| # taz.de -- Vor der Wahl in Frankreich: Die Stadt der leeren Gassen | |
| > Albi ist lebenswert, findet Florian Jourdain. Der Stadtregierung sei es | |
| > egal, dass das historische Herz ausblutet. Er organisiert Widerstand. | |
| Bild: Florian Jourdain kam 2013 mit seiner Familie nach Albi, um dem Großstadt… | |
| Albi taz | „Die Kathedrale zeigt, wo es langgeht“, sagt ein junger Mann, | |
| der mit seiner Mutter gemächlichen Schritts unterwegs ist. Die | |
| Bischofskirche Sainte-Cécile ist mit 78 Metern Turmhöhe und mehr als 113 | |
| Metern Länge eine der größten Backsteinkirchen der Welt und seit 2010 | |
| Unesco-Weltkulturerbe. Sie ist das Wahrzeichen von Albi – Hauptstadt des | |
| südfranzösischen Départements Tarn in der Region Okzitanien mit rund 49.000 | |
| Einwohnern. Der Platz vor dem Bauwerk ist an diesem Osterwochenende in der | |
| Hand von Touristen. Nach dem Besuch der Kathedrale strömen sie in die Rue | |
| Sainte-Cécile. | |
| Die Gasse säumen Backsteinhäuser mit bunten Fenstern, die kleine Läden | |
| beherbergen. Hinter einem Stand rotiert Fabian Lacoste zwischen einem | |
| Eiscremeautomaten und drei heißen Platten, die er mit Teig für Crêpes | |
| bestreicht. Der Familienvater ist studierter Wirtschafts- und | |
| Verwaltungsfachmann. „Aber ich habe auf meine Karriere verzichtet und bin | |
| 2004 in den Tarn gegangen. Denn ich liebe meine Region“, sagt er. | |
| Manchmal wird seine Liebe jedoch auf eine harte Probe gestellt. Dabei seien | |
| es nicht mangelnde Umsätze des ganzjährig geöffneten Familienbetriebs. | |
| Nein, Lacoste treibt etwas anderes um. „Diese Stadt, sie schläft und stirbt | |
| immer ein wenig mehr“, sagt er. Viele Albigenser, so heißen die Bewohner | |
| Albis, zögen an den Stadtrand, wo Supermärkte ohne Ende gebaut werden. | |
| „Albi blutet aus. Damit geht auch ein Stück französischer Lebensart | |
| verloren.“ | |
| Der 43-Jährige sitzt als einer von elf oppositionellen Abgeordneten für die | |
| Sozialistische Partei im Stadtparlament. Dort hat er das Thema | |
| Stadtentwicklung zu seinem Anliegen gemacht. „Ich will, dass eine andere | |
| Stimme zu hören ist. Das, was wir erleben, ist kein unausweichliches | |
| Schicksal. Aber leider stellen sich die Verantwortlichen keine Fragen. | |
| Hauptsache, es wird gebaut. Nach dem Motto: Champagner für alle. Kritischer | |
| Geist? Null!“, schimpft er. | |
| ## Es gibt nur eine Lösung: Frexit! | |
| Viereckig, Wasserfontänen in der Mitte, auf einer Seite ein Klotz aus | |
| Beton, in dem das Billigkaufhaus Eurodif untergebracht ist, ein | |
| unterirdisches Parkhaus: Bis zum Place du Vigan, dem größten Platz in Albi, | |
| schaffen es nur wenige Touristen. Die Tische der Restaurants sind | |
| größtenteils verwaist. Am Stand für den Präsidentschaftskandidaten François | |
| Asselineau von der Republikanischen Volksunion (UPR) neben einem Karussell | |
| sieht es nicht viel besser aus. | |
| Sein Programm ist so überschaubar wie sein prognostiziertes Wahlergebnis | |
| von rund einem Prozent: Raus aus der Europäischen Union und der Nato. Kurz: | |
| Frexit! Schaubilder, die an einer Leine aufgehängt sind, sollen aufklären. | |
| „Die französische und francophone Vision der Welt verteidigen“, heißt es … | |
