# taz.de -- Gesund essen mit wenig Geld: „Wir müssen lokale Märkte stärken… | |
> Der Berliner Ernährungsrat setzt sich für einen gerechten Zugang zu guten | |
> Lebensmitteln für alle ein. Wie soll das funktionieren? | |
Bild: Können von gutem Essen nur profitieren: Kinder, hier in der Markthalle 9 | |
taz: Frau Pohl, warum braucht Berlin einen Ernährungsrat? | |
Christine Pohl: Es gibt in Berlin sehr viele Initiativen zum Thema | |
Ernährung, weil immer mehr Menschen finden, dass hier vieles gründlich | |
schiefläuft. Wir haben im Mai 2015 ein erstes Netzwerktreffen organisiert | |
und sechs oder sieben Leute eingeladen – es kamen dann ungefähr 25, beim | |
nächsten Treffen waren es schon 50. Im vergangenen Frühjahr haben wir dann | |
den Ernährungsrat gegründet. Wir wollen so etwas wie ein Rezeptbuch für ein | |
zukunftsfähiges Ernährungssystem entwickeln. Zentral dafür ist, dass | |
Erzeuger faire Preise bekommen und nachhaltige Nahrungsmittel herstellen, | |
die weitgehend regional vermarktet werden. | |
Regionale und gesunde Lebensmittel sind in der Regel teurer als das, was es | |
bei Discountern gibt. Schließt Ihre Initiative Menschen mit wenig Geld aus? | |
Nein, wir wollen explizit nicht nur die hippen Leute erreichen, die sich | |
schon gute Lebensmittel leisten können. Es geht uns um einen gerechten | |
Zugang für alle. Im Zentrum stehen für uns deshalb die politischen | |
Rahmenbedingungen. | |
Agrarpolitik findet heute fast komplett auf EU-Ebene statt. Macht ein | |
regionaler Ernährungsrat da überhaupt Sinn? | |
Es könnte auch auf der lokalen Ebene eine ganze Menge passieren. Zum | |
Beispiel die Bodenvergabe: Agrarflächen in der Region sind teuer und werden | |
oft in großen Einheiten vergeben, sodass kleine Landwirte kaum an Flächen | |
kommen können. Oder der Staatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg, der | |
die Verantwortung für Landwirtschaft komplett an das Land Brandenburg | |
auslagert. Damit bestimmt Brandenburg allein über den Einsatz der | |
EU-Agrarsubventionen auch in Berlin. Den Staatsvertrag könnte man ändern. | |
Aber auch Berlin selbst hat 44 Prozent Grün- und Freiflächen und könnte | |
mehr Land für urbane Gärten zur Verfügung stellen. | |
Haben Sie auch Ideen, die sich rascher umsetzen ließen? | |
Ja, zum Beispiel andere Prioritäten bei der öffentlichen Auftragsvergabe. | |
In Kantinen der Senatsverwaltung oder in Kitas könnten mehr regional und | |
nachhaltig erzeugte Lebensmittel auf den Tisch kommen. In manchen | |
Stadtverwaltungen gibt es Wertschöpfungsketten-Manager, die sich um die | |
Verbesserung der Vermarktungsbedingungen für Betriebe aus der Region | |
kümmern; so etwas könnte man auch in Berlin installieren. Sinnvoll wäre es | |
auch, die Zahl der Markthallen wieder zu erhöhen und sie zu Zentren für | |
kleine regionale Anbieter zu machen, wie es bei der Markthalle Neun in | |
Kreuzberg schon der Fall ist. Und in den USA gibt es sogenannte Food Hubs – | |
regionale Läden, in denen kleine bäuerliche Erzeuger und Kleingärtner ihre | |
Ernte unkompliziert loswerden und wo auch Weiterverarbeitung stattfindet. | |
Wenn es in jedem Stadtteil zwei bis drei davon gäbe, wäre das ein wichtiger | |
Beitrag zur Regionalversorgung. | |
Ernährung ist im Senat bisher im Justizressort angesiedelt, wo eine | |
Staatssekretärin zuständig ist. Nimmt die Politik das Thema ernst genug? | |
