# taz.de -- Digitalisierung von Politik: Vom Start-up zum Staat-up | |
> Steuererklärung, Krebsvorsorge, Bankgeschäfte: In Estland geht das mit | |
> einer ID. Deutschland findet das vorbildlich. Wohin führt das? | |
Bild: Zu Besuch beim Vorbild: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der estnische M… | |
BERLIN/TALLINN taz | Im Bundeskanzleramt sitzt Staatsminister Helge Braun | |
in seinem großzügigen Büro vor einer Tasse Kaffee, nimmt einen Keks und | |
schwärmt von Estland. Von der wundersamen technologischen Entwicklung eines | |
Musterstaats. „Die Esten haben ihr Land mit Glasfaseranschlüssen | |
ausgerüstet und ein einheitliches EDV-System aufgebaut“, sagt er. Anders | |
gesagt: Estland gelingt, was Deutschland schwerfällt. | |
Helge Braun koordiniert für die Bundeskanzlerin die Beziehung mit den | |
Bundesländern, auch in Digitalisierungsfragen. „Deutschland effizient zu | |
digitalisieren“, sagt er, „ist wegen unseres föderalen Staatsaufbaus | |
schwieriger, denn die Verwaltungen in Ländern und Kommunen nutzen völlig | |
unterschiedliche IT-Systeme.“ Zudem seien die IT-Strukturen permanent im | |
Wandel, wenn an der einen Stelle etwas gangbar gemacht worden sei, | |
verändere sich an anderer Stelle wieder etwas. Braun spricht von der | |
„Sortierung eines Ameisenhaufens“. | |
Estland dagegen – 1,3 Millionen Einwohner – organisiert sich wie ein | |
Start-up: schlank, schnell, experimentierfreudig. | |
In der Staatskanzlei auf dem Domberg in der Hauptstadt Tallinn empfängt | |
Siim Sikkut in Jeans und weißem Hemd. Auf seiner Visitenkarte, gekrönt mit | |
dem Wappen der Staatskanzlei, steht „Berater für digitale Politik“. Er | |
sagt: „Wir waren politisch kühn genug, es auszuprobieren.“ Er meint die | |
Digitalisierung der Verwaltung. „eEstonia“ nennt man das hier. | |
## Das Ende der Aktenberge | |
„Das Streben nach Effizienz hat uns angetrieben“, sagt Sikkut. In den | |
Neunzigern war die Digitalisierung der Verwaltung die Reaktion einer jungen | |
Nation, die sich gerade von Russland gelöst hatte, einer Nation mit wenig | |
Geld, ohne Bodenschätze, aber mit IT-Kompetenz. | |
Das Registrieren eines Unternehmens dauert heute achtzehn Minuten, eine | |
Steuererklärung drei. Die Bürgerinnen und Bürger können sich mit einer | |
elektronischen Identitätskarte ausweisen. Sie fungiert als Reisedokument, | |
als Krankenkassenkarte, mit ihr kann man online wählen und elektronisch | |
unterschreiben. | |
Was Sikkut hier skizziert, ist das Ende von Aktenbergen, die auf Wägelchen | |
durch Flure geschoben werden. Eine praktische Entwicklung, wie man sie sich | |
immer dann wünscht, wenn man im Wartesaal vor dem Amt sitzt. | |
Es handle sich um „ein umfassendes System, das auch den Datenschutz | |
sicherstellt“, sagt Helge Braun in Berlin – „weil die Bürger nachvollzie… | |
können, welche Daten gespeichert sind und wer sie eingesehen hat. Wenn | |
staatliche Stellen dann ohne plausiblen Grund Einsicht nehmen, fällt das | |
auf, und die Bürger können einen möglichen Missbrauch melden.“ | |
## Welche Probleme werden gelöst, welche entstehen? | |
Wenn man Brauns Büro wieder verlässt, hat man den Eindruck: Die digitale | |
Zukunft der politischen Verwaltung [1][nach estnischem Vorbild] ist | |
unausweichlich. Die Frage ist aber nicht nur: Welche Probleme werden damit | |
gelöst? Sondern auch: Gibt es dafür andere? | |
Wann immer es um die Digitalisierung geht, taucht der Begriff Disruption | |
auf. Er beschreibt, wie die Digitalisierung ganze Geschäftsfelder umpflügt. | |