| oder „Europa zu verändern ist nicht möglich, die EU zu verlassen schon.“ | |
| Ein Wahlkampfhelfer befestigt an der Leine noch eine Trikolore. „Die | |
| französische Politik wird von der EU definiert, die französische Diplomatie | |
| von der Nato. Das hat uns arm gemacht und muss aufhören“, sagt er. Doch die | |
| Botschaft kommt offensichtlich nicht an. Versuche, ein Flugblatt an einige | |
| der wenigen PassantInnen zu bringen, werden mit einem Kopfschütteln oder | |
| einer wegwerfenden Handbewegung quittiert. | |
| ## Ein Kandidat, der spinnt | |
| „Asselineau ist nicht ernstzunehmen“, sagt Florian Jourdain und tippt sich | |
| mit dem rechten Zeigefinger an die Stirn. Von einem Kaffeehaustisch | |
| beobachtet er das Geschehen. Jourdain trägt Jeans, Turnschuhe und eine | |
| Sweatshirtjacke mit Kapuze, die er mal auf- und mal absetzt. Ihm ist es | |
| letztlich zu verdanken, dass das Thema Stadtentwicklung in Albi überhaupt | |
| auf der Tagesordnung steht. | |
| Der 31-Jährige wuchs in einem Vorort von Paris auf und ging dann zum | |
| Geschichtsstudium in die Hauptstadt. 2013 zogen er und seine Familie nach | |
| Albi – der Kinder wegen, wie er erzählt, um dem Großstadtstress zu | |
| entfliehen und wegen bezahlbarer Mieten. Doch die Freude über das neue, so | |
| angenehme Umfeld währte nicht lange. Denn Jourdain machte beunruhigende | |
| Beobachtungen. „Traditionelle kleine Geschäfte wie Bäckereien und | |
| Schlachtereien wurden geschlossen. Stattdessen machten sich Läden mit | |
| Luxusartikeln breit, fünf Parfümerien, lauter unnütze Dinge“, erzählt | |
| Jourdain. Und nicht nur das. Auch die Zahl leerstehender Wohnungen wuchs | |
| beständig. | |
| Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlägt Jourdain einen | |
| Spaziergang durch die Rue de la Croix verte vor, die vom Place du Vigan | |
| abgeht. Obwohl es erst früher Nachmittag ist, herrscht hier Totenstille. | |
| Die maroden Frontseiten der meisten Häuser sind von heruntergelassenen | |
| Jalousien verdeckt. Schilder künden von einer „Liquidation totale“ oder | |
| weisen darauf hin, dass dieser Laden zu mieten sei. „Hier, 90 Quadratmeter | |
| für 1.400 Euro im Monat, astronomisch“, sagt Jourdain und verzieht das | |
| Gesicht. | |
| ## Ein Stadtplan voller Totenköpfe | |
| Parallel zum Niedergang des städtischen Lebens in Albi vollzog sich die | |
| Aufrüstung an der Peripherie. Erst wurden Einkaufszentren hingeklotzt, dann | |
| zogen Einrichtungen wie die Krankenversicherung nach und zuletzt immer mehr | |
| Bewohner. „Die konservativen Politiker, die hier seit Jahrzehnten regieren | |
| und den Großhandel fördern, haben uns immer weiszumachen versucht, das | |
| alles diene dem Wachstum und schaffe Arbeitsplätze. Das ist ein Mythos. | |
| Denn in Albi verschwinden Jobs und das soziale Gefüge wird zerstört“, sagt | |
| Jourdain. Unlängst veröffentlichte er auf seinem Blog eine besondere Karte | |
| Albis. Dort ist jedes geschlossene Geschäft mit einem Totenkopf | |
| gekennzeichnet. | |
| Wer sich so an die Öffentlichkeit wendet, macht sich keine Freunde. Eine | |
| Stadtabgeordnete der konservativ-zentristischen UDI, die die | |
| Bürgermeisterin stellt, schrieb auf Facebook, Jourdain sei ein Lügner und | |
