# taz.de -- Verdächtiger nach Berliner Anschlag: Der lange Weg des Anis Amri | |
> Er saß auf Sizilien in Haft. In Deutschland wurde er als Gefährder | |
> observiert, fiel aber nur als Kleindealer auf. | |
Bild: Anis Amris ehemalige Nachbarschaft | |
BERLIN/ROM taz | Wo steckt Anis Ben Othman Amri? Der Verdacht, dass der | |
24-jährige Tunesier für den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt an der | |
Berliner Gedächtniskirche verantwortlich ist, hat sich am Donnerstag | |
erhärtet. Die Polizei habe Amris Fingerabdrücke an der Fahrertür und im | |
Fahrerhaus des Lastwagens entdeckt, bestätigt Bundesinnenminister Thomas de | |
Maizière am Donnerstagnachmittag. | |
Bereits seit Mittwoch fahnden die Behörden europaweit öffentlich nach dem | |
Mann: Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt haben die Bevölkerung in | |
einem Aufruf um Mithilfe gebeten, 100.000 Euro Belohnung ausgesetzt – und | |
zugleich gewarnt: „Er könnte gewalttätig und bewaffnet sein!“ Das Schreib… | |
wurde auch auf Arabisch, Dari, Farsi und Urdu veröffentlicht. | |
Auf Amris Spur gekommen sind die Ermittler durch eine Geldbörse, die im | |
Führerhaus des Sattelschleppers lag. Darin steckten seine Duldungspapiere. | |
Dieser Fund mache ihn aber „nicht zwingend“ zum Täter, mahnte der | |
Innenminister noch am Mittwoch. De Maizière ist vorsichtig, nachdem die | |
Behörden zuerst einen pakistanischen Flüchtling festgenommen hatten, der | |
offenkundig unschuldig ist. | |
Über den Tunesier, der nun im Fokus der Ermittlungen steht, ist inzwischen | |
einiges bekannt: 1992 geboren in Tataouine im Süden Tunesiens, nicht weit | |
der libyschen Grenze, wuchs er in Oueslatia auf – einem öden Ort | |
nordwestlich vom touristischen Kairouan, der viertheiligsten Stätte der | |
islamischen Welt. | |
## Aus dem Armutsgürtel des Hinterlands | |
Die 9.000 Einwohner zählende Kleinstadt Oueslatia liegt im Armutsgürtel des | |
Zentraltunesischen Hinterlands, nicht weit entfernt von Sidi Bouzid, wo die | |
tunesischen Aufstände vor rund sechs Jahren ausgebrochen sind und den | |
„Arabischen Frühling“ auslösten. | |
Oueslatia und der Armutsgürtel gehören zu einer Region, die seit | |
Jahrhunderten von jeder Entwicklung abgehängt ist. Heute sind sie auch | |
Zentren der Salafisten, die die größte Moschee des Ortes dominieren. Von | |
hier aus sind viele jugendliche Kämpfer nach Libyen gezogen. | |
Mit 15 Jahren, so berichten tunesische Medien, verlässt Amri die Schule. | |
Von da an schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Seine zehnköpfige | |
Familie soll bis heute unter äußerst bescheidenen Verhältnissen in der | |
Kleinstadt leben. Der Vater ist nach einem Unfall behindert, die Ehe | |
geschieden, berichtet der örtliche Sender Mosaique FM. Und: Auch in | |
Tunesien habe Amri Haft gedroht. Er sei dort in Abwesenheit wegen schweren | |
Raubs zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden, meldet der Sender unter | |
Berufung auf tunesische Sicherheitskreise. | |
Freunde von Amri wollen wissen, dass dieser vor seiner Ausreise nach Europa | |
selbst nicht besonders religiös gewesen sei und auch Alkohol getrunken | |
habe. Auch nach Aussagen des tunesischen Innenministeriums existieren keine | |
Unterlagen zu Amri, welche eine Nähe zu islamistischen Strömungen | |
dokumentierten. | |
Das ist plausibel: Islamistische Bewegungen und vor allem die Salafisten | |
mit ihrem radikalsten Zweig, Ansar al-Scharia, haben erst ab dem Frühjahr | |
2011 weitgehend freie Hand in Tunesien, um desorientierte Jugendliche zu | |
indoktrinieren. | |
## Migration nach dem Sturz des Diktators | |
Der Vater Amris sagt gegenüber dem Sender, Amri habe sein Heimatland vor | |
sieben Jahren – also 2009 – verlassen. Nach Aussagen des tunesischen | |
Innenministeriums hingegen verlässt Amri wie Zehntausende seiner Landsleute | |
Tunesien Anfang 2011 Richtung Italien – kurz nach dem Sturz von Diktator | |
Ben Ali, dem ersten Umsturz des Arabischen Frühlings. | |
Für Italien haben die Turbulenzen in Tunis unmittelbare Folgen: Als | |
Staatschef hat Ben Ali bis dahin engmaschige Kontrollen an der tunesischen | |
Küste garantiert und damit die Abfahrt von Flüchtlingsschiffen über Jahre | |
hinweg fast komplett unterbunden. | |
Anfang 2011 bricht dieses Kontrollsystem zusammen, und allein bis Anfang | |
April jenes Jahres treten etwa 26.000 Tunesier – fast alle junge Männer – | |
die Überfahrt gen Lampedusa und Sizilien an. In einem Abkommen vom 5. April | |
erreicht Italien von der tunesischen Übergangsregierung die Zusage, die | |
Kontrollen wieder aufzunehmen – und alle Tunesier, die nach diesem Datum | |
nach Italien gelangen, wieder zurückzunehmen. | |
Anis Amri soll im Februar 2011 in Italien eingetroffen sein, berichten | |
italienische Medien. Den Behörden dort erklärt der 1992 Geborene, er sei 17 | |
Jahre alt. Deshalb kommt er in ein Heim für minderjährige Flüchtlinge in | |
der sizilianischen Kleinstadt Belpasso unweit von Catania und in die | |
örtliche Schule. | |
Am 24. Oktober 2011 meldet die Website Blogsicilia.it die Festnahme dreier | |
Tunesier. Die drei – darunter Anis Amri – hatten einen Mitarbeiter des | |
Flüchtlingsheims verprügelt und dann einen Brand gelegt. Grund: Ihr | |
Anerkennungsverfahren als Flüchtlinge zieht sich hin, und sie nehmen Anstoß | |
an dem Essen in der Einrichtung. | |
## Vier Jahre Haft | |
Wegen Brandstiftung, Körperverletzung und Bedrohung wird Amri daraufhin zu | |
vier Jahren Haft verurteilt. Er sitzt seine Strafe erst im Jugendgefängnis | |
Catania, dann in Palermo ab. Die Website der Tageszeitung La Stampa | |
berichtet, auch im Gefängnis sei er als „gefährliches Subjekt“ eingestuft | |
worden. Im Mai 2015 wird er aus der Haft entlassen – jedoch unmittelbar in | |
die Abschiebehaftanstalt Caltanissetta überstellt, mit einer | |
Ausweisungsverfügung. | |
Doch wie in den großen Mehrzahl der Fälle gelingt es auch bei Amri nicht, | |
ihn tatsächlich nach Tunesien abzuschieben. Warum? Il Tempo schreibt, | |
Tunesien habe nicht rechtzeitig die benötigten Dokumente ausgestellt. La | |
Repubblica wiederum berichtet, Tunesien habe sich geweigert, Anis Amri | |
zurückzunehmen. Nach 30 Tagen wird er endgültig in die Freiheit entlassen. | |
Wie alle Ausgewiesenen soll er Italien binnen sieben Tagen erlassen. | |
Im Juli 2015 kommt er nach Deutschland. Der junge Tunesier sei „hochmobil“ | |
gewesen, berichtet Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD). | |
Amri taucht zunächst in Freiburg in Baden-Württemberg auf, dann in | |
Nordrhein-Westfalen und Berlin – dort habe er seit Februar 2016 überwiegend | |
gelebt. | |
Ein Asylantrag wird im Juni dieses Jahres vom zuständigen Bundesamt | |
abgelehnt, die Behörden in Kleve (NRW) betreiben seine Ausweisung. Er kann | |
aber nicht abgeschoben werden, weil er keine gültigen Ausweispapiere hat. | |
Erst jetzt hat Tunesien Ersatzpapiere ausgestellt: Sie treffen an diesem | |
Mittwoch ein – zwei Tage nach dem Anschlag in Berlin mit zwölf Toten und | |
fünfzig zum Teil lebensgefährlich Verletzten. | |
## Kontakt zur islamistischen Szene in Deutschland | |
Bis zu dieser Woche ist Amri allerdings auch in Deutschland kein | |
unbeschriebenes Blatt: Mehrere Behörden haben den Mann in den vergangenen | |
Monaten beobachtet. Amri benutzt mehrere Aliasnamen und gilt als | |
„islamistischer Gefährder“. Er soll Kontakt zur radikal-islamistischen | |
Szene gehabt haben. Dafür, dass er zum Kreis des kürzlich verhafteten Abu | |
Walaa gehört, gibt es aber offenbar doch keine Belege. Der Hildesheimer | |
Prediger Abu Walaa ist ein „Chefideologe“ der Salafistenszene. | |
In Berlin ermittelt zeitweise der dortige Generalstaatsanwalt gegen den | |
Tunesier wegen des Verdachts der Vorbereitung einer staatsgefährdenden | |
Gewalttat. Nach Angaben der Behörde hat es Hinweise auf einen geplanten | |
Einbruch gegeben, um Geld für den Kauf von Waffen zu beschaffen – | |
möglicherweise für einen Anschlag. Amri wird daher von März bis September | |
dieses Jahres überwacht. Die Observierung und Überwachung der Kommunikation | |
sei sogar verlängert worden, habe aber keine Hinweise auf ein | |
staatsschutzrelevantes Delikt erbracht, erklärte die oberste Berliner | |
Ermittlungsbehörde. | |
Stattdessen gab es nur Hinweise, dass er als Kleindealer im Görlitzer Park | |
tätig sein könnte, einem bekannten Drogen-Umschlagplatz in Berlin. Diese | |
Erkenntnisse wurden laut Generalstaatsanwaltschaft zur Strafverfolgung an | |
die zuständigen Stellen weitergeleitet, die Observation eingestellt. | |
Zuletzt haben sich die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern im November | |
im Terrorismusabwehrzentrum in Berlin über den jungen Tunesier | |
ausgetauscht. | |
Als die Fahndungsfotos mit dem Antlitz Amris am Donnerstag um die Welt | |
gehen, reagiert die Familie zu Hause im tunesischen Oueslatia entsetzt: | |
„Wenn er das getan hat, dann hat er Schande über uns gebracht“, sagt sein | |
Bruder Abdelkader Amri gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. „Aber ich | |
bin mir sicher, dass er es nicht war.“ Der Bruder sei nach Europa gegangen, | |
um zu arbeiten und der Familie zu helfen. | |
Ein anderer Bruder will es nicht glauben, dass Anis Amri Verbindung zum | |
Terrorismus habe: Anis Amri habe ihm gesagt, dass er im Januar nach | |
Tunesien komme und dass er sich für ein Projekt ein Auto gekauft habe. | |
Gegenüber Sky News Arabia sagt Abdelkader: Wenn Anis ihm zuschaue, würde er | |
ihm sagen wollen: „Möge Gott dir dafür vergeben, dass du uns in diese Lage | |
gebracht hast. Dein Vater und deine Mutter weinen.“ | |
Lesen Sie auch: [1][Inken Bartels über die Flüchtlingspolitik in Tunesien] | |
22 Dec 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Fluechtlingspolitik-in-Tunesien/!5364785 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Edith Kresta | |
Michael Braun | |
Konrad Litschko | |
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