| # taz.de -- Digitalisierung von Politik: Vom Start-up zum Staat-up | |
| > Steuererklärung, Krebsvorsorge, Bankgeschäfte: In Estland geht das mit | |
| > einer ID. Deutschland findet das vorbildlich. Wohin führt das? | |
| Bild: Zu Besuch beim Vorbild: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der estnische M… | |
| Berlin/Tallinn taz | Im Bundeskanzleramt sitzt Staatsminister Helge Braun | |
| in seinem großzügigen Büro vor einer Tasse Kaffee, nimmt einen Keks und | |
| schwärmt von Estland. Von der wundersamen technologischen Entwicklung eines | |
| Musterstaats. „Die Esten haben ihr Land mit Glasfaseranschlüssen | |
| ausgerüstet und ein einheitliches EDV-System aufgebaut“, sagt er. Anders | |
| gesagt: Estland gelingt, was Deutschland schwerfällt. | |
| Helge Braun koordiniert für die Bundeskanzlerin die Beziehung mit den | |
| Bundesländern, auch in Digitalisierungsfragen. „Deutschland effizient zu | |
| digitalisieren“, sagt er, „ist wegen unseres föderalen Staatsaufbaus | |
| schwieriger, denn die Verwaltungen in Ländern und Kommunen nutzen völlig | |
| unterschiedliche IT-Systeme.“ Zudem seien die IT-Strukturen permanent im | |
| Wandel, wenn an der einen Stelle etwas gangbar gemacht worden sei, | |
| verändere sich an anderer Stelle wieder etwas. Braun spricht von der | |
| „Sortierung eines Ameisenhaufens“. | |
| Estland dagegen – 1,3 Millionen Einwohner – organisiert sich wie ein | |
| Start-up: schlank, schnell, experimentierfreudig. | |
| In der Staatskanzlei auf dem Domberg in der Hauptstadt Tallinn empfängt | |
| Siim Sikkut in Jeans und weißem Hemd. Auf seiner Visitenkarte, gekrönt mit | |
| dem Wappen der Staatskanzlei, steht „Berater für digitale Politik“. Er | |
| sagt: „Wir waren politisch kühn genug, es auszuprobieren.“ Er meint die | |
| Digitalisierung der Verwaltung. „eEstonia“ nennt man das hier. | |
| ## Das Ende der Aktenberge | |
| „Das Streben nach Effizienz hat uns angetrieben“, sagt Sikkut. In den | |
| Neunzigern war die Digitalisierung der Verwaltung die Reaktion einer jungen | |
| Nation, die sich gerade von Russland gelöst hatte, einer Nation mit wenig | |
| Geld, ohne Bodenschätze, aber mit IT-Kompetenz. | |
| Das Registrieren eines Unternehmens dauert heute achtzehn Minuten, eine | |
| Steuererklärung drei. Die Bürgerinnen und Bürger können sich mit einer | |
| elektronischen Identitätskarte ausweisen. Sie fungiert als Reisedokument, | |
| als Krankenkassenkarte, mit ihr kann man online wählen und elektronisch | |
| unterschreiben. | |
| Was Sikkut hier skizziert, ist das Ende von Aktenbergen, die auf Wägelchen | |
| durch Flure geschoben werden. Eine praktische Entwicklung, wie man sie sich | |
| immer dann wünscht, wenn man im Wartesaal vor dem Amt sitzt. | |
| Es handle sich um „ein umfassendes System, das auch den Datenschutz | |
| sicherstellt“, sagt Helge Braun in Berlin – „weil die Bürger nachvollzie… | |
| können, welche Daten gespeichert sind und wer sie eingesehen hat. Wenn | |
| staatliche Stellen dann ohne plausiblen Grund Einsicht nehmen, fällt das | |
| auf, und die Bürger können einen möglichen Missbrauch melden.“ | |
| ## Welche Probleme werden gelöst, welche entstehen? | |
| Wenn man Brauns Büro wieder verlässt, hat man den Eindruck: Die digitale | |
| Zukunft der politischen Verwaltung [1][nach estnischem Vorbild] ist | |
