# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Frankreich: Die Rotmützen wollen die 6. R… | |
> In der bretonischen Kleinstadt Carhaix hat die Skepsis gegenüber Paris | |
> Tradition. Bürgermeister Troadec weiß das zu nutzen. Er unterstützt | |
> Hamon. | |
Bild: Die Rotmützen demonstrieren in Carhaix gegen die Einführung der Ökoste… | |
CARHAIX taz | Sie machen gerne ihre Späße mit den | |
Präsidentschaftskandidaten, hier am Ende der Welt im Finistère. „Finis | |
terrae“ tauften schon die Römer diesen Landstrich ganz im Westen | |
Frankreichs. Pierre Hervé von der Bar Cabane am Bahnhof, hat sich den | |
republikanischen Kandidaten François Fillon hinter den Tresen gehängt. Als | |
Papiermaske, im Partybedarf gekauft: „Das Gewicht der Maske entspricht der | |
Wichtigkeit Fillons. Was für eine Pappnase!“ | |
Die Konservativen und der Front National sind in der traditionell eher | |
links wählenden Bretagne weniger stark: Bei den Regionalwahlen 2015 kam der | |
Front National auf rund 18 Prozent, die Sozialisten kamen auf knapp 52. In | |
einigen Gebieten liegen die Nationalisten unter 10 Prozent – wie etwa im | |
Städtchen Carhaix-Plouguer, wo rund 8.000 Menschen leben. Dort ist der | |
Gemeinderat mit seinen 25 Mitgliedern komplett links orientiert. Und bis | |
auf vier von ihnen stehen alle auf der Parteiliste des Bürgermeisters | |
Christian Troadec. „Carhaix, eine dynamische und solidarische Stadt“ lautet | |
ihr Slogan. | |
Auf den ersten Blick ist der Ort schlicht hübsch aufgeräumt mit seinen | |
massiven, oft windschiefen Steinhäusern im winzigen Zentrum, mit den Rosen, | |
die im April blühen, und mit auffällig vielen Menschen, die nichts von | |
„déprime“ ausstrahlen, von der Deprimiertheit, die gerade ganz Frankreich | |
herunterziehen soll. | |
Carhaix spielt komplett die Regionalkarte: Alle öffentlichen Einrichtungen | |
und Straßen sind auf Französisch und Bretonisch ausgeschildert; das | |
„Diwan“-Gymnasium ist das Einzige in Frankreich, auf dem Bretonisch die | |
Hauptsprache ist. | |
## Rote Mützen als Zeichen des Protests | |
Bürgermeister Troadec, 51, der seit 2001 die Gemeinde leitet, sitzt an | |
diesem windigen Frühlingsvormittag in seinem schlichten Büro. Und stemmt | |
sich energisch dagegen, als Nationalist abgestempelt zu werden. „Es geht | |
nicht um die Vorherrschaft einer Kultur, sondern darum, eine alte | |
Kultursprache wie das Bretonische nicht sterben zu lassen.“ | |
Mit dem Front National wolle man rein gar nichts zu tun haben, der predige | |
genau das Gegenteil: Nämlich „das Primat einer Kultur und den Hass auf | |
alles, was bereichert“, ärgert sich Troadec. Und fügt hinzu: „Natürlich | |
sind wir hier Franzosen, aber wir sind eben auch sehr gerne Bretonen.“ | |
Die Bretagne war stets widerständig. Schon im Jahr 1675 haben Bauern und | |
Handwerker gegen die Stempelsteuer des Sonnenkönigs rebelliert. „Bonnets | |
rouges“ hieß die Bewegung, wegen der roten Mützen, die die Bretonen zum | |
Zeichen des Protests trugen. Die Erinnerung daran belebte Bürgermeister | |
Troadec im Jahr 2013 neu, als er zum Protest gegen die geplante Ökosteuer | |
aufrief. | |
Nicht die einzige schlechte Erfahrung der Bretonen mit der Zentralmacht. | |
Nach der Französischen Revolution 1789 wurden die Rechte der bis dahin | |
weitgehend autonom regierenden Provinz von den Jakobinern stark | |
eingeschränkt. Und bis 1951 verbot Paris das Bretonische als | |
Regionalsprache. | |
Auch wirtschaftlich hat die Bretagne, die außerhalb der Metropolen Rennes | |
und Brest zu einem Drittel auf intensive Landwirtschaft und | |
Lebensmittelproduktion setzt, seit Langem große Probleme. Im Einzugsgebiet | |
von Carhaix hat fast jeder Zehnte keine Arbeit, viele Menschen sind wenig | |
qualifiziert. „Seit 1998“, berichtet Bürgermeister Troadec, „ist rund die | |
Hälfte der einst knapp 200.000 Einwohner des Departements Finistère | |
abgewandert, in die großen französischen Städte, aber auch ins Ausland.“ | |
Viele EU-Subventionen seien in den letzten Jahren gestrichen, große | |
Fabriken wie die des norwegischen Räucherlachskonzerns Marine Harvest | |
