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# taz.de -- Verkehrstote auf deutschen Straßen: Der Abbiege-Skandal
> Viele getötete RadfahrerInnen könnten noch leben, wenn LKW mit längst
> verfügbarer Technik ausgestattet wären. Am Freitag berät der Bundesrat.
Bild: Dieses „Geisterfahrrad“ erinnert in Essen an eine auf dem Zebrastreif…
Berlin taz | Das erste Todesopfer im Berliner Straßenverkehr in diesem Jahr
war eine Frau, 52 Jahre alt. Sie starb am 23. Januar, als ein LKW sie
überfuhr. Am Kaiser-Wilhelm-Platz im Berliner Bezirk Schöneberg bog ein
Lkw-Fahrer rechts ab und übersah die Radlerin auf dem Fahrradweg neben
sich. Drei Fahrradfahrer sind in diesem Jahr in Berlin gestorben,
bundesweit waren es nach Angaben des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs
schon elf. So nüchtern die Zahlen klingen, so tragisch sind die Geschichten
dahinter. Besonders bitter: Die im Januar überfahrene Berlinerin etwa
könnte noch leben, wäre der Lastwagen mit einem [1][Abbiegeassistenzsystem]
ausgestattet gewesen.
Am heutigen Freitag berät der Bundesrat über eine Initiative der Länder
Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen und Thüringen; sie drängen den Bund
dazu, sich in der EU dafür einzusetzen, das solche elektronischen
Warnsysteme in LKW schnell zur Pflicht werden. Solche Systeme registrieren
Radfahrer oder Fußgänger beim Abbiegen, warnen die LKW-Fahrer und bremsen
automatisch, wenn der nicht reagiert. Rund 1.500 Euro kostet solch ein
Gerät.
Laut einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) sterben etwa
ein Drittel der jährlich im Straßenverkehr getöteten RadfahrerInnen, weil
sie von abbiegenden Fahrzeugen überfahren werden. Und noch mal in Zahlen:
Im Jahr 2017 starben in Deutschland 383 RadfahrerInnen – 127 von ihnen
wären nicht gestorben, wenn die längst verfügbare Technologie zum Einsatz
gekommen wäre.
Im Jahr 2017 verloren insgesamt 3.177 Menschen im Straßenverkehr ihr Leben.
Die Zahl der Schwerverletzten liegt seit Jahren konstant bei über 66.000
Menschen.
## „Runder Tisch“ blieb ergebnislos
Zwar ist der neue [2][Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer] (CSU) mit dem
großen Versprechen einer „Null-Verkehrstote-Strategie“ ins Amt gestartet.
Doch passiert ist bislang wenig. Die Strategie der Bundesregierung lautet:
Erst sollen Kriterien für die Prüfung der Assistenzsysteme festgelegt und
international harmonisiert werden, dann per EU-Typgenehmigungsvorschrift
eingeführt werden. EU-Richtlinien stünden nationalen Alleingängen im Weg.
Also herrscht Stillstand: Ein von der Bundesregierung initiierter „Runder
Tisch“ zum Abbiegeassistenten blieb ergebnislos, wie eine kürzlich
gestellte parlamentarische Anfrage der Linkspartei zeigt. Seit 2014 ist das
Gremium nicht mehr zusammen gekommen. Dabei schlagen Verkehrsexperten
Alarm: Der Berliner Soziologe und Verkehrswissenschaftler Andreas Knie
fordert: „Wir müssen das Auto in die Schranken weisen und endlich
Fußgängern und Radfahrern mehr Rechte im Verkehr geben.“
Auch Martin Lanzendorf, Mobilitätsforscher an der Goethe-Universität in
Frankfurt (Main), kritisiert, dass sich in den letzten Jahren nichts an der
Vormachtstellung des Autos im Stadtverkehr geändert habe. „Wir müssen
Städte so planen, dass man lieber mit dem Fahrrad als mit dem Auto fährt“,
sagt Lanzendorf. Kommunen werden bei der Planung von Infrastruktur viel zu
häufig von der Automobilindustrie unter Druck gesetzt, kritisiert er. „Die
Attraktivität einer Stadt sollte auch von der Verkehrssicherheit abhängen.
Viele Menschen beginnen bereits die Vormachtstellung des Autos offen zu
kritisieren.“
Vorbild könnte das neue Berliner Mobilitätsgesetz sein, für Schlag eine
Möglichkeit für einen sichereren Rad- und Fußgängerverkehr. Dass in Berlin
bald eine lückenlose und sichere Verbindung zwischen Radschnellwegen
ermöglicht werden soll, hält Lanzendorf „für eine ordnungspolitische
Maßnahme, die auch in anderen Städten zum Vorbild werden kann“. Der Entwurf
des Berliner Mobilitätsgesetzes liegt seit Ende Februar dem
Abgeordnetenhaus vor.
Schon 2010 hatte der wissenschaftliche Beirat des Verkehrsministeriums
etliche Maßnahmen vorgeschlagen, den Verkehr weniger gefährlich zu machen.
„In allen Industrienationen der Welt ist die Geschwindigkeit auf der Straße
sinnvoller geregelt als in Deutschland“, heißt es in seinem Bericht. Daher
solle auf Bundesautobahnen maximal 130 Stundenkilometer, auf Landstraßen
nur noch 70 Stundenkilometer schnell gefahren werden. In Ortschaften solle
Tempo 30 zum Normalfall werden. In London ist dies bereits erfolgreich. als
dort 20-Meilen-Zonen (32 Stundenkilometer) eingeführt wurden, sank die Zahl
der Verkehrsopfer um 41,9 Prozent, deutlich weniger Kinder wurden verletzt.
## Mehr Sicherheit an Ampeln
Ein weiterer Vorschlag: Die Selbsterklärende Straße, die SER. Die Idee
dahinter: Viele Straßen begünstigen schnelles Fahren, breite Alleen und
gerade Straßen etwa. Und das ist sogar sozial akzeptiert, wie der Bericht
feststellt. Deshalb sei die SER eine wirksame Maßnahme, um zu hohe
Geschwindigkeiten ungemütlich zu machen. Etwa werden auf üblichen
Straßenmarkierungen zusätzliche Markierungen aufgebracht oder eingefräßt.
Auch sogenannte „safety lanes“ für Fahrräder, die von Pollern geschützt
sind, gilt es demnach auszubauen.
Vorschlag Nummer drei: Mehr Sicherheit an Ampeln. Häufig müssen Radfahrer
und Fußgänger zu lange an roten Ampeln warten und überqueren die Straße
irgendwann bei Rot. Abhilfe könnten situationsabhängige Ampelschaltungen
bringen. Außerdem geht eine Ampel davon aus, dass Fußgänger an Ampeln mit
einer Geschwindigkeit von 1,5 Meter pro Sekunde über die Straße gehen. Über
65-jährige gehen aber langsamer, sagt der an dem Bericht des Beirats
beteiligte Verkehrspsychologe Bernhard Schlag von der TU DresdenSchlag.
Hier gelte es mehr Rücksicht für alle Verkehrsteilnehmer zu nehmen.
Und letzter Hinweis aus dem Bericht: Nicht nur die Gesellschaft, sondern
auch der Gesetzgeber toleriert Geschwindigkeitsüberschreitungen. In fast
keinem anderen Mitgliedsstaat der EU kommen Raser so billig davon.
Auf die Nachfrage, wieso etliche Empfehlungen des wissenschaftlichen
Beirats von der Bundesregierung überhört wurden, äußerte sich das
Ministerium nicht. Bernhard Schlag ist von den geringen Fortschritten nicht
überrascht, die Zahl der Verkehrstoten zu senken: „Das Ministerium hat
keinen unserer Ratschläge umgesetzt.“ Er fordert deshalb, dass
„Verkehrssicherheit einklagbar sein muss wie Gesetze im Verbraucherschutz“.
27 Apr 2018
## LINKS
[1] /Berliner-Radfahrerin-von-Lkw-ueberrollt/!5478992
[2] /Fast-unangekuendigte-BER-Visite/!5498837
## AUTOREN
Malte Kanefendt
## TAGS
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