Sicher wäre ein eigenes Senatsressort angesichts der Bedeutung des Themas | |
angemessener. Als Randbereich von Verbraucherschutz und Antidiskriminierung | |
ist Ernährung eindeutig unterbewertet. Immerhin hat Berlin 2015 den „Urban | |
Food Policy Act“ unterzeichnet, mit dem sich Städte dazu verpflichten, eine | |
nachhaltige Ernährungsstrategie zu entwickeln und Ernährung als | |
Querschnittsthema in allen Politikbereichen zu integrieren. Die | |
Staatssekretärin für Verbraucherschutz in der alten Regierung hat daraufhin | |
das „Forum für gutes Essen“ initiiert. Leider war die Teilnahme daran | |
unregelmäßig, und einige Senatsverwaltungen waren auch gar nicht | |
involviert. Wir müssen jetzt sehen, wie sich das unter der neuen Regierung | |
entwickelt. | |
Wie schätzen Sie die Aussichten ein? | |
Im Koalitionsvertrag hat sich die neue Regierung verpflichtet, eine | |
zukunftsfähige, regional gedachte Ernährungsstrategie zu entwickeln. Auch | |
der Ernährungsrat wird dort explizit erwähnt. Wir hatten schon ein Treffen | |
mit Staatssekretärin Margit Gottstein, zu dem sie uns eingeladen hatte, und | |
wir werden uns im März erneut mit ihr zusammensetzen. Entscheidend wird | |
sein, ob es bald konkret wird. | |
In welchem Maß ernährt sich Berlin denn bisher aus dem Umland? | |
Eine Studie hat vor Kurzem den Flächenbedarf errechnet, der für die | |
Versorgung Berlins mit Lebensmitteln benötigt wird. Demnach könnte | |
Brandenburg die Hauptstadt zu 76 Prozent versorgen. Dieser Anteil könnte | |
sogar noch höher sein, wenn Brandenburg mehr Obst, Gemüse und Kartoffeln | |
anbauen würde und weniger Energiepflanzen und Futtermittel. Wie die | |
tatsächliche Lage ist, ist aber unklar. Man weiß aus der nationalen | |
Verzehrstudie, was die Berliner essen, aber nicht, woher genau die | |
Lebensmittel kommen. Umgekehrt weiß man, was die Brandenburger anbauen, | |
aber nicht, wohin die Lebensmittel geliefert werden. Es fehlt eine | |
Verknüpfung der Zahlen. Was klar ist ist, dass Brandenburg viel ins Ausland | |
exportiert. | |
Was ist Ihre Vorstellung eines zukunftsfähigen Ernährungssystems? | |
Wir haben eine Vision entwickelt, die das weltweite Ernährungssystem | |
einschließt. Schließlich beeinflusst das, was es hier beim Discounter zu | |
kaufen gibt, in hohem Maß die Nahrungsmittelversorgung anderswo auf der | |
Welt. Es geht uns also um die (Re-)Demokratisierung der Agrar- und | |
Lebensmittelproduktion, bei der grundlegende Prinzipien wie das | |
Menschenrecht auf Nahrung und die Stärkung lokaler Märkte im Zentrum | |
stehen. Wertschöpfungsketten sollten deshalb durchweg fair und transparent | |
sein. Wir wollen, dass Erzeuger hier und anderswo fair bezahlt werden, | |
sodass sie eine nachhaltige Einkommensperspektive haben. Umweltschutz muss | |
überall verankert sein, die Vielfalt gestärkt werden. Das bezieht sich | |
sowohl darauf, was auf dem Acker wächst, als auch auf | |
Einkaufsmöglichkeiten, die Produktpaletten und die Gastronomie. | |
Was noch? | |
Die Stadt- und Regionalplanung muss Flächen für Anbau, Verarbeitung und | |
Vermarktung in und außerhalb der Stadt mitdenken. Darüber hinaus ist | |
zukunftsfähige und gerechte Ernährung auch ein Bildungsthema für Schulen | |
und in der Berufsausbildung, wobei auch praktische und handwerkliche | |
Fähigkeiten vermittelt werden sollten. | |
13 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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