# taz.de -- Kriminologe über Videoüberwachung: „Das ist das Risiko der frei… | |
> Gefordert wird mehr Videoüberwachung. Der Soziologe Nils Zurawski ist | |
> skeptisch – auch weil diese Technik langfristig gegen die Bürger | |
> verwendet werden könnte. | |
Bild: Mit acht Kameras wird der Bahnofsvorplatz in Köln von der Polizei überw… | |
taz: Herr Zurawski, zwei Drittel der Deutschen sind nach dem Anschlag in | |
Berlin für mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Versprechen sich die | |
Leute zu Recht mehr Sicherheit? | |
Nils Zurawski: Nach solchen Ereignissen sind die Befragten immer begeistert | |
von Videoüberwachung. Sie scheinen sich also etwas davon zu versprechen, | |
aber was genau, das weiß kein Mensch, denn das wird nicht abgefragt. | |
Vermutlich hat jeder seine eigene Vorstellung davon, wo was überwacht | |
werden soll und was dann mit diesen Daten passiert. | |
Zumindest scheinen sie sich ja sicherer zu fühlen. | |
Man könnte meinen, dass angesichts der hohen Zustimmung auch das | |
Sicherheitsgefühl von Menschen in Bereichen mit Videoüberwachung zunimmt. | |
Das ist aber nicht der Fall, wenn Menschen zu ihrer gefühlten Sicherheit | |
befragt wurden, trugen Kameras nicht wesentlich dazu bei. Ist ja auch klar: | |
Videokameras verhindern keine Anschläge. | |
Aber vielleicht verhindern sie andere Arten von Kriminalität? | |
In bestimmten Zusammenhängen können Kameras sicher Kriminalität vorbeugen. | |
Bei Einbruchsdiebstählen zum Beispiel, vielleicht bei Banküberfällen oder | |
dem Abzocken vor Geldautomaten. Aber da schlagen die Täter eben nicht vor | |
dem – videoüberwachten – Automaten zu, sondern an der nächsten Ecke, | |
zumindest, wenn es keine totalen Anfänger sind. | |
Verdrängung. | |
Genau. Die ist natürlich ein gutes Argument, um alles mit Kameras zu | |
überwachen. Dann gäbe es keine Verdrängungseffekte mehr. Aber ich glaube | |
nicht, dass irgendjemand da wirklich hinwill. | |
Wie wirken sich die Kameras auf unterschiedliche Tätergruppen aus? | |
Impulsive Taten, Taten im Affekt oder von stark alkoholisierten Menschen | |
werden durch Kameras nicht verhindert. Daher geht auch die Debatte über | |
Videoüberwachung zur Vorbeugung von Übergriffen an Silvester zum Teil am | |
Ziel vorbei: Alkoholisierte Täter lassen sich von Kameras nicht stören. | |
Und inwieweit helfen Kameras bei der Aufklärung? | |
Wenn die Kameras gute Bilder liefern, sieht man zumindest, was passiert | |
ist. Das kann Tathergänge in der Regel ganz gut sichtbar machen. Allerdings | |
zeigen die vorhandenen Videos nach den Übergriffen in der Silvesternacht in | |
Köln, dass es zahlreiche Ausnahmen von der Regel gibt. Und ob Aufnahmen | |
dazu beitragen – Stichwort Anschlag in Berlin –, dass so eine Tat | |
tatsächlich in Gänze, ganz zu schweigen von den Hintermännern, aufgeklärt | |
wird, wage ich zu bezweifeln. Dass wir so viel über Anis Amri wissen, liegt | |
vor allem an den ganzen klassischen Ermittlungstätigkeiten, die im Vorfeld | |
des Anschlags passiert sind. Und auch am Ende war es ja ironischerweise | |
eine ganz normale Kontrolle, bei der der Täter aufgefallen ist. | |
Aber genau das ist ein häufiges Argument: Hätte er nicht einen Ausweis und | |
Fingerabdrücke hinterlassen, würde ein unbekannter mutmaßlicher Terrorist | |
durch Europa geistern. | |
Ja, dann ist das so. Das ist das Risiko der freien Welt. Das ist bitter, | |
aber das ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir unsere Art zu leben nicht | |
von Terroristen einschränken lassen wollen. Aber ganz ehrlich: Das tun wir | |