Google und Facebook bringen die Medienbranche ins Wanken. Airbnb krempelt | |
den Tourismus um. Solche Umwälzungen sind auch in der Automobilindustrie zu | |
beobachten, in der Versicherungswirtschaft, im Finanz- und Bankwesen. | |
Was aber würde eine Disruption von Politik bedeuten? Was bedeutet die | |
Digitalisierung für die Demokratie? | |
Deutschland, 2015. Dass immer mehr Geflüchtete Deutschland erreichen, | |
verändert nicht nur die politische Gravitation in ganz Europa. Sondern | |
wirkt auch wie ein Katalysator für die Digitalisierung der Verwaltung. | |
Bei Asylverfahren müssen alle Verwaltungsebenen miteinander kooperieren – | |
der Bund, weil er für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig | |
ist, die Länder mit ihren Verwaltungsgerichten, die Kommunen mit den | |
Sozial- und Ausländerämtern. „Zwischen den beteiligten Behörden wurden | |
Akten wie beim Pingpong hin- und hergeschickt“, sagt Staatsminister Braun. | |
Papierakten. | |
Mit tausenden Hilfesuchenden täglich geriet das System an die | |
Belastungsgrenze. Im September 2015 stimmten die Ministerpräsidenten einem | |
riesigen EDV-Projekt zu, mit Pilotcharakter für die Digitalisierung der | |
deutschen Verwaltung. Das war die Stunde von Klaus Vitt, dem | |
Bundesbeauftragten für Informationstechnik, angesiedelt im | |
Innenministerium. | |
Er sollte ein einheitliches System entwickeln, vor allem eine umfassende | |
Kerndatenbank, in der jeder Asylsuchende registriert ist. Drei Jahre würde | |
das dauern, so die ursprüngliche Prognose. Der Informatiker Vitt musste es | |
in sechs Monaten schaffen – und schaffte es. | |
## Das neue Asylsystem | |
Bundesinnenministerium, Juni 2016. Klaus Vitt spricht präzise. Kollegen | |
loben seine Zuverlässigkeit und sein strukturiertes Denken. „In der | |
Verwaltung bedeutet Digitalisierung eine zunehmende Automatisierung von | |
administrativen Abläufen“, sagt er, der Satz schwebt kurz in der Luft. | |
Schon davor existierte ein IT-System, das automatisch entscheidet, wohin | |
Asylsuchende in Deutschland verteilt werden, aber ohne personenbezogene | |
Daten. Sein Algorithmus, der Königsteiner Schlüssel, gewichtet | |
Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Länder. | |
Dann begann Vitt, die Kerndatenbank aufzubauen. Bundeseinheitlich. | |
Entwickelt wurde die „Personalisierungsinfrastrukturkomponente“. Die | |
Einheit besteht aus Fingerabdrucksensor, Drucker, Kamera. Bei der | |
Registrierung werden die Geflüchteten digital vermessen, ihre Daten | |
gespeichert, und sie erhalten sofort den Auskunftsnachweis mit | |
biometrischem Foto, Wasserzeichen und Identifikationsnummer. | |
Standardisiert. Dieser Nachweis ist Voraussetzung für alle Leistungen. Nun | |
existiert ein System, das Menschen digital mit biometrischen Informationen | |
verwaltet, auf die bundesweit zugegriffen werden kann. So ist | |
nachvollziehbar, wer sich im Land befindet, welchen Status sein | |
Aufenthaltsbegehren hat. Mehrfachregistrierungen werden so verhindert. | |
Kritiker sagen: Beim Asylverfahren wird die Digitalisierung an Menschen | |
erprobt, die sich schlecht wehren können – die meisten von ihnen haben | |
keine Wahl, keine Lobby, viele von ihnen auch kaum Kenntnisse des deutschen | |
Rechts. | |
Klaus Vitt spricht davon, dass dieses Verfahren eine „Blaupause“ sein könne | |
„für die Digitalisierung in anderen Bereichen, denn es zeigt, was machbar | |
ist“. Es ist bereits eine Grundgesetzänderung auf dem Weg, die digitale | |
