# taz.de -- Kolonialgeschichte: Der Ursprung unseres Reichtums | |
> Europäische Meistererzählungen und das koloniale Erbe: der neue | |
> Nationalismus und was in seinem Schatten glatt vergessen wird | |
Bild: Aufständische Herero 1904: von den Deutschen gehängt | |
Europa befindet sich in einem Zustand erregter Verunsicherung. | |
Jahrzehntelange Gewissheiten werden zunehmend infrage gestellt. So hat sich | |
etwa Großbritannien in einem Referendum für den Austritt aus der EU, den | |
„Brexit“, entschieden. In den Niederlanden trieb Geert Wilders die | |
etablierten politischen Kräfte erfolgreich vor sich her nach rechts. Und in | |
den französischen Präsidentschaftswahlen kann Marine Le Pen im ersten | |
Wahlgang vielleicht sogar die meisten Stimmen auf sich vereinen, wenn sie | |
sich wohl auch (noch) nicht in der Stichwahl durchsetzen mag. In Polen und | |
Ungarn drohen autoritäre Bewegungen den Staat zu vereinnahmen. | |
Welchen Weg Deutschland nehmen wird, ist noch nicht absehbar: Der Auftrieb | |
der neuen Rechten scheint hier vorerst etwas abgeschwächt, die | |
jahrzehntelange Vergangenheitsaufarbeitung doch einen gewissen Schutz vor | |
allzu offen rassistischen und xenophoben politischen Positionen zu bieten. | |
Fast überall war in den letzten Monaten eine nationalistische, | |
populistische Rechte im Aufwind, die allerorten den Diskurs vom | |
Weltoffenen, Kosmopolitischen zum Nationalistischen verschob und | |
mancherorten immer noch verschiebt.Die Gründe dafür sind vielfältig, | |
wurzeln in nationalen Politiken des Neoliberalismus ebenso wie in den | |
Auswirklungen der Globalisierung. Abschottung, Abkoppelung, nationale | |
Alleingänge scheinen einen Ausweg zu versprechen aus den Komplikationen der | |
verflochtenen und immer schneller werdenden Welt. | |
## Neues soll zurückgedreht werden | |
Diese globalisierte und verbundene Welt wird als neu wahrgenommen, als | |
Entwicklung, die es zurückzudrehen gilt. Das versprechen zumindest | |
Populisten aller Couleur, die eine Vergangenheit beschwören, die diese | |
Verflochtenheit und gegenseitige Abhängigkeit angeblich nicht kannte, in | |
der der menschliche Erfahrungsrahmen lokal war, in welcher die eigene | |
Bezugsgruppe aus sich heraus und in Selbstgenügsamkeit ihre Geschicke | |
lenkte, zum Wohle aller, die dazugehören. | |
Diese Fokussierung auf die regionale oder nationale Geschichte geht einher | |
mit dem Wiederauferstehen heroischer Geschichtsnarrative, welche allen | |
Wohlstand, alle „Errungenschaften“ aus sich selbst heraus erklären, zur | |
eigenen „Leistung“ machen und so die eigene Auserwähltheit bestätigen. Im | |
Gegenzug legen nicht eigene Taten oder Versäumnisse den Grundstock für die | |
Verflechtung der globalisierten Gegenwart, sondern externe Entwicklungen. | |
Die Flucht in die Vergangenheit ist auch eine Flucht aus der Vergangenheit. | |
Diese Entwicklung läuft synchron zur alltäglichen Erfahrung gesteigerter | |
und von vielen als bedrohlich wahrgenommener Internationalisierung, für die | |
die Europäische Union, geflüchtete Menschen oder aber allgemein die | |
Globalisierung stehen. Die eigene historische Leistung wird beschworen, | |
positiv abgesetzt von der anderer. Der eigene Wohlstand wird als | |
vollständig aus eigener Leistung stammend behauptet, was zugleich die | |
Schuld am Ausbleiben eben dieses Wohlstandes einseitig und ausschließlich | |
den Menschen aus ärmeren Regionen zuschreibt, von denen einige den | |
gefährlichen Weg nach Europa suchten. Letztere und die Gesellschaften, aus | |
denen sie stammen, sind in dieser Lesart selbst schuld an ihrem Elend. Ein | |
Anspruch auf Solidarität oder Hilfe besteht nicht. | |
## Europa grenzt sich ab | |
Europa wird im Zeichen der Europakritik essenzialisiert, sein Wohlstand als | |
aus sich selbst gewachsen präsentiert, als Beleg für die inhärente | |
Leistungsfähigkeit und Überlegenheit. So entsteht ein Geschichtsbild von | |
der europäischen Überlegenheit, das sich wahlweise auf wirtschaftliche | |
Leistungsfähigkeit oder europäische Werte beruft, um sich vom | |
nicht-europäisch Anderen abzugrenzen. Im Namen der Illiberalität wird die | |
Aufklärung beschworen, Frauenrechte im Namen eines neochristlichen | |
Fundamentalismus gegen den Islam ins Feld geführt. | |
Dabei wird völlig verschwiegen, worauf der Reichtum Europas basiert, wie er | |
erworben wurde, und auf welcher (materiellen) Grundlage die | |
geistesgeschichtlichen Leistungen der Aufklärung, der Kodifizierung von | |
Menschenrechten oder die Frauenemanzipation eigentlich entwickelt wurden. | |
Von der europäischen Expansion, die in einem sechshundertjährigen Prozess | |
weite Teile der Welt unterwarf, bleibt dabei nur das auf dem Rücken von | |
Ausbeutung und Versklavung geschaffene Europa im Bild, nicht aber das Leid | |
und die Leistung derer, welche die Kärrnerarbeit dafür leisteten. | |
## Europas Krise ist eine Krise der Geschichtsbilder | |
Die Krise des liberalen Europa ist auch eine Krise der Geschichtsbilder. | |
Nun rächt sich, dass in praktisch allen europäischen Ländern, die nahezu | |
allesamt aktiv am kolonialen Projekt beteiligt waren, die Beteiligung am | |
Kolonialismus, seine Folgen für die Kolonisierten und sein Nutzen für die | |
Kolonisierenden niemals aufgearbeitet wurde. Europa diskutierte – und das | |
völlig zu Recht – über die Verbrechen des Faschismus und des Dritten | |
Reiches, über die Teilung des Kontinents im Kalten Krieg und die Bedeutung | |
der sowjetischen Hegemonie für Osteuropa. Über die gleichzeitige | |
Dekolonisation weiter Teile der Erde und vor allem die jahrhundertelange | |
Geschichte dieser Kolonialreiche bis zu diesem Zeitpunkt wurde geschwiegen. | |
Allenfalls hielt sich eine nostalgische Verklärung des Abenteuerlichen und | |
Exotischen. | |
Die Millionen Toten der Teilung des indischen Subkontinents 1947 wurde | |
ebenso wenig thematisiert wie die Opfer der Mau-Mau-Bewegung im britischen | |
Kenia, die Brutalität der indonesischen Unabhängigkeit oder die Schrecken | |
des Algerienkrieges; zumindest was das offizielle Erinnern in den | |
Kolonialmächten angeht. Noch im Frühjahr 2017 musste sich der französische | |
Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron erhebliche Kritik seiner | |
konservativen Gegner anhören, weil er bei einem Algerienbesuch darauf | |
hinwies, dass die französische Armee „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ | |
begangen habe. Er würde unpatriotisch handeln und sich nur die Stimmen | |
algerischer Einwanderer erschleichen wollen, hieß es. | |
Dass dies umgekehrt auch für die Ablehnung der längst historisch bewiesenen | |
Tatsachen gälte, mithin es Marine Le Pen und François Fillon um die Stimmen | |
der Pieds-Noirs ging, wurde nicht erwähnt. Auch dass in London Planungen | |
für Handelsabkommen nach dem erfolgten Brexit unter dem Schlagwort „Empire | |
2.0“, also dem Relaunch einer alten Idee firmieren, gehört in diesen | |
Kontext. Schon die Auseinandersetzungen über den EU-Austritt standen unter | |
dem Zeichen imperialer Nostalgie. | |
## Befreit von den Zwängen der EU | |
Nur so lassen sich die Hinweise auf die globalen Handelsverbindungen | |
erklären, die man nun, befreit von den Zwängen der EU, spinnen würde. Als | |
habe das Empire in der Form des Commonwealth nur darauf gewartet, dass | |
Großbritannien wieder in seine angestammte Rolle am Ruder des | |
Staatenverbandes zurückkehre. Dass das Vereinigte Königreich das Empire | |
nicht freiwillig verlassen hatte, wurde dabei geflissentlich ebenso | |
übersehen wie die unterschiedliche Bewertung der kolonialen | |
„Errungenschaften“ aus der Sicht der ehedem Kolonisierten. | |
Im diskursiven Abwehrkampf gegen die Globalisierung wird von den Demagogen | |
auf ein Geschichtsbild zurückgegriffen, das längst obsolet ist und von der | |
Wirklichkeit überholt wurde. Es ist ein Geschichtsbild, in dem die | |
postkoloniale Dekolonialisierung nicht stattgefunden hat, in dem die | |
Globalisierung abgekoppelt ist von der sechshundertjährigen Geschichte des | |
europäischen Kolonialismus. | |
Wenn man diesen Kolonialismus adäquat in die Identitätserzählung einbaut, | |
wird die Meistererzählung von der europäischen Leistungsfähigkeit ergänzt | |
und relativiert um eine der Ausbeutung und der gewaltsamen | |
Ressourcenallokation im globalen Norden. Aus der Globalisierung als neuer | |
Entwicklung, welche die Idylle der „Heimat“ und den Wohlstand der im | |
globalen Norden lebenden Menschen gefährdet, wird dann das vorläufige | |
Schlusskapitel einer Entwicklung, welche die Europäer primär selbst zu | |
verantworten hatten. | |
Der Autor des Textes, Jürgen Zimmerer, ist Professor für Globalgeschichte | |
mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg und Leiter der | |
Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die (frühe) | |
Globalisierung“. Er wird am 11. April beim [1][taz.salon „Wie umgehen mit | |
der Kolonialgeschichte“ in Hamburg] auf dem Podium sitzen. | |
Dieser Text von Zimmerer ist Teil des Schwerpunktes „Payback-Time“ zum | |
Umgang mit dem kolonialen Erbe. Mehr in der taz.am wochenende oder | |
[2][hier]. | |
7 Apr 2017 | |
## LINKS | |
[1] /tazsalon-Hamburg-am-114-Di/!164014/ | |
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## AUTOREN | |
jürgen Zimmerer | |
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