| unausweichlich. Die Frage ist aber nicht nur: Welche Probleme werden damit | |
| gelöst? Sondern auch: Gibt es dafür andere? | |
| Wann immer es um die Digitalisierung geht, taucht der Begriff Disruption | |
| auf. Er beschreibt, wie die Digitalisierung ganze Geschäftsfelder umpflügt. | |
| Google und Facebook bringen die Medienbranche ins Wanken. Airbnb krempelt | |
| den Tourismus um. Solche Umwälzungen sind auch in der Automobilindustrie zu | |
| beobachten, in der Versicherungswirtschaft, im Finanz- und Bankwesen. | |
| Was aber würde eine Disruption von Politik bedeuten? Was bedeutet die | |
| Digitalisierung für die Demokratie? | |
| Deutschland, 2015. Dass immer mehr Geflüchtete Deutschland erreichen, | |
| verändert nicht nur die politische Gravitation in ganz Europa. Sondern | |
| wirkt auch wie ein Katalysator für die Digitalisierung der Verwaltung. | |
| Bei Asylverfahren müssen alle Verwaltungsebenen miteinander kooperieren – | |
| der Bund, weil er für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig | |
| ist, die Länder mit ihren Verwaltungsgerichten, die Kommunen mit den | |
| Sozial- und Ausländerämtern. „Zwischen den beteiligten Behörden wurden | |
| Akten wie beim Pingpong hin- und hergeschickt“, sagt Staatsminister Braun. | |
| Papierakten. | |
| Mit tausenden Hilfesuchenden täglich geriet das System an die | |
| Belastungsgrenze. Im September 2015 stimmten die Ministerpräsidenten einem | |
| riesigen EDV-Projekt zu, mit Pilotcharakter für die Digitalisierung der | |
| deutschen Verwaltung. Das war die Stunde von Klaus Vitt, dem | |
| Bundesbeauftragten für Informationstechnik, angesiedelt im | |
| Innenministerium. | |
| Er sollte ein einheitliches System entwickeln, vor allem eine umfassende | |
| Kerndatenbank, in der jeder Asylsuchende registriert ist. Drei Jahre würde | |
| das dauern, so die ursprüngliche Prognose. Der Informatiker Vitt musste es | |
| in sechs Monaten schaffen – und schaffte es. | |
| ## Das neue Asylsystem | |
| Bundesinnenministerium, Juni 2016. Klaus Vitt spricht präzise. Kollegen | |
| loben seine Zuverlässigkeit und sein strukturiertes Denken. „In der | |
| Verwaltung bedeutet Digitalisierung eine zunehmende Automatisierung von | |
| administrativen Abläufen“, sagt er, der Satz schwebt kurz in der Luft. | |
| Schon davor existierte ein IT-System, das automatisch entscheidet, wohin | |
| Asylsuchende in Deutschland verteilt werden, aber ohne personenbezogene | |
| Daten. Sein Algorithmus, der Königsteiner Schlüssel, gewichtet | |
| Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Länder. | |
| Dann begann Vitt, die Kerndatenbank aufzubauen. Bundeseinheitlich. | |
| Entwickelt wurde die „Personalisierungsinfrastrukturkomponente“. Die | |
| Einheit besteht aus Fingerabdrucksensor, Drucker, Kamera. Bei der | |
| Registrierung werden die Geflüchteten digital vermessen, ihre Daten | |
| gespeichert, und sie erhalten sofort den Auskunftsnachweis mit | |
| biometrischem Foto, Wasserzeichen und Identifikationsnummer. | |
| Standardisiert. Dieser Nachweis ist Voraussetzung für alle Leistungen. Nun | |
| existiert ein System, das Menschen digital mit biometrischen Informationen | |
| verwaltet, auf die bundesweit zugegriffen werden kann. So ist | |