schon längst. Seit 9/11 haben die Überwachungstätigkeiten massiv | |
zugenommen. | |
Was macht Videoüberwachung mit einer Gesellschaft? | |
Da muss ich selbstkritisch sein: Wir geben als Wissenschaft leider zu | |
wenige Antworten auf diese Frage. | |
Und warum gibt es nicht mehr Forschung? | |
Weil diese Frage etwas sehr Technik-deterministisches hat. Als ob man | |
einfach Technik in eine Gesellschaft gibt und – zack! – passiert etwas. Das | |
ist Quatsch. Videoüberwachung gibt es, weil es bestimmte gesellschaftliche | |
Probleme und Entwicklungen und Bedürfnisse gibt, und in diesem Kontext muss | |
man das auch betrachten. | |
Bei Videoüberwachung geht es letztlich um eine Abwägung von Grundrechten. | |
Das Recht, sich unbeobachtet in der Öffentlichkeit zu bewegen, und das | |
Recht auf körperliche Unversehrtheit zum Beispiel. Wie soll jemand diese | |
Abwägung treffen, ohne zu wissen, wie Videoüberwachung wirkt? | |
Ich finde es falsch, das als Abwägung zu sehen. Das stellt Freiheit gegen | |
Sicherheit, und das sind zwei verschiedene Dinge, die natürlich | |
Berührungspunkte haben, die man aber nicht gegeneinander aufrechnen kann. | |
Aber bei Videoüberwachung ist doch genau das der Fall. | |
Ja. Aber nur weil eine technische Lösung für nicht technische Probleme | |
präsentiert wird. Und dazu kommt: Die Überwachung bleibt erhalten, auch | |
wenn der Terror eines Tages weg ist. Niemand baut Kameras ab, weil irgendwo | |
lange nichts mehr passiert ist. Im Gegenteil: Beim nächsten Mal kommen dann | |
die Kameras mit automatischer Gesichtserkennung. Und danach die nächste | |
technische Entwicklung. | |
Im Fall einer Frau, die in der U-Bahn eine Treppe hinuntergestoßen wurde, | |
hat die Polizei sechs Wochen erfolglos ermittelt und erst mit | |
Veröffentlichung der Bilder einen Verdächtigen gefunden. Müssen wir die | |
Technik angesichts solcher Fälle neu bewerten? | |
Gut, dass jemand gefasst wurde. Da hat Videoüberwachung etwas gebracht. | |
Aber sonst? Die Frau ist trotzdem die Treppe runtergefallen, muss in | |
Behandlung, alles Mögliche. Was führt jemanden zu einer solchen Tat? Wie | |
können wir es schaffen, diese Art von Gewalt aus der Gesellschaft zu | |
bringen? Mit Videoüberwachung ist die Strategie: Andere Täter werden | |
abgeschreckt, weil man einen aufgrund der Überwachung gefasst hat. | |
Möglicherweise. Ohne Videoüberwachung ist die Strategie: Man fasst den | |
Täter direkt. | |
Wenn Personal da ist. Oder Menschen mit Zivilcourage. | |
Aber genau da müssen wir hin. Videoüberwachung ist sehr repressiv, das muss | |
man immer im Hinterkopf haben. Denn was wir nicht wissen: Was passiert | |
außerhalb von Fahndungen mit diesen Bildern? Was passiert, wenn wir eines | |
Tages keine nette, demokratische Regierung mehr haben, sondern eine rechte | |
mit Totalitarismusfantasien? Was passieren kann, sehen wir gerade in der | |
Türkei. Und was die Wirksamkeit angeht, schauen wir nach Großbritannien: | |
Hier haben sie sowohl die meisten Kameras als auch eine der höchsten | |
Kriminalitätsraten Europas. | |
Vielleicht ist die Dunkelziffer geringer? | |
Vielleicht. Aber der Chef der Londoner Polizei hat schon 2008 gesagt, dass | |
sie nur 3 Prozent der Straftaten mithilfe der ganzen Kameras aufklären. | |
Videoüberwachung löst keine Probleme. Das müssen wir wissen. Und dann | |
überlegen, wie wir die Probleme lösen wollen, die wir haben. | |
4 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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