Verwaltungsdienstleistungen der Länder verbindlich vorschreibt. Es soll ein | |
Portal für alle deutschen Bürger geschaffen werden, über das „sie – von … | |
Bundeskompetenzen über die Länderkompetenzen bis zu den kommunalen | |
Zuständigkeiten – Zugriff auf alle für sie relevanten Vorgänge haben“, w… | |
Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich sagte. | |
## Datenbanken wecken Begehrlichkeiten | |
Auf EU-Ebene passiert Ähnliches. Datenbanken von Polizei und Geheimdiensten | |
werden auf- und ausgebaut. Die Frage ist nur: Wenn man solche Portale erst | |
einmal hat, muss man dann nicht davon ausgehen, dass sie auch zu anderen | |
Zwecken genutzt werden könnten? | |
Eurodac etwa, eine europäische Datenbank, sollte ursprünglich nur die | |
Fingerabdrücke von Asylbewerbern speichern, um Mehrfachanträge zu | |
verhindern. Dann aber sei der Zugriff auf allgemeinpolizeiliche Zwecke | |
ausgedehnt worden, heißt es aus der Opposition des Bundestags. | |
Auch in Deutschland sind solche Begehrlichkeiten gut denkbar. Als Anfang | |
Oktober publik wurde, dass ein Asylsuchender einen Anschlag geplant hatte, | |
plädierten CSU-Politiker für den Zugriff der Geheimdienste auf Vitts | |
Kerndatenbank. | |
Wie kommt es, dass in Estland alles recht widerspruchslos verläuft? 95 | |
Prozent der Esten nutzen mindestens einen der vielen existierenden | |
„eServices“. An jeder Supermarktkasse ziehen Kunden, ohne mit der Wimper zu | |
zucken, ihren Personalausweis durch den Kartenleser, bevor sie mit der | |
Bankkarte bezahlen. Bonuspunkte sammeln, Steuererklärung machen, Wohnsitz | |
ummelden – alles geht mit derselben elektronischen ID. Die Bürgernummer, | |
mit der sie verknüpft ist, macht jeden Esten eindeutig identifizierbar. | |
Und über sie wird in Estland weit mehr geregelt als die Interaktionen | |
zwischen Staat und Bürger. Sie ist Kundennummer beim Mobilfunkbetreiber; | |
Nutzernummer in der Bibliothek, die ID wird als Busticket und | |
Gesundheitskarte genutzt. Eltern können über die Bürgernummer sogar die | |
Schulnoten ihrer Kinder abrufen. All die Daten sind dezentral nur beim | |
jeweiligen Dienst gespeichert und werden verschlüsselt übertragen. Im | |
Alltag ist das praktisch. Und laut der estnischen Regierung ist das System | |
so gut abgesichert, dass nicht einmal jemand, der Zugriff auf die | |
Bürgernummer bekommt, alles über einen Menschen weiß. | |
Wer misstrauisch ist, kann freilich sagen: Das gilt nur, bis das System | |
gehackt wird. | |
## Vertrauen ist die Basis | |
Estlands Regierungsberater Siim Sikkut sagt: „Das ist wie in unserem | |
Privatleben: Wir nutzen die Gmails und Hotmails dieser Welt, weil sie unser | |
Leben einfacher machen. Und denen vertraut man wahrscheinlich noch viel | |
sensiblere Dinge an als der Regierung.“ Das „eGovernance“-System seines | |
Landes basiert auf Vertrauen. | |
Robert Krimmer ist Professor für „eGovernance“ an der TU in Tallinn. Er, | |
ein bärtiger Österreicher, sagt: „Die Esten sind da schon sehr | |
kompromisslos: Es muss jeder alles digital machen, auch die 80-jährige | |
Oma.“ Das Land sei klein, der soziale Zusammenhalt ausgeprägt. Ein Land, | |
das nach seiner Unabhängigkeit von Russland schnell sein wollte und modern. | |
Und so erfand es sich als Pionier im „eGovernment“. Effizient und | |
neoliberal. | |
Es gibt einen Showroom nahe dem Tallinner Flughafen, in dem [2][„eEstonia“] | |
als großartiges Projekt präsentiert wird. Gedämpftes Licht, | |
