# taz.de -- Umweltprojekt für Grundschulen: Ackern mal anders | |
> Mit Hilfe der Ackerdemia pflanzen Grundschulkinder Gemüse an – oft auf | |
> dem eigenen Schulhof. Eine Lektion in Sachen Ernährung und Umweltschutz. | |
Bild: Beste Freunde: Schülerin Emma und der Regenwurm | |
BERLIN taz | Melis ist aufgeregt: Ihre Klassenkameradin hat einen Regenwurm | |
entdeckt. „Ich will ihn auch mal anfassen“, bittet sie. Die 9-Jährige nimmt | |
den sich windenden Körper vorsichtig in die Hand und betrachtet ihn | |
interessiert. Nach einer Weile entlassen die beiden das Tier zurück in die | |
Erde. „Früher hatte ich Angst vor Regenwürmern. Ich dachte, dass sie mir | |
vielleicht was tun“, berichtet das schwarzhaarige Mädchen. Doch hier auf | |
dem Acker der Carl-Schurz-Grundschule in Spandau hat sie gelernt, dass | |
Regenwürmer nicht nur harmlos, sondern sogar nützlich sind. | |
Neben dem Schulgebäude gibt es einen abgezäunten Garten mit ein paar jungen | |
Obstbäumen, mehreren Hochbeeten und vor allem dem „Acker“ – den zehn | |
länglichen Beeten. Auf einem drängen dunkelgrüne Kartoffelpflanzen aus der | |
Erde, auf einem anderen wachsen Kohlrabi, Fenchel und Rote Bete – alles | |
sehr akkurat und mit ausreichendem Abstand. Kein Wildkraut ist den | |
Kinderhänden entgangen. | |
## Pflanztag für die 3d | |
Heute ist für acht Mädchen und Jungen aus der 3d ihr zweiter Pflanztag. | |
Birte Führing vom Verein Ackerdemia setzt sich mit den Kindern in einen | |
Kreis und stellt eine Kiste mit Töpfen in die Mitte. Die Tomatenpflanzen | |
erkennen mehrere – aber Gurken, Zucchini und Kürbisse sehen sich doch sehr | |
ähnlich. Und was ist das mit den schmalen, länglichen Blättern? „Vielleicht | |
Schnittlauch?“, überlegt Matilda. Tim entdeckt das Schild am Topf und | |
verkündet stolz, dass es sich um Mais handelt. | |
Nun lässt die Acker-Coachin die Kinder schätzen, wie hoch die Pflanzen wohl | |
zur Erntezeit sein werden, und fordert sie auf, sich die vermutete Höhe gut | |
zu merken. Dann schüttet die 32-Jährige nur einen Millimeter große, | |
silbrige Körner auf ihre Hand und geht im Kreis herum, damit alle sie gut | |
sehen können: „Aus diesen winzigen Samen werden große Endivien-Salate“, | |
verspricht sie. Die Kinder staunen. | |
Nun aber geht es ans Tun. Alle schnappen sich Schaufeln und Handschuhe, die | |
in großen Blumentöpfen bereitstehen. Führing verteilt laminierte | |
Pflanzpläne für die jeweils zwei Meter langen und einen Meter breiten | |
Beete, die die höheren Klassen im vergangenen Herbst angelegt haben. Ein | |
Junge drückt den Holzstiel einer Hacke in die lockere Erde, um damit die | |
drei vorgegebenen Reihen zu kennzeichnen: Dieses Beet sollen sich Gurken | |
und Mais teilen. Die Abstände werden mit der Länge der kleinen Schaufeln | |
gemessen; alle sind vorsichtig und bleiben auf den festgetrampelten Wegen. | |
Jedes Kind bekommt einen Topf und muss die Lochtiefe selbst herausfinden. | |
Nur Luca kann nicht voll mitmachen, weil er eine Armschiene tragen muss. | |
Deshalb ist er heute der Gießmeister und darf die Pflanzlöcher mit Wasser | |
befüllen. Die Setzlinge aus den Töpfen zu pressen, ohne die Wurzeln zu | |
verletzen, ist für manche gar nicht so einfach. Die Religions- und | |
Ackerlehrerin Jeanette Tschirschky macht vor, wie es geht. Ihr | |
Lebenskunde-Kollege Metin Aydin zeigt, wie sich ein kleiner Wall um jede | |
Pflanze bauen lässt, damit das Regenwasser nicht gleich wegfließt. Beide | |
gehören in der Carl-Schurz-Grundschule zum Gemüseackerdemie-Team. „Das | |
passt gut. Bei uns im Unterricht geht es ja oft Themen wie die Bewahrung | |
der Schöpfung oder warum der Milchpreis so niedrig ist und was das | |
bedeutet“, sagt Tschirschky. | |
## Mehrfach preisgekröntes Projekt | |
Der Unterrichtsraum von Metin Aydin liegt direkt über dem heutigen Garten. | |
Schon länger hatte er ein Auge auf das zugewucherte Gelände geworfen. | |
Zusammen mit dem Hausmeister und einigen anderen machte er es urbar und | |
stellte die ersten Hochbeete auf. Als eine Mutter dann über das | |
Ackerdemia-Angebot berichtete, waren Metin Aydin und seine Kollegin gleich | |
interessiert. | |
Etwa 40 Schulen und 30 Kitas in Berlin machen inzwischen mit beim Projekt | |
GemüseAckerdemie. Das mehrfach ausgezeichnete Bildungsprogramm des | |
[1][Vereins Ackerdemia] startete 2014 in Kreuzberg und breitet sich | |
inzwischen im gesamten deutschsprachigen Raum aus. Wo immer es geht, werden | |
Beete auf dem Schul- oder Kitagelände angelegt. Ist das aufgrund von | |
Versiegelung nicht möglich, gibt es Hochbeete oder es wird ein Grundstück | |
in der Nähe gesucht wie im Fall einer Neuköllner Schule, die eine Parzelle | |
in einer benachbarten Kleingartenkolonie nutzt. | |
Das Ackerdemia-Team bietet den Schulen eine Art Rundum-sorglos-Paket. Am | |
Anfang nehmen ein bis drei Lehrer*innen pro Schule an | |
Fortbildungsworkshops teil: Acker-Coaches wie Birte Führing bringen ihnen | |
die praktischen Grundlagen bei und helfen auch später, das Wissen an die | |
Kinder weiterzugeben. Bei ihnen handelt es sich um kundige Menschen, meist | |
Biogemüse- oder erfahrene Hobbygärtner*innen. | |
„Auch wenn ich selbst vom Land komme, habe ich da noch mal viel gelernt – | |
zum Beispiel über den ressourcenschonenden Umgang mit Wasser“, berichtet | |
Tschirschky. Nur bei starker Trockenheit werden die Pflanzen auf den | |
Schulackern gegossen, ansonsten ist Mulchen mit Grasschnitt oder | |
ausgerissenen Wildkräutern angesagt. Auch die Verwendung von | |
Brennnesseljauche als gutes Mittel gegen Läuse und zum Düngen hat die | |
42-Jährige bei den Workshops kennengelernt. | |
Vier Jahre lang begleitet die [2][Gemüseackerdemie] jeden Lernort. Damit | |
sich die Pädagog*innen ganz entspannt auf die Gestaltung des Unterrichts | |
konzentrieren können, bekommen sie Anbauplanung, Pflanzen und | |
Bildungsmaterialien geliefert. Im ersten Programmjahr erscheinen die | |
Acker-Coaches viermal auf dem Feld und helfen beim Pflanzen und Säen, | |
danach immer seltener. Wenn sie es wollen, können die Schulen aber auch | |
nach der Betreuungsphase weiter Pflanzen, Pläne und pädagogisches Material | |
beziehen. | |
Die Ackerlehrer*innen an der Carl-Schurz-Grundschule treffen die 3d | |
jede Woche für 90 Minuten. Zunächst haben die Kinder ein paar Minuten Zeit | |
um zu schauen, was sich seit dem letzten Mal verändert hat. Dann werden | |
Fragen besprochen – warum zum Beispiel die Pflanzen im Hochbeet schneller | |
wachsen als auf dem Feld oder wer für die Löcher in den Kohlrabiblättern | |
verantwortlich ist. Danach hacken und jäten alle. Häufig schwärmt eine | |
Gruppe auch aus, um Brennnesseln auf dem weitläufigen Gelände zu schneiden | |
und damit Sud anzusetzen. | |
