Encore une fois? | |
Der amtierende Staatspräsident Emmanuel Macron ist sich seiner Wiederwahl | |
so sicher, dass er sich nicht einmal Zeit für den Wahlkampf nimmt. | |
Wahlkampf in Frankreich: Linke schöpft wieder Hoffnung | |
Jean-Luc Mélenchon ist der aussichtsreichste linke Kandidat bei den | |
Präsidentschaftswahlen. Er könnte die Stichwahl gegen Emmanuel Macron | |
erreichen. | |
Präsidentschaftswahl in Frankreich: Macron hat keine Zeit für Wahlkampf | |
Kaum Auftritte, immerhin ein Wahlprogramm: Präsident Macron stellt Pläne | |
für eine zweite Amtszeit vor, um seine Politik rechts der Mitte | |
fortzusetzen. | |
Präsidentschaftswahl in Frankreich: Elf gegen Macron | |
Insgesamt zwölf Kandidat*innen hat Frankreichs Verfassungsrat zur Wahl | |
im April zugelassen. Nur wenige haben aussichtsreiche Chancen. |