| nachvollziehbar, wer sich im Land befindet, welchen Status sein | |
| Aufenthaltsbegehren hat. Mehrfachregistrierungen werden so verhindert. | |
| Kritiker sagen: Beim Asylverfahren wird die Digitalisierung an Menschen | |
| erprobt, die sich schlecht wehren können – die meisten von ihnen haben | |
| keine Wahl, keine Lobby, viele von ihnen auch kaum Kenntnisse des deutschen | |
| Rechts. | |
| Klaus Vitt spricht davon, dass dieses Verfahren eine „Blaupause“ sein könne | |
| „für die Digitalisierung in anderen Bereichen, denn es zeigt, was machbar | |
| ist“. Es ist bereits eine Grundgesetzänderung auf dem Weg, die digitale | |
| Verwaltungsdienstleistungen der Länder verbindlich vorschreibt. Es soll ein | |
| Portal für alle deutschen Bürger geschaffen werden, über das „sie – von … | |
| Bundeskompetenzen über die Länderkompetenzen bis zu den kommunalen | |
| Zuständigkeiten – Zugriff auf alle für sie relevanten Vorgänge haben“, w… | |
| Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich sagte. | |
| ## Datenbanken wecken Begehrlichkeiten | |
| Auf EU-Ebene passiert Ähnliches. Datenbanken von Polizei und Geheimdiensten | |
| werden auf- und ausgebaut. Die Frage ist nur: Wenn man solche Portale erst | |
| einmal hat, muss man dann nicht davon ausgehen, dass sie auch zu anderen | |
| Zwecken genutzt werden könnten? | |
| Eurodac etwa, eine europäische Datenbank, sollte ursprünglich nur die | |
| Fingerabdrücke von Asylbewerbern speichern, um Mehrfachanträge zu | |
| verhindern. Dann aber sei der Zugriff auf allgemeinpolizeiliche Zwecke | |
| ausgedehnt worden, heißt es aus der Opposition des Bundestags. | |
| Auch in Deutschland sind solche Begehrlichkeiten gut denkbar. Als Anfang | |
| Oktober publik wurde, dass ein Asylsuchender einen Anschlag geplant hatte, | |
| plädierten CSU-Politiker für den Zugriff der Geheimdienste auf Vitts | |
| Kerndatenbank. | |
| Wie kommt es, dass in Estland alles recht widerspruchslos verläuft? 95 | |
| Prozent der Esten nutzen mindestens einen der vielen existierenden | |
| „eServices“. An jeder Supermarktkasse ziehen Kunden, ohne mit der Wimper zu | |
| zucken, ihren Personalausweis durch den Kartenleser, bevor sie mit der | |
| Bankkarte bezahlen. Bonuspunkte sammeln, Steuererklärung machen, Wohnsitz | |
| ummelden – alles geht mit derselben elektronischen ID. Die Bürgernummer, | |
| mit der sie verknüpft ist, macht jeden Esten eindeutig identifizierbar. | |
| Und über sie wird in Estland weit mehr geregelt als die Interaktionen | |
| zwischen Staat und Bürger. Sie ist Kundennummer beim Mobilfunkbetreiber; | |
| Nutzernummer in der Bibliothek, die ID wird als Busticket und | |
| Gesundheitskarte genutzt. Eltern können über die Bürgernummer sogar die | |
| Schulnoten ihrer Kinder abrufen. All die Daten sind dezentral nur beim | |
| jeweiligen Dienst gespeichert und werden verschlüsselt übertragen. Im | |
| Alltag ist das praktisch. Und laut der estnischen Regierung ist das System | |
| so gut abgesichert, dass nicht einmal jemand, der Zugriff auf die | |
| Bürgernummer bekommt, alles über einen Menschen weiß. | |
| Wer misstrauisch ist, kann freilich sagen: Das gilt nur, bis das System | |
| gehackt wird. | |
| ## Vertrauen ist die Basis | |
| Estlands Regierungsberater Siim Sikkut sagt: „Das ist wie in unserem | |