Flachbildschirme. Start-up-Atmosphäre. Indrek Önnik, der Projektmanager, | |
gescheitelter Undercut und rosa Krawatte, jagt durch eine | |
Powerpoint-Präsentation. Er erklärt die Zeitersparnis durch die | |
Digitalisierung von Verwaltungsabläufen. Önnik spricht von einer | |
„Neudefinition von Regierungsführung“. Davon, dass es nicht einmal mehr die | |
eID-Karte brauche, weil man längst auch mobile ID-Simkarten entwickelt | |
habe, die, ins Smartphone gesteckt, das Gleiche können. „Der Bürger ist ein | |
Konsument, in gewisser Weise“, sagt er. | |
Er ruft eine Website auf, über die jeder Este kontrollieren kann, wer auf | |
seine Daten zugegriffen hat. Transparenz gegen Missbrauch: Estland hat | |
strenge Regeln aufgestellt, nach denen die dezentral gespeicherten | |
Datensätze zusammengeführt werden können. Das Credo: Daten gehören den | |
Bürgern. Der Staat verwaltet sie nur. Önnik loggt sich ein. Ein Blick auf | |
die Leinwand enthüllt, welche Automarke er fährt, bei welcher Bank er Kunde | |
ist und wann die das letzte Mal Informationen über ihn abgerufen hat. In | |
einigen Fällen können Bürger den Zugriff auf ihre Daten verbieten. | |
Das estnische Internetwahlverfahren nennt „eGovernance“-Forscher Robert | |
Krimmer „das fortgeschrittenste, das heute weltweit bei rechtsgültigen | |
Wahlen landesweit im Einsatz ist“. Bis jetzt seien keine ernsthaften | |
Probleme bei Abstimmungen bekannt geworden. Onlinewahlsysteme sind sein | |
Spezialgebiet, früher untersuchte er sie im Dienst der OSZE. Krimmer sagt | |
aber auch: Auf die Frage, wie er die Internetwahlen in Estland schütze, | |
würde deren Organisator antworten, er kenne alle Internetadministratoren | |
des Landes. Und wenn ein Angriff passiere, rufe er die an, und gemeinsam | |
schalte man das kleine Estland offline. Und schotte sich so gegen Angriffe | |
von außen ab. | |
2014 veröffentlichte eine Gruppe um Forschern der Universität Michigan eine | |
[3][Studie], in der sie Schwachstellen in Estlands Onlinewahlsystem | |
offenlegten. Über Malware-Infektionen sei es möglich, sowohl die abgegebene | |
Stimme des Wählers zu verändern als auch das Auszählungsergebnis, das die | |
Server ausspucken. Sie kritisierten, dass „eVoting“-Verantwortliche bei der | |
Vorbereitung der Wahl mit unverschlüsselten Internetverbindungen und | |
Privatrechnern operierten. Ihre Empfehlung: Rückkehr zur Papierabstimmung. | |
Spricht man Regierungsberater Sikkut auf die Studie an, verschränkt er die | |
Arme. Das Angriffsszenario sei theoretisch und unwahrscheinlich gewesen. | |
Die Fehler seien behoben. „Wir sagen: Vertrauen Sie Ihrem Gerät? Falls | |
nicht, dann wählen Sie nicht darauf.“ Das Vertrauen der Esten ins „eVoting… | |
ist aber ungebrochen: Der Anteil der online abgegebenen Stimmen steigt | |
kontinuierlich. 30,1 Prozent der Esten wählten 2015 digital. Damit sind sie | |
Avantgarde. | |
Dass das Onlinewahlsystem seiner mangelnden Transparenz wegen problematisch | |
sein kann, sah man gerade in den USA, wo die Ergebnisse einiger | |
Wahlcomputer angezweifelt wurden. Mag es im Fall von Bürgerkarten und eIDs | |
noch um Datenschutzfragen gehen, ist mit Onlineabstimmungen ein Kernbereich | |
der Demokratie betroffen. | |
## Eine unsichtbare Regierung | |
Estland aber plant weitere digitale Dienstleistungen. „Invisible Services“ | |
nennt Sikkut diese Vorhaben, bei denen der Staat auf Veränderungen im Leben | |
seiner Bürger reagiert. Ein Baby ist geboren? Warum die Eltern von Amt zu | |
Amt rennