| # taz.de -- Gastkommentar zur Radpolitik in Berlin: Wer haftet für die Toten? | |
| > Politiker sollten genausoviel Verantwortung für Unfälle im Straßenverkehr | |
| > übernehmen wie die Chefs von Verkehrsunternehmen. | |
| Bild: Am heutigen Mittwoch muss der ADFC 17 von diesen Geisterrädern aufstelle… | |
| Politik tötet Radfahrerin – so war die Einladung zu einer der Mahnwachen | |
| überschrieben, die der Volksentscheid Fahrrad im vergangenen Jahr in | |
| Gedenken an getötete Radfahrende abgehalten hat. Dazu gab es einen kleinen | |
| Aufschrei, ein paar kritische Artikel. Auch Grüne empörten sich, vielleicht | |
| weil sie kurz darauf das Verkehrsressort übernahmen. | |
| Völlig klar ist, dass kein Politiker einen Radfahrer getötet hat, aber die | |
| Frage nach der politischen Verantwortung ist gestellt. Sie rüttelt an einem | |
| Tabu der deutschen Gesellschaft: einem stillschweigenden Konsens für das | |
| unbehelligte Weiter-(g)rasen der heiligen Kuh der Deutschen, dem Auto. | |
| Der Volksentscheid Fahrrad lädt immer wieder zu solchen Mahnwachen ein, | |
| weil jeder Tod und die eigene Angst davor wieder vor Augen führt, warum | |
| sich das Engagement lohnt: Nach ein paar Schweigeminuten auf dem Asphalt | |
| ist wieder klar, warum wir uns für Sicherheit im Straßenverkehr einsetzen. | |
| Bis heute hat noch niemand aus dem politischen Bereich die Verantwortung | |
| für Verkehrstote übernehmen wollen, obwohl jeder Listenkandidat damit | |
| wirbt, politische Verantwortung tragen zu wollen. | |
| Vielleicht lässt sich hier aus der Wirtschaft lernen, zum Beispiel aus den | |
| Organisations- und Unternehmerpflichten in der Verkehrswirtschaft. Der | |
| Staatsanwaltschaft ist es egal, ob der GmbH-Geschäftsführer eine schlecht | |
| funktionierende Mitarbeiterschar hat, ob er erst eine Woche oder viele | |
| Jahre Chef des Unternehmens ist, denn die Haftung, die Verantwortung fängt | |
| bei der Spitze an, ab dem ersten Tag. | |
| Der Verantwortung entrinnen kann man nicht, jedoch für eine gute | |
| Organisation sorgen. Wenn es zu Unfällen kommt, prüft die | |
| Staatsanwaltschaft, ob es ein Organisationsverschulden gibt. Verfügt zum | |
| Beispiel der Eisenbahnbetriebsleiter über die nötigen Qualifikationen und | |
| wurde regelmäßig fortgebildet? Wurde ihm genügend Zeit eingeräumt, seiner | |
| Pflicht nachzukommen, hatte er jederzeit Vorspracherecht, erfolgten die | |
| Sicherheitsunterweisungen der Mitarbeiter? Das Gericht will auch wissen, ob | |
| seine Berichte und Hinweise zur Kenntnis genommen wurden und in | |
| angemessener Zeit Abhilfe geschafft wurde bis hin zur sofortigen | |
| Stilllegung von Zügen und Gleisen. | |
| Nur wenn die Organisation stimmt, kann sich die Geschäftsführung auf das | |
| Durchführungsverschulden eines einzelnen Mitarbeiters berufen, der | |
| möglicherweise seinen Sorgfaltspflichten nicht nachkam. | |
| Ansonsten liegt eben ein Organisationsverschulden vor. Die Geschäftsführung | |
| ist verantwortlich. Waren die Missstände in der Organisation bekannt, so | |
| wird aus fahrlässigem Verhalten sogar grob fahrlässiges bis hin zu | |
| vorsätzlichem Verhalten. Das Strafmaß steigt – zu Recht, denn Menschen | |
| haben sich dieser Organisation, diesem Geschäftsführer anvertraut. | |
| Wenden wir dieses Konstrukt von Organisationspflichten auf Berlin an. | |
| Nehmen wir an, Berlin wäre eine GmbH, alle Auto- und Lkw-Fahrer sind | |
| angestellte Mitarbeiter und ein Senator der Geschäftsführer. Nehmen wir | |
| weiter an, einer dieser „Mitarbeiter“ hätte einen tödlichen Unfall | |
| verursacht. | |
| Der Staatsanwalt würde nun nach den Organisationspflichten fragen. Er würde | |
| vermutlich zu der Einschätzung kommen, dass in Berlin ein | |
| Organisationsverschulden in mehreren Fällen vorliegt. Dass | |
| Präventionsstellen für Verkehrssicherheit seit mehr als einem halben Jahr | |
| nicht nachbesetzt sind, dass es in 10 von 12 Bezirken keine | |
| Radverkehrsplaner gibt, dass Unfälle sich an bekannten Stellen wiederholen | |
| und jahrelang nichts passiert, dass Zuständigkeiten hin und her geschoben | |
| werden, dass Abhilfe zu zögerlich und zu spät erfolgt, dass die Zahlen der | |
| Verletzten und Schwerverletzten steigen, dass letztes Jahr alle drei Wochen | |
| ein Radfahrer auf Berlins Asphalt starb. | |
| Wäre es angesichts dessen nicht langsam an der Zeit, Ordnung in die | |
| organisierte Unverantwortlichkeit zu bringen? Und die Frage der inneren | |
| Sicherheit auch auf den Asphalt auszuweiten? | |
| Wer ist bereit, politische Verantwortung zu übernehmen, wenn Menschen auf | |
| der Straße sterben? Der Bundesverkehrsminister, die | |
| Landesverkehrsminister-Konferenz, die Autobauer, der Regierende | |
| Bürgermeister, der seine Senatoren ernennt, der Verkehrs- oder Innensenator | |
| oder Bereichs- und Referatsleiter? Wessen Telefonnummer darf ich nennen, | |
| wenn mich die Angehörigen der überfahrenen und getöteten Radfahrerinnen und | |
| Radfahrer anrufen? | |
| Tatsächlich tut sich etwas, erste Zeichen sind wahrzunehmen, dass die | |
| politische Verantwortung für Tote und Verletzte auf den Straßen ernster | |
| genommen wird. Wenn die neue Verkehrssenatorin zur Pressekonferenz der | |
| Vorstellung der Unfallbilanz des Vorjahres kommt, wenn dort ein | |
| 70-prozentiger Zuwachs an getöteten Radfahrern diskutiert wird. Wenn der | |
| Justizsenator erstmals zu einer Mahnwache kommt. Wenn | |
| Verkehrssicherheitspräventionsstellen endlich nachbesetzt werden sollen. | |
| Wenn der Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, Herr Gaebler, | |
| nach Bußgeldern von 100 Euro und mehr für Falschparker auf Radwegen ruft. | |
| Fragen müssen wir nach der politischen Verantwortung weiter, denn noch sind | |
| wir am Anfang eines langen Weges. Noch lässt die Politik die heilige Kuh, | |
| das Auto, zu unbeaufsichtigt weiter (g)rasen. | |
| 29 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Heinrich Strößenreuther | |
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