| ein Gauner, der dahin wieder zurückkehren solle, wo er hergekommen sei. „Es | |
| geht ihnen nur um das Ansehen der Stadt. Der Rest ist ihnen scheißegal“, | |
| sagt Jourdain. | |
| Nein, dieser Bauwahnsinn an der Peripherie müsse aufhören, die Stadt Albi | |
| wieder belebt werden, um Menschen dazu zu bewegen, sich dort anzusiedeln. | |
| Deshalb will Jourdain weitermachen. „Es gibt keinen Respekt mehr vor den | |
| Menschen und das tut mir weh. Aber ich setze meinen Kampf dafür fort, dass | |
| dieses Plündern aufhört“, sagt er und grinst: „Neues dokumentarisches | |
| Material ist schon in Vorbereitung.“ | |
| ## Ein historischer Bauernhof steht im Weg | |
| Das dürfte Jean-Luc Dedieu freuen. Der 49-Jährige, der hauptberuflich | |
| Gefangene, Arbeitslose und Arbeiter in Hygienefragen betreut, ist Präsident | |
| des Albigenser Verbandes für eine respektvolle städtische Entwicklung, kurz | |
| AADUR. Zu dem Treffen auf dem Place du Vigan hat er außer seinem | |
| zweijährigen Sohn Anton auch seinen Schatzmeister Bernard Bognier | |
| mitgebracht. Derzeit ficht der AADUR einen Rechtsstreit aus. Dabei geht es | |
| um ein acht Hektar großes landwirtschaftliches Areal in einem Bezirk namens | |
| Renaudié, nur wenige Kilometer vom Zentrum Albis entfernt. Ein dort | |
| befindlicher Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert soll einem Baumarkt weichen. | |
| Eine erste Entscheidung des örtlichen Verwaltungsgerichts im März fiel | |
| gegen den AADUR aus. Zwar sei die Eingabe begründet gewesen. Die Erlaubnis | |
| des Bürgermeisteramts jedoch, in Renaudié Projektierungsarbeiten | |
| durchführen zu lassen, sei gesetzeskonform. | |
| „Unsere Verwaltungsgerichte neigen dazu, wirtschaftlichen Projekten den | |
| Vorzug zu geben. Dennoch war die Gerichtsentscheidung für uns ein Schlag. | |
| Aber wir sind im Kampfmodus“, sagt Jean-Luc Dedieu. Immerhin habe eine | |
| Petition des AADUR zum Bauernhof in Renaudié 1.500 Unterschriften bekommen. | |
| Jetzt überlegen sie, in die nächste Instanz zu gehen. | |
| ## „Was für ein Misstrauen!“ | |
| „Man stelle sich vor“, schaltet sich Schatzmeister Bognier ein, „es gibt | |
| bereits fünf Supermärkte in Albi mit einem Jahresumsatz von 20 Millionen | |
| Euro. Der Besitzer des neuen Markts will doppelt so viel machen. Was aber | |
| wird dann aus den anderen fünf?“ Auch er will nicht lockerlassen, | |
| wenngleich die Mobilisierung zu wünsche übrig lasse, wie er einräumt. | |
| Viele Anwohner seien Rentner, die nicht mehr die Kraft hätten, sich | |
| aufzulehnen. Noch in diesem Monat will der AADUR eine Pressekonferenz | |
| abhalten. In einem vorbereitenden Text dafür heißt es: „Die Bürgermeisterin | |
| hat den Bewohnern in Renaudié nahegelegt umzuziehen, sollten sie ihren | |
| neuen Nachbarn nicht ertragen können. Was für ein Misstrauen!“ | |
| Jean-Luc Dedieu nimmt seinen Sohn auf den Schoß. „Unser kämpferischer | |
| Nachwuchs“, sagt er und streichelt ihm über den Kopf. Der Kleine, der die | |
| ganze Zeit in seinem Wagen gezappelt hat, lacht. Aber das ist wohl eher | |
| Freude auf das Karussell, auf dem er jetzt endlich eine Runde mitfahren | |
| darf. | |
| 20 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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