| Privatleben: Wir nutzen die Gmails und Hotmails dieser Welt, weil sie unser | |
| Leben einfacher machen. Und denen vertraut man wahrscheinlich noch viel | |
| sensiblere Dinge an als der Regierung.“ Das „eGovernance“-System seines | |
| Landes basiert auf Vertrauen. | |
| Robert Krimmer ist Professor für „eGovernance“ an der TU in Tallinn. Er, | |
| ein bärtiger Österreicher, sagt: „Die Esten sind da schon sehr | |
| kompromisslos: Es muss jeder alles digital machen, auch die 80-jährige | |
| Oma.“ Das Land sei klein, der soziale Zusammenhalt ausgeprägt. Ein Land, | |
| das nach seiner Unabhängigkeit von Russland schnell sein wollte und modern. | |
| Und so erfand es sich als Pionier im „eGovernment“. Effizient und | |
| neoliberal. | |
| Es gibt einen Showroom nahe dem Tallinner Flughafen, in dem [2][„eEstonia“] | |
| als großartiges Projekt präsentiert wird. Gedämpftes Licht, | |
| Flachbildschirme. Start-up-Atmosphäre. Indrek Önnik, der Projektmanager, | |
| gescheitelter Undercut und rosa Krawatte, jagt durch eine | |
| Powerpoint-Präsentation. Er erklärt die Zeitersparnis durch die | |
| Digitalisierung von Verwaltungsabläufen. Önnik spricht von einer | |
| „Neudefinition von Regierungsführung“. Davon, dass es nicht einmal mehr die | |
| eID-Karte brauche, weil man längst auch mobile ID-Simkarten entwickelt | |
| habe, die, ins Smartphone gesteckt, das Gleiche können. „Der Bürger ist ein | |
| Konsument, in gewisser Weise“, sagt er. | |
| Er ruft eine Website auf, über die jeder Este kontrollieren kann, wer auf | |
| seine Daten zugegriffen hat. Transparenz gegen Missbrauch: Estland hat | |
| strenge Regeln aufgestellt, nach denen die dezentral gespeicherten | |
| Datensätze zusammengeführt werden können. Das Credo: Daten gehören den | |
| Bürgern. Der Staat verwaltet sie nur. Önnik loggt sich ein. Ein Blick auf | |
| die Leinwand enthüllt, welche Automarke er fährt, bei welcher Bank er Kunde | |
| ist und wann die das letzte Mal Informationen über ihn abgerufen hat. In | |
| einigen Fällen können Bürger den Zugriff auf ihre Daten verbieten. | |
| Das estnische Internetwahlverfahren nennt „eGovernance“-Forscher Robert | |
| Krimmer „das fortgeschrittenste, das heute weltweit bei rechtsgültigen | |
| Wahlen landesweit im Einsatz ist“. Bis jetzt seien keine ernsthaften | |
| Probleme bei Abstimmungen bekannt geworden. Onlinewahlsysteme sind sein | |
| Spezialgebiet, früher untersuchte er sie im Dienst der OSZE. Krimmer sagt | |
| aber auch: Auf die Frage, wie er die Internetwahlen in Estland schütze, | |
| würde deren Organisator antworten, er kenne alle Internetadministratoren | |
| des Landes. Und wenn ein Angriff passiere, rufe er die an, und gemeinsam | |
| schalte man das kleine Estland offline. Und schotte sich so gegen Angriffe | |
| von außen ab. | |
| 2014 veröffentlichte eine Gruppe um Forschern der Universität Michigan eine | |
| [3][Studie], in der sie Schwachstellen in Estlands Onlinewahlsystem | |
| offenlegten. Über Malware-Infektionen sei es möglich, sowohl die abgegebene | |
| Stimme des Wählers zu verändern als auch das Auszählungsergebnis, das die | |
| Server ausspucken. Sie kritisierten, dass „eVoting“-Verantwortliche bei der | |
| Vorbereitung der Wahl mit unverschlüsselten Internetverbindungen und | |
| Privatrechnern operierten. Ihre Empfehlung: Rückkehr zur Papierabstimmung. | |
| Spricht man Regierungsberater Sikkut auf die Studie an, verschränkt er die | |
| Arme. Das Angriffsszenario sei theoretisch und unwahrscheinlich gewesen. | |
| Die Fehler seien behoben. „Wir sagen: Vertrauen Sie Ihrem Gerät? Falls | |
| nicht, dann wählen Sie nicht darauf.“ Das Vertrauen der Esten ins „eVoting… | |
| ist aber ungebrochen: Der Anteil der online abgegebenen Stimmen steigt | |
| kontinuierlich. 30,1 Prozent der Esten wählten 2015 digital. Damit sind sie | |
| Avantgarde. | |
| Dass das Onlinewahlsystem seiner mangelnden Transparenz wegen problematisch | |
| sein kann, sah man gerade in den USA, wo die Ergebnisse einiger | |
| Wahlcomputer angezweifelt wurden. Mag es im Fall von Bürgerkarten und eIDs | |
| noch um Datenschutzfragen gehen, ist mit Onlineabstimmungen ein Kernbereich | |
| der Demokratie betroffen. | |
| ## Eine unsichtbare Regierung | |
| Estland aber plant weitere digitale Dienstleistungen. „Invisible Services“ | |
| nennt Sikkut diese Vorhaben, bei denen der Staat auf Veränderungen im Leben | |
| seiner Bürger reagiert. Ein Baby ist geboren? Warum die Eltern von Amt zu | |
| Amt rennen lassen – besser: proaktiv nachfragen, wie sie ihr Kind nennen. | |
| Kindergeld? Automatisch überweisen. Firmen, die dem Staat aktiv Zugriff auf | |
| Geschäftskonten und Finanzmanagement-Software geben, müssen keine | |
| Steuererklärung mehr machen. „Radikale Effizienz, die wir ganz besonders | |
| für Unternehmen aufbauen möchten“, sagt Sikkut. | |
| Was die Transaktionen zwischen Bürgern und Staat angeht, könne Estlands | |
| Regierung innerhalb der kommenden zehn Jahre unsichtbar werden. „eServices“ | |
| allerorten. Kaum bürokratische Hindernisse. | |
| Je stärker Politik und Verwaltung digitalisiert stattfinden, desto mehr | |
| schwinden aber auch die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft. | |
| Das Softwaresystem xRoad etwa, das Rückgrat von „eEstonia“, organisiert und | |
| sichert den Austausch aller privatwirtschaftlichen und öffentlichen Daten | |
| innerhalb des Systems. Entwickelt hat es, genau wie das elektronische | |
| Wahlsystem, die Firma Cybernetica, eine Ausgründung des früheren Instituts | |
| für Kybernetik in Tallinn. | |
| Drehtüreffekte, Wechsel von öffentlichen und privaten Posten, sind im | |
| kleinen Estland keine Seltenheit. Taavi Kotka etwa, Estlands „Chief | |
| Information Officer“, kurz CIO, der eng mit Siim Sikkut zusammenarbeitet, | |
| war zuvor Geschäftsführer einer der größten Softwareentwicklungsfirmen im | |
| Baltikum. Personalien wie diese erklären, woher die Start-up-Mentalität der | |
| Regierung rührt. Sie werfen aber auch das Problem enger Verwebungen | |
| privatwirtschaftlicher und politischer Interessen auf. | |
| ## CIO der Regierung | |
| CIO: Unter diesem Titel wird auch der deutsche Staatssekretär Klaus Vitt | |
| geführt. „Das ist keine offizielle Bezeichnung. Ich bin der | |
| Bundesbeauftragte für Informationstechnik. CIO werde ich trotzdem öfter | |
| genannt“, sagt er, „weil sich das in Unternehmen so etabliert hat.“ Nur, | |
| eine Regierung ist kein Unternehmen. | |
| IT-Riesen wie Microsoft haben Geschäftsfelder für den öffentlichen Sektor | |
| eröffnet. Google stellt IT-Lösungen speziell für Behörden vor. Der | |
