# taz.de -- Die Papierlosen von Marseille: Rausgehen wie die Franzosen | |
> Noch können die Papierlosen auf eine Legalisierung ihres Aufenthalts | |
> hoffen – sofern Le Pen nicht an die Macht kommt. Sicher sind sie jedoch | |
> auch jetzt nicht. | |
Bild: Ikram Aslouni, 20, wurde noch nie kontrolliert. So wagt sie sich in die I… | |
MARSEILLE taz | Am Dienstag durchsucht die Antiterroreinheit UCLAT eine | |
Wohnung im siebten Stock des Hauses 58, Rue de Crimée in Marseille, nur | |
wenige Schritte hinter dem Bahnhof St. Charles. [1][Sie finden drei | |
Kilogramm Sprengstoff], eine Uzi Maschinenpistole, zwei halbautomatische | |
Pistolen, eine selbst gebaute Granate und eine Fahne des IS. In der Wohnung | |
leben die Franzosen Clément Baur, 24, geboren in Ermont nahe Paris und | |
Mahiedine Merabet, 30, geboren in Croix, einem Vorort von Lille. „Die | |
Verbindung zwischen Einwanderung und Terrorismus ist evident“, | |
[2][twittert] Marion Maréchal-Le Pen, Mitglied der Nationalversammlung und | |
Nichte der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen. | |
Einen halben Kilometer weiter südlich, auf der Haupteinkaufsstraße von | |
Marseille, steht zu dieser Zeit Ikram Aslouni. Um sie herum laufen | |
Touristen, die zu den sandfarbenen Hallen des alten Hafens schlendern, | |
Bettler, Straßenkehrer, in der Hand trägt sie Einkaufstaschen des | |
Textildiscounters Primark. „Der Front National vermischt alles: Islam, | |
Terrorismus und Einwanderung“, sagt Aslouni. Sie trägt aufgeklebte hellrosa | |
Fingernägel, die Sonnenbrille in den Haaren, blondierte Strähnen. „Sarkozy | |
hat auch so geredet, aber er meinte es nicht wirklich ernst“, sagt Aslouni. | |
Marine Le Pen hingegen ist es todernst damit, die Papierlosen aus dem Land | |
zu drängen. Rund eine halbe Million sollen im Land leben, die Algerier sind | |
wohl die größte Gruppe. Kein Auftritt, auf dem Kandidatin Le Pen Menschen | |
wie Aslouni nicht eine „Tragödie“ oder eine „Gefahr“ für Frankreich n… | |
und sie nach jeder Terrornachricht in die Nähe von Islamisten rückt. | |
Aslouni, 20 Jahre alt, 2015 mit einem Touristenvisum aus Oran in Algerien | |
eingereist, weiß das. Ihre Haut ist hell. Sie ist gläubig, aber sie trägt | |
kein Kopftuch. So geht sie als Französin durch. Das ist ihr Glück in dieser | |
Stadt, die voll ist mit Zivilpolizisten, auf der Suche nach den vielen | |
Immigranten aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs, die nicht hier sein | |
dürfen. Keine andere Großstadt Frankreichs ist im Straßenbild derart von | |
der Einwanderung geprägt. Kontrolliert wurde Aslouni noch nie. So wagt sie | |
sich in die Innenstadt, zum Bummeln, so wie jetzt. | |
## Ohne Vater | |
„Es ist fast unmöglich, ‚black‘ Arbeit zu finden“, sagt Aslouni. Sie | |
spricht „black“ nicht Englisch aus, sondern wie „Sack“. „Viel zu viele | |
wollen das in dieser Stadt.“ Sie hat es trotzdem geschafft. In wenigen | |
Stunden wird sie wieder in einem Sushi-Restaurant im 6. Arrondissement | |
stehen und für 4,20 Euro die Stunde Reis einrollen. | |
Aber bis dahin ist noch etwas Zeit. „Lass uns was essen gehen“, sagt sie. | |
Der City Grill Istanbul ist eine Dönerbude am Cours Belsunce, nahe dem | |
alten Hafen. Aslouni bestellt Adana Kebab, dann senkt sie die Stimme. „Das | |
ist der Chef,“ sie blickt in die Richtung eines Mannes der in der Ecke | |
neben dem Eingang steht. „Er ist böse“, sagt sie. Vor einem Jahr hat sie | |
hier gearbeitet, niemand erkennt sie heute wieder. Sie hat es nur zwei Tage | |
ausgehalten. | |
Als Aslouni fünf ist verlässt ihr Vater die Familie um in Marseille zu | |
leben. Als sie 18 ist, nach dem Abitur, besucht Aslouni ihn. Sie fahren | |
nach Paris, Freiburg, in die Schweiz. Sie sieht, wie die Frauen in Europa | |
sich kleiden, sie sieht die Innenstädte, die Restaurants. „Genial“, sagt | |
sie. | |
Als sie wieder bei der Mutter in Oran ist, ruft ihr Vater an. „Komm her“, | |
sagt er. „Ich besorg’ dir einen Platz an der Uni.“ Im September 2015 flie… | |
sie nach Marseille. | |
Aslounis Vater lebt mit einer Frau zusammen. Die will Ikram Aslouni nicht | |
bei sich im Haus. Aslouni zieht bei einer Tante ein, wartet, dass ihr Vater | |
das Visum besorgt. Doch das geschieht nicht. Bald geht er nicht mehr ans | |
Telefon. Aslouni geht zu seiner Bäckerei, er lässt sich verleugnen. | |
Irgendwann ruft seine neue Freundin die Polizei als Aslouni auftaucht. Sie | |
bricht den Kontakt ab. | |
## Ohne Maghrebiner | |
Ihr Cousin, der Sohn der Tante, wird zudringlich. Aslouni zieht aus, | |
schläft auf dem Bahnhof St. Charles. Eine Sozialarbeiterin besorgt ihr eine | |
Wohnung. Sie sucht Arbeit, mal hier, mal da, ein paar Tage im City Grill. | |
Ihr Vermieter weiß, in welcher Lage Aslouni ist. Auch er wird zudringlich. | |
Sie zieht aus. | |
„Wenn ich jetzt zurückgehe, darf ich zehn Jahre nicht mehr nach Frankreich, | |
weil ich mein Visum überzogen habe“, sagt Aslouni. | |
Die Sozialberatungsstelle hat ihr eine Krankenkassenkarte für Menschen ohne | |
Aufenthaltsrecht ausgestellt. Sie kann damit zum Arzt, zur Apotheke. | |
„Trotzdem ist es schrecklich, illegal zu sein“, sagt Aslouni. „Wenn ich | |
nicht arbeiten kann, habe ich nichts.“ Nie schwarzfahren, keine Discos, | |
keine Ort, wo viele Maghrebiner sind. Nur halb so viel Geld verdienen, wie | |
die Kollegen mit Arbeitserlaubnis. | |
Aslouni nimmt sich einen Anwalt, der dabei helfen soll, ihren Aufenthalt zu | |
legalisieren. „Er sagt, es ist jetzt noch zu früh.“ Je länger man im Land | |
lebt, desto besser sind die Chancen. Drei Jahre, mindestens, sagt der | |
Anwalt. Ende 2018 vielleicht. | |
„Ein illegaler Ausländer darf niemals ein Aufenthaltsrecht bekommen“, steht | |
[3][auf der Timeline] von Marine Le Pen. Ihr Konkurrent, der Linke Jean Luc | |
Mélenchon, wolle „die ganze Welt nach Frankreich lassen“. Sie werde dies | |
niemals tun. | |
Das macht ihr Angst, sagt Aslouni, Le Pen hasst die Algerier, glaubt sie. | |
## Ohne Arbeit | |
Am nächsten Tag kommt Marine Le Pen nach Marseille. Es ist ihr vorletzter | |
Auftritt vor der Wahl am Sonntag. „Ganze Stadtteile werden hier für uns | |
fremde Bereiche. Die Werte unserer Zivilisation sind hier in Frage | |
gestellt“, wird sie sagen. | |
Noailles ist ein Viertel im Nordosten der Innenstadt. Auf den Straßen sind | |
Obdachlose, viele Afrikaner, besetzte Häuser. In einem lebt Malik B., 37, | |
aus Mostaganem, einer Küstenstadt im Westen Algeriens. Jetzt sitzt er am | |
Cours Julien vor einer Bar, der Wind beugt die Zypressen auf dem | |
Spielplatz. Malik B.s Haut ist dunkel. Er meidet die Innenstadt. Sein | |
Nachname soll nicht genannt werden. | |
In Algerien hat er Motorräder repariert, acht Jahre auf dem Bau Lkw | |
gefahren, von Samstag bis Donnerstag. Am Ende des Monats gab es 150 Euro; | |
eine Frau fand Malik so nicht. Ein Bruder und ein Freund waren Jahre zuvor | |
nach Marseille gezogen. Einer sang arabische Raï-Lieder auf Hochzeiten, der | |
andere fand Arbeit als Mechaniker. Wenn sie zu Besuch kamen, brachten sie | |
Malik B. Turnschuhe, teures Rasierwasser, manchmal auch einen Anzug mit. | |
„Was tust du hier noch“, fragten sie. „Hier gibt es doch nichts.“ | |
Im September 2015 bekam er ein Touristenvisum. „Das Ticket war im Angebot, | |
20.000 algerische Dinar, 170 Euro, ich musste Hin- und Rückflug buchen“, | |
sagt B. 700 Euro hatte er in der Tasche, nach sechs Wochen war das Geld | |
weg. Der erste Chef war ein Choleriker, sagt B. Der zweite ließ ihn Fliesen | |
legen 14 Stunden am Tag für 30 Euro. Am Anfang gab er den Arbeitern Cola | |
aus. Dann zahlte er seltener, später gar nicht mehr. | |
Jede Arbeit, die ein papierloser Migrant bekommt, ist eine weniger für die | |
französischen Arbeiter, sagt Marine Le Pen. | |
## Ohne Familie | |
„Ich habe ihn angerufen, irgendwann war die Nummer tot“, sagt B. Dann sah | |
er ihn, mit einem neuen Audi A1. „10.000 Euro kostet der“, sagt B., Seine | |
Rechnung aber beglich der Chef nie. B. saß auf der Straße, hatte nichts zu | |
essen, vor einem Jahr zog er in das besetzte Haus. Hin und wieder hilft er | |
bei Umzügen. | |
Die Grenzpolizei schickt Zivilstreifen durch Marseille. Am 13. Februar war | |
Malik B. auf der Einkaufsstraße Canebière unterwegs. „Ich habe es ihnen | |
schon von Weitem angesehen.“ Die Polizisten wollten seinen Ausweis, drei | |
Tage kam er in Gewahrsam. „Ich habe geweint“, sagt B. 500 Euro kostete der | |
Anwalt, 700 Euro das Bußgeld. Die Leute aus dem besetzten Haus zahlten für | |
B. Er kam frei, stellte einen Asylantrag. Der wurde sofort abgewiesen. | |
Jeden Tag könnte er abgeschoben werden. „Man hat nie seine Ruhe“, sagt er. | |
„Wenn ich Aufenthalt bekäme, würde ich wie die Franzosen einfach so | |
herumlaufen“, sagt er. | |
Sein Vater sagt: Komm zurück. Er sagt: Was soll ich da? | |
„Von Le Pen habe ich schon in Algerien in der Zeitung gelesen“, sagt Malik | |
B. Er hat Angst, dass sie die Gesetze ändert, noch mehr Polizei schickt, | |
das Haus räumen lässt, in dem er lebt. | |
„Wenn ich Aufenthalt bekäme, würde ich sofort Arbeit finden“, sagt er. Da… | |
könnte er eine Familie gründen. „Stell dir vor, ein Mann in meinem Alter, | |
ohne Familie, das ist schlimm. Ich könnte heute mit meinem Baby spielen. | |
Aber das ist nur ein Traum.“ | |
23 Apr 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Festnahmen-in-Frankreich/!5402474 | |
[2] https://twitter.com/marion_m_le_pen | |
[3] https://www.facebook.com/MarineLePen | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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