Kritsen nahe Carhaix geschlossen worden. Ein Hoffnungsschimmer, so Troadec, | |
sei die gewachsene Zahl von Betrieben, die abseits der konventionellen | |
Massenproduktion biologisch produzieren und oft auch vor Ort absetzen. | |
Frankreich hat spät damit im größeren Stil begonnen – im Finistère setzt | |
erst jeder zehnte Hof auf Bio, Tendenz steigend. | |
## Investor aus China | |
Umstritten dagegen sind Großprojekte ausländischer Investoren – wie die am | |
Ortseingang liegende Fabrik des chinesischen Konzern Synutra. Seit | |
vergangenen Herbst werden dort rund 120.000 Tonnen Milchpulver jährlich für | |
den boomenden Babynahrungsmarkt in China produziert. Etwa 700 Bauern aus | |
der Umgebung liefern dafür 300 Millionen Liter konventionell hergestellte | |
Milch. | |
„Natürlich wäre es besser, die Bretagne hätte Kapital da drin“, sagt | |
Troadec, der mittlerweile sein Büro verlassen hat und zum Bio-Bier am | |
Tresen nahe der schmucken „Mairie“ einlädt. Wenigstens seien 300 | |
Arbeitsplätze für Menschen aus der Region entstanden. Auch in der | |
Geflügelindustrie würden dank neuer Absatzmärkte in der arabischen Welt und | |
in Südamerika weniger Jobs verloren gehen. „Ob einem diese Produktionsart | |
schmeckt oder nicht“, poltert Troadec: „Wir können hier nicht nur vom | |
Tourismus leben, denn der ist im Winter fast tot.“ Und ein einziges | |
Freiluftmuseum wolle man auch nicht sein. | |
Die Region ist naturgemäß Troadecs Thema, aber dem Mann, der so bullig | |
aussieht wie das Rind mit Hörnern im Stadtwappen von Carhaix, geht es um | |
mehr. „Paris ist weit weg – kein einziger der elf Kandidaten bei den | |
Präsidentschaftswahlen interessiert sich für eine Stärkung der 13 Regionen | |
in Frankreich.“ Troadec glaubt trotz der düsteren wirtschaftlichen | |
Prognosen fest daran, dass die Bretagne autark sein könnte, unabhängig von | |
der Zentralregierung mit der EU über Fördergelder verhandeln sollte. | |
„Wir brauchen eine sechste Republik, ein Frankreich mit Bundesländern nach | |
dem deutschen Modell, mit Verhältniswahlrecht und einem machtmäßig | |
abgespeckten Staatspräsidenten.“ Schluss müsse sein mit Ministern in Paris, | |
„die uns vorwerfen, im Agrarsektor und in der Lebensmittelproduktion nicht | |
modern genug zu sein. Und gleichzeitig kriegen wir von ihnen keine Mittel | |
und Instrumente dafür.“ | |
Troadec, der selbst bei der Präsidentschaftswahl kandidieren wollte – dafür | |
aber nicht genügend Unterschriften zusammenbekam – unterstützt heute den | |
sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon, der aus der Nähe von Brest stammt. | |
## Das größte Musikfestival Europas | |
Seit der amtierende Verteidigungsminister, der Bretone Jean-Yves Le Drian, | |
sich allerdings für Emanuel Macron ausgesprochen hat, stehe Hamon | |
„verlassen“ da. Und was ist mit dem Linken Jean-Luc Mélenchon? | |
„Méchantcon?“ fragt Troadec, lacht, und erklärt das Wortspiel. „Mechant… | |
heißt böse und „con“ – in dem Fall Depp. „Aber ein begnadeter Redner.… | |
2013 war Troadec zu Anfang einer der Wortführer der „Bonnets | |
Rouges“-Bewegung, die sich erfolgreich gegen die Einführung einer Ökosteuer | |
auf Lastwagen wehrte. „Das war zielgerichteter Widerstand. Unsere Halbinsel | |
ist verkehrstechnisch meist abgelegen. Die Steuer hätte uns doppelt | |
gestraft“, meint Troadec, der vor seinem Politikerdasein im Ort schon eine | |
Zeitung herausbrachte und eine Brauerei aufbaute. | |
Als vor 25 Jahren viele wegen wirtschaftlicher Probleme wegzogen, suchte | |
Troadec mit Freunden nach einem Weg, der Kleinstadt ein Markenzeichen | |
aufzudrücken. Sie gründeten das heute größte Musikfestival Europas „Les | |
Vieilles Charrues“ (Die Alten Pflüge). Jedes Jahr im Juli spült es eine | |
Menge Geld in den Stadtsäckel, mehr als 200.000 Besucher kommen. Deshalb | |
wählen sie ihn hier, weil er ein Macher ist. Bei der letzten Wahl erhielt | |
er über 60 Prozent der Stimmen. | |
Jean-Pierre Le Neun hat sich zum Tresen gesellt. Der studierte | |
Landwirtschaftler war 1990 einer der Ersten in der Bretagne, der mit seinem | |
Hof auf Bio umstieg. Heute bewirtschaftet er 180 Hektar Weideland für die | |