| Politikprofessor Lawrence Quill von der San José State University wurde in | |
| der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert: „Die große Frage ist nicht, ob | |
| Google die Politik überschreibt, sondern, ob Politiker ihre | |
| Verantwortlichkeit an Technologiekonzerne abgeben, die versprechen, | |
| politische Probleme zu lösen. Es gibt Indizien, dass das schon passiert.“ | |
| Das Problem ist: Konzerne haben andere Interessen als ein Gemeinwesen. | |
| Und auch in Deutschland beschleunigt sich der Verquickungsprozess. | |
| Berlin, Alexanderplatz, im Juni. Hochrangige Vertreter von IT-Riesen und | |
| Beratungsfirmen, Mitarbeiter aus Verwaltung, Ministerialbeamte und Minister | |
| treffen sich zum „4. Zukunftskongress Staat & Verwaltung“. IBM, SAP, Datev | |
| preisen ihre Produkte. Microsoft, die Bertelsmann-Tochter Arvato, Ernst & | |
| Young sind vertreten. | |
| Und Ursula von der Leyen ist auch da. Sie stellte die erste weibliche | |
| Staatssekretärin im Verteidigungsministerium ein, sie kam von der | |
| Unternehmensberatung McKinsey. Von der Leyen bezeichnet die Bundeswehr als | |
| „eine Art Mischkonzern“, der „an die Privatwirtschaft Aufträge in Höhe … | |
| 14 Milliarden Euro“ vergebe. Früher hätten Mitarbeiter die Panzerbestände | |
| händisch prüfen müssen, ohne Datenbank. Hüstel. Unter ihrer Amtsführung | |
| baute die Bundeswehr die Abteilung für digitalen Krieg auf: „Cyber/IT“. Das | |
| Konzept stammt von einem jungen Herrn von McKinsey. Der lobt bei einer | |
| Tagung die Kooperation zwischen Militär und Wirtschaft in den USA. Von der | |
| Leyen erwähnt fast nebenher: „In der Verwaltung führen wir ein System ein, | |
| um mit Big Data umgehen zu können.“ | |
| Big Data. Unfassbar große Datenmengen, die exponentiell wachsen. 2015 | |
| entstanden so viele Daten wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. | |
| Aus Korrelationen riesiger Datenmengen lassen sich Klimaentwicklungen | |
| prognostizieren oder potenzielle Tatorte vorhersagen. | |
| Helge Braun, der Mann aus dem Kanzleramt, sagt: „Mithilfe von Big Data | |
| Stimmungsauswertungen zu betreiben, das machen wir als Regierung nicht. Das | |
| geht beim deutschen Datenschutz auch gar nicht.“ Auf dem Kongress in Berlin | |
| gibt es jedoch sogar Veranstaltungen dazu, wie die öffentliche Verwaltung | |
| Social-Media-Monitoring einsetzen kann, um mehr über Präferenzen und | |
| Verhaltensmuster der Bevölkerung zu lernen. | |
| ## Wollen wir das wirklich? | |
| Klaus Vitt, der CIO der Regierung, hat noch weitere Ideen, wie man die | |
| Digitalisierung in Deutschland vorantreiben könnte. Abstimmungsprozeduren | |
| oder die Bewertung der Wirkung von Gesetzen könnten automatisiert werden. | |
| „Wenn Sie eine inhaltliche Änderung an einem Gesetz vornehmen möchten, | |
| müssen Sie wissen, welche Stellen in dem Gesetz betroffen sind und welche | |
| Auswirkungen die Änderungen auf andere Stellen in dem Gesetz oder bei | |
| anderen Gesetzen haben könnten“, sagt er. Eine Software könnte diese | |
| Stellen anzeigen, sie könnten auf dieser Basis überarbeitet werden. | |
| Systeme, die Gesetzestexte lesen und in die Prozesse der Legislative | |
| eingeschaltet werden. Die IT‑Branche hat das Thema auch entdeckt. | |
| Fragt man den Esten Siim Sikkut, ob Analysen von Bevölkerungsdaten in | |