Als vor ein paar Wochen die ersten Radieschen reif waren, durften die | |
Kinder sie ernten. Gemeinsam haben sie die kleinen Knollen angeschaut und | |
jeder hat daran gerochen. Nach dem Aufschneiden bekamen sie ein Stück und | |
sollten es eine Minute lang im Mund behalten, um ganz genau hinzuschmecken. | |
Der Ackerunterricht eröffnet den Mädchen und Jungen nicht nur den Zugang zu | |
Gemüseanbau, Bienen und Kellerasseln, sondern bringt ihnen auch die | |
Vorteile von Mischkultur und Sortenvielfalt nahe. Wenn es regnet, | |
schreiben sie Pflanzen-Steckbriefe oder veranstalten ein Gemüse-Bingo. | |
Neben allseits bekanntem Sorten sprießen auf den Beeten auch traditionelle | |
Kulturen wie Stoppelrüben oder Palmkohl. Die Pflanzpläne der jeweils 7 bis | |
14 Beete sind darauf abgestimmt, was gut zusammenpasst und sich gegenseitig | |
vor Schädlingen schützt. | |
## Schulen co-finanzieren selbst | |
Um mitmachen zu können, müssen Schulen und Kitas durchschnittlich ein | |
Drittel der Kosten selbst beitragen. Ein Eigenanteil steigert | |
erfahrungsgemäß die Wertschätzung und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass | |
das Projekt auch längerfristig weitergeführt wird, begründet | |
Regionalmanagerin Christiana Henn diese Vorgabe. Wie in der | |
Carl-Schurz-Grundschule besorgen häufig die Fördervereine das Geld. Den | |
Rest der Finanzierung übernehmen Unternehmen, Stiftungen oder | |
Krankenkassen. Bei hoher Nachfrage gibt es eine Warteliste, bis ein solcher | |
Förderpartner gefunden ist. | |
Die Klassenlehrerin der 3d, Jeanette Genzmann, überzeugt das pädagogische | |
Konzept. „Hier arbeitet jeder mit jedem zusammen; die Kinder wachsen toll | |
zusammen.“ Offenbar erdet das praktische Tun auch ansonsten hibbelige oder | |
verhaltensauffällige Jungen und Mädchen: Alle gehen mit Tieren und Pflanzen | |
vorsichtig und achtsam um. Die Sozialarbeiterin Stephanie Schlüter ist | |
ebenfalls sehr angetan: „Die Kinder bekommen ein Urverständnis dafür, dass | |
Veränderungen Zeit brauchen.“ Sie nutzt den Garten jetzt oft für ihre | |
Gespräche. | |
Der heutige Pflanztag geht zu Ende. Birte Führing verteilt Schildchen und | |
Stifte, damit alle auch noch in ein paar Wochen wissen, was da jetzt | |
wächst. So lernt die 3d ganz nebenbei auch noch, wie Zucchini und Endivie | |
geschrieben werden. Zu Hause werden viele ihre zum Teil liebevoll | |
gestalteten Ackertagebücher um ein paar Zeilen und Zeichnungen bereichern. | |
„Bei dem Projekt lernen die Kinder fächerübergreifend und ganzheitlich“, | |
fasst Klassenlehrerin Genzmann zusammen. | |
Bevor sie sich vom Acker macht, hat sich Melis noch schnell eine Lupe | |
geholt, um einen Käfer zu betrachten. Sie freut sich schon auf die Ernte | |
nach den Sommerferien. Vielleicht bereitet Schulkoch Robert Seyfarth dann | |
zusammen mit ihnen was Leckeres daraus zu? Lust hat er, sagt der | |
43-Jährige, der vor Ort kocht und den Mensaplan alle zwei Wochen mit einer | |
anderen Klasse zusammenstellt. Doch bis es so weit ist, müssen die Kürbis-, | |
Tomaten- und Zucchinipflanzen erst einmal blühen, Früchte ansetzen – und | |
reifen. Melis und ihre Klassenkamerad*innen werden das genau | |
beobachten. | |
13 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ackerdemia.de/ | |
[2] https://www.gemueseackerdemie.de/ | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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