Milch- und Fleischerzeugung, liefert Bio-Hopfen an zwölf Brauereien. Seine | |
Milch wird er im Gegensatz zu den konventionell produzierenden Bauern | |
sämtlich los, „pro Tonne gibt es 425 Euro, die Kollegen kriegen 100 Euro | |
weniger und bleiben oft drauf sitzen“. Deshalb bezeichnet er die neue | |
chinesische Milchpulverfabrik von Carhaix als „einen Segen“. | |
## „Offenheit gegenüber allem Fremden“ | |
Warum nicht mehr Bauern auf Bio umstellen, versteht Le Neun nicht. Viele | |
wagten zu wenig, dabei sei die Umstellung überhaupt nicht teuer. „Wer das | |
behauptet, erzählt Märchen.“ Wegen einer Verletzung an der Hand gibt der | |
Bauer nun seinen Hof auf. Ab Dezember übernimmt ein junger Bretone, Le Neun | |
hat mit Gewinn verkauft. | |
Schräg gegenüber der Brasserie, wo Troadec und Le Neun noch schnell einen | |
Kaffee kippen, liegt ein Redaktionsbüro der Regionalzeitung Ouest-France. | |
Anaëlle Berre leitet es seit einem Jahr, sie ist nur 24 Jahre alt. Sie | |
stammt aus dem größeren Quimper, fühlt sich aber „super aufgenommen“. | |
Carhaix steht für das, was die Bretagne als historisches Einwanderungsland | |
schon früh ausgemacht hat – „eine Offenheit gegenüber allem Fremden“. A… | |
wenn das jetzt leicht pathetisch klinge: „Aber im Hinblick auf den | |
Rechtsruck in Frankreich ist das zentral.“ Mehrere syrische | |
Flüchtlingsfamilien seien im Ort untergekommen. | |
„Für uns alle hier in der Region wäre es eine absolute Katastrophe, gewänne | |
Marine Le Pen die Wahl“, meint Berre. Die Bretagne lebe von Europa, nicht | |
nur was die Subventionen angehe. So sehen das viele in Carhaix. | |
20 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Harriet Wolff | |
## TAGS | |
Bretagne | |
Jean-Luc Mélenchon | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Benoît Hamon | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Marine Le Pen | |
Recherchefonds Ausland | |
Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Bretagne | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Rassemblement National | |
Jean-Luc Mélenchon | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rechtsrutsch bei Frankreichs Rechten: Parteichef in Sarkozys Fußstapfen | |
Die Republikaner sind nach der Wahl angeschlagen. Der neue Chef Wauquiez | |
will dagegenhalten – er steht für eine bürgerliche Rechte, die „wirklich | |
rechts“ ist. | |
Die Spuren des Kommissar Dupin: Wie es im Buche steht | |
In der Bretagne wollen deutsche Touristen in die Welt des Kommissar Dupin | |
eintauchen. Die Probleme eines Reiseleiters im Schatten eines Autors. | |
Die Papierlosen von Marseille: Rausgehen wie die Franzosen | |
Noch können die Papierlosen auf eine Legalisierung ihres Aufenthalts hoffen | |
– sofern Le Pen nicht an die Macht kommt. Sicher sind sie jedoch auch jetzt | |
nicht. | |
Debatte Französischer Wahlkampf: Die Missachtung der Banlieues | |
Um die Großsiedlungen hat sich Präsident Hollande kaum gekümmert. Von den | |
FavoritInnen im Wahlkampf ist aber noch weniger zu erwarten. | |
Vor der Wahl in Frankreich: Die Stadt der leeren Gassen | |
Albi ist lebenswert, findet Florian Jourdain. Der Stadtregierung sei es | |
egal, dass das historische Herz ausblutet. Er organisiert Widerstand. | |
Philosoph über Wahl in Frankreich: „Le Pen hat keine Chance“ | |
Der französische Intellektuelle Geoffroy de Lagasnerie kritisiert, die | |
Medien stellten den Front National ins Zentrum. Er fordert einen neuen | |
Fokus. | |
Wahlkampf in Frankreich: Ein linker Held der Freiheit | |
Jean-Luc Mélenchon könnte es bis in in die Stichwahl schaffen. In Toulouse | |
versammeln sich Zehntausende bei seinem Wahlkampfauftritt. | |
Front National im Wahlkampf: Das weiße Frankreich gegen den Rest | |
Die Kandidatin des Front National, Marine Le Pen, setzt bei ihrem Auftritt | |
auf klare Feindbilder. Über Vorwürfe wegen Korruption verliert sie kein | |
Wort. | |
Präsidentschaftswahl Frankreich: Was ist Phase in Frankreich? | |
Ein Land rückt nach rechts, und die Blasenbewohner wundern sich. Wer ist | |
eigentlich dieses „Volk“, das Le Pen wählen will? |