| Gesetzgebungsprozesse einfließen, sagt er: „Wir hinken beim Aufbau von | |
| Analysefähigkeiten hinterher.“ Die Priorität sei zunächst, die | |
| Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben und nicht den Aufbau von | |
| Prognosemodellen und Big-Data-Analysen. Stand heute. | |
| In Estland gibt es das „eCabinet“. Ein System, über das Minister ihre | |
| Treffen papierlos vorbereiten, und über das sie sich gegenseitig | |
| Anmerkungen schicken und Vorabstimmungen vornehmen können – sodass Themen, | |
| über die Konsens besteht, im Austausch von Angesicht zu Angesicht gar nicht | |
| mehr zur Sprache kommen müssen. Auch hier stellen sich ähnliche Fragen wie | |
| bei den Bürger- und Wahldaten: Wie sicher und unmanipulierbar ist und kann | |
| das sein? | |
| Berliner Gendarmenmarkt im November. In der Lobby eines noblen Hotels | |
| wartet Yvonne Hofstetter, die Geschäftsführerin einer Firma, die künstliche | |
| Intelligenz entwickelt – selbstlernende Systeme. Sie ist eine der | |
| bekanntesten Stimmen in der Digitalisierungsdebatte. Nun hat sie ein neues | |
| Buch geschrieben. „Die Bürger ahnen nicht, wie weit die Forschung | |
| fortgeschritten ist“, heißt es darin. „Wenn die Massendatenanalyse, Big | |
| Data, Millionen Menschen, Maschinen und Betriebe erfassen und analysieren | |
| konnte, um ihr Verhalten maschinell zu manipulieren – wäre es dann nicht | |
| naheliegend, die ganze Gesellschaft auf diese Weise zu regeln?“ Die Frage, | |
| die Hofstetter aber aufwirft, lautet: Wollen wir das wirklich? | |
| Hofstetter ist unter den Unterzeichnerinnen der [4][„Charta der digitalen | |
| Grundrechte der Europäischen Union“], die dieser Tage veröffentlicht wurde. | |
| Auch künstliche Intelligenz spielt darin eine Rolle. „Ethisch-normative | |
| Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden“, heißt es. | |
| Sie mahnt, der Weg in eine Diktatur sei nicht weit, schon deshalb, weil der | |
| Mensch an Selbstbestimmung einbüßt, wenn sein Verhalten auf Datenbasis | |
| prognostiziert wird. Ein Trend, der sich noch verstärkt durch das, was | |
| Hofstetter Umgebungsintelligenz nennt: Sensoren, die praktisch jede | |
| Lebensregung von Individuen aufzeichnen, Softwaresysteme, die all diese | |
| Aufzeichnungen auswerten und für uns vorausdenken. Die, zum Beispiel, freie | |
| Parkflächen erkennen oder Versicherungskonditionen für Autoeigner nach dem | |
| Fahrverhalten errechnen. Verschränkt die Politik ihre Daten zunehmend mit | |
| denen der Wirtschaft, könnte so nicht nur vorentschieden werden, welche | |
| Musik wir mögen und wohin die nächste Urlaubsreise gehen soll – sondern | |
| auch, welches Gesetz vernünftig wäre. | |
| Passiert dies, entstünde eine „Herrschaft durch niemanden“: Regierungen | |
| müssten keine Rechenschaft ablegen – sie führen doch nur datengestützte | |
| Vorschläge von Algorithmen aus. Unternehmen könnten für das Wirken ihrer | |
| zunehmend selbstständigen künstlichen Intelligenzen nicht mehr haftbar | |
| gemacht werden. Öffentlichkeiten würden fragmentiert. Die Maschinen machten | |
| mit ihren Berechnungen die Norm zum Maß aller Entscheidungen. Hofstetter | |
| sieht darin das Ende des selbstbestimmten Menschen. | |
| „In dem Maße, in dem ich Freiheitsrechte in der digitalen Ära einschränke, | |
| bringe ich die Demokratie in einen Zustand, in dem sie defekt wird“, sagt | |
| sie. „Das ist dann vielleicht noch nicht Autokratie, aber sie funktioniert | |
| auch nicht mehr richtig.“ Sie sagt aber auch, dass Gesetze, wie wir sie | |
| kennen, gerade 200 Jahre alt seien und in einer multikomplexen, | |
| digitalisierten Welt womöglich an ihr Ende kämen. „Wir steigern die | |
| Komplexität ins Unermessliche. Wir wissen zugleich, dass in komplexen | |
| Systemen die Gesetzgebung versagt.“ Man sieht das, wenn Innovationen der | |
| digitalen Privatwirtschaft in immer mehr Gesellschaftsbereichen alles über | |
| den Haufen wirft. Wie altbacken gesetzliche Regulierungsversuche vielerorts | |
| wirken, kann man an der Hatespeech-Debatte mit Facebook beobachten oder am | |
| Versuch, Regeln für den Taxidienst Uber zu finden. | |
| Hofstetters Gedankenspiel ist keine Science-Fiction; es lassen sich Anfänge | |
| eines hybriden Staates ausmachen, der sich digitalisiert, um sich | |
| automatisieren zu können. Dahinter steht die Idee einer in Echtzeit | |
| reagierenden Politik, deren selbstlernende Software sich anpasst und bei | |
| auftretenden gesellschaftlichen Herausforderungen problemlos modifiziert. | |
| Es ist eine Politik, die auf der IT-Infrastruktur privater Konzerne fußt. | |
| Macht sich Politik aber überflüssig, wenn sie Prozesse und Prozeduren | |
| automatisiert? | |
| ## Eine Probe für den Ernstfall | |
| In Estland gehen die Überlegungen derzeit gar hin zur kompletten | |
| Virtualisierung des Staats in virtual data embassies: Nachdem der Großteil | |
| der Verwaltungstätigkeit ins Netz gewandert ist, könne man Back-ups all | |
| dieser Daten in der Cloud lagern. Auf Servern im Ausland. | |
| Es ist eine Ernstfallerprobung, und Ernstfall heißt für Estland – ob nun | |
| klar ausgesprochen oder nicht – eine Invasion Russlands. Mit | |
| „eGovernance“-Daten in der Wolke könnte Estland sogar weiter funktionieren, | |
| wenn es kein physisches Territorium oder keine Kontrolle mehr darüber | |
| hätte. | |
| Als erster Standort für die Server, auf denen diese Verwaltungskopien | |
| liegen sollten, stellte man sich estnische Botschaften auf der ganzen Welt | |
| vor. Aus Mangel an IT-Personal will man nun aber einen privaten Konzern ins | |
| Boot holen. Und hat – unverbindlich natürlich – mit Microsoft ein Konzept | |
| entwickelt. Pragmatisch, nennt eGovernance-Forscher Robert Krimmer das. Und | |
| Regierungsberater Sikkut sagt: „Ob Microsoft oder nicht: Wir müssen mit | |
| Partnern zusammenarbeiten, auf die wir uns jederzeit voll verlassen | |
| können.“ Insbesondere auf Regierungen, auf deren Territorium die Daten dann | |
| gehostet wären. Davon gebe es nicht viele. | |
| Wovon hier die Rede ist, ist eine Neuerfindung des Staates: eines | |
| digitalisierten Staates, der unabhängig von seinem Territorium | |
| funktionieren könnte, aber abhängig von den Diensten eines privaten | |
| Konzerns wäre. Es ist riskant. | |
| 9 Dec 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/05/2016-05-24-digita… | |
| [2] https://e-estonia.com/ | |
| [3] https://www.theguardian.com/technology/2014/may/12/estonian-e-voting-securi… | |
| [4] https://digitalcharta.eu/ | |
| ## AUTOREN | |
| Meike Laaff | |
| Kai Schlieter | |
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