# taz.de -- Debatte Britischer Kolonialismus: Sehnsucht nach dem Empire | |
> In Großbritannien streitet man über die Bedeutung des Kolonialismus: | |
> Vorbild für erfolgreiche Entwicklungshilfe oder rassistische Ausbeutung? | |
Bild: Der Bau der ersten Eisenbahnstrecke in Kenia geht auf die Briten im 19. J… | |
Endlich sagt es mal einer: Das Vereinigte Königreich kann auf seine | |
Kolonialgeschichte stolz sein! Ostafrika etwa bekam eine eigene Eisenbahn, | |
und in Mombasa, heute Dreh- und Angelpunkt der kenianischen Wirtschaft, | |
wurden die schäbigen Fischerhütten durch einen ordentlichen Hafen ersetzt. | |
Schon möglich, dass dabei einige Menschen zu Tode kamen – aber so ist das | |
nun einmal mit einem Empire: es geht ums Große, nicht um den Einzelnen. | |
Darauf müsse man endlich wieder stolz sein können – meint zumindest der | |
Oxforder Theologieprofessor Nigel Biggar im britischen Sunday Telegraph. | |
Und er kriegt viel Applaus dafür: Nicht nur viele konservative Briten | |
halten Kolonialismus für erfolgreiche Entwicklungshilfe mit falschen | |
Mitteln. Noch 2016 gaben 44 Prozent der Briten in einer YouGov-Umfrage an, | |
stolz auf den Kolonialismus zu sein. Bei den Wählern der regierenden | |
Konservativen waren es sogar fast 60 Prozent der Befragten. Biggar ist also | |
kein Einzelfall: Er ist das akademische Sprachrohr einer | |
Gesellschaftsschicht, die den Kolonialismus für ein sinnvolles und | |
ehrenwertes Unterfangen hält. | |
Wer so ein Urteil fällt, hat entweder ein ziemlich sonderbares | |
Moralverständnis oder verklärt historische Fakten. Fangen wir also bei den | |
Fakten an. So komplex die Auswirkungen des britischen Kolonialismus waren, | |
so simpel war sein Kern: ein zielgerichtetes Unterwerfungssystem, um | |
Rohstoffe und andere Menschen auszubeuten. Er entsprang einem Weltbild, das | |
dunkelhäutige Menschen weißen unterordnete – daran lassen Dokumente der | |
Zeit keinen Zweifel. Das kann auch Biggar nicht dementieren. Wie | |
funktioniert also diese Verklärung? | |
Biggar bedient sich eines rechten Taschenspielertricks: Er wandelt die | |
Kolonialgeschichte in eine moralische Milchmädchenrechnung um. Auf der | |
einen Seite: die Massaker von Amritsar (Indien), die | |
Buren-Konzentrationslager in Südafrika und die systematische Folter und | |
anschließende Ermordung von 100.000 Mau-Mau-Aufständischen in Kenia. Auf | |
der anderen Seite: die Unterbindung des Sklavenhandels nach 1833, | |
Infrastrukturprojekte und bürokratische Institutionen. Hält sich doch in | |
etwa die Waage, oder? | |
Die Kritik bleibt zu Recht nicht aus. Im britischen Fernsehen und Parlament | |
wird hitzig gestritten, und in offenen Kritikbriefen stellen sich 260 | |
Akademiker aus der ganzen Welt gegen diese Argumentationsweise. Schon 1950 | |
kritisierte der Intellektuelle Aimé Césaire diese bilanzierende Praxis als | |
„balance sheet view“: Es verschleiere das menschliche Leid und die | |
vollkommene Zerstörung von Gesellschaften und Lebensweisen zugunsten eines | |
mathematischen Prinzips. | |
## Günstige Gleichung – für das Empire | |
Aber Biggar geht noch einen Schritt weiter, als diese Milchmädchenrechnung | |
aufzustellen: Er relativiert die Gewalt, um die Gleichung zugunsten des | |
Empires ausfallen zu lassen. „Es gab unentschuldbare Gewalt, aber die gab | |
es vor und nach dem Kolonialismus“, argumentiert er und stellt den | |
afrikanischen Kontinent als ein Schlachthaus dar. „Die britische Justiz“ | |
dagegen, „war hart, aber sie konnte nicht gekauft werden.“ Afrikanische | |
Geschichte ist in dieser Sicht vor allem die Geschichte von weißen Männern | |
in Afrika. Davor und danach: Dunkelheit, Mord und Totschlag. | |
Tatsächlich leiden viele der ehemaligen Kolonialländer unter chronischen | |
Kriegen. Oft liegt der Kern der Konflikte aber genau dort, wo Biggar deren | |
Lösung zu finden glaubt: im kolonialen System. So sind die willkürlich mit | |
dem Lineal gezogenen Grenzen in Afrika oder die Aufteilung von Indien und | |
Pakistan Maßnahmen der britischen Kolonialmächte, unbestreitbar ein Grund, | |
warum viele Konflikte anhalten und immer wieder aufflammen. | |
Und die Geschichte der britischen Kolonialjustiz ist ebenfalls weitaus | |
weniger ruhmreich, als Biggar und andere sie darstellen: Das umfangreiche | |
Werk „Histories of the Hanged“ seines ehemaligen Oxforder Kollegen David | |
Anderson über systematische Folter von Zeugen und die korrupten Verfahren | |
gegen den zukünftigen Präsidenten Kenias, Jomo Kenyatta zeichnen ein sehr | |
viel kritischeres Bild. Dass Kolonialgouverneur Baring 1952 etwa dem | |
Oberstaatsanwalt eine höhere Pension im Gegenzug für eine Verurteilung des | |
Unabhängigkeitskämpfers versicherte, ist also Zeichen einer „unkäuflichen | |
Justiz“? | |
## Leugnung der Strukturen | |
Das Gefährliche an Biggars Kommentar ist aber nicht die gezielte | |
Umschreibung der Geschichte. Es ist die Perspektive, die sie auf die | |
Gegenwart und Zukunft entwickelt. Wenn sich die Gegenwart nicht in dieses | |
Narrativ einfügt, wird sie verleugnet. So ignoriert Biggar, wie diese | |
Strukturen bis heute mehr oder weniger verdeckt weiterwirken. | |
Installierte Machtstrukturen wirken bis heute, ob in den belgischen | |
De-Beer-Minen im ehemals belgischen Kongo oder in den | |
britisch-niederländischen Shell-Ölraffinerien in Nigeria. Auch den | |
Irakkrieg hält Biggar übrigens für sinnvoll und entwickelt daraus eine | |
Zukunftsperspektive: In Zukunft sollten die Briten mehr militärischen | |
Einsatz in ihren ehemaligen Hoheitsgebieten zeigen; dazu zitiert er | |
ausgiebig einen Artikel des US-amerikanischen Politologen Bruce Gilley. | |
Dessen Schlusspointe: „Rekolonialisiert den globalen Süden“! | |
Ja, endlich sagt es mal einer. Endlich tritt damit in die Öffentlichkeit | |
und die Debatte, was sonst hinter verschlossenen Türen seit Jahren gedacht | |
wird. Biggars Verklärung des Kolonialismus ist Teil eines Gedankenguts, aus | |
dem 2016 die Sehnsucht nach einem Empire und der Wunsch nach einem | |
erstarkenden Königreich entsprangen. Es ist Teil jenes Gedankenguts, das | |
die britische Außenpolitik der kommenden Jahre erheblich mit prägen wird. | |
Und die Perspektive auf die Gegenwart und Zukunft, die sich daraus ergibt, | |
ist so verzerrt wie beängstigend. Eine beachtliche Gesellschaftsschicht hat | |
nun ein rassistisches und gewaltverherrlichendes Narrativ zur Verfügung, | |
versehen mit dem seriösen Stempel der bedeutendsten Universität des Landes. | |
Es ist höchste Zeit, dass solches Gedankengut öffentlich konfrontiert wird. | |
2 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Paul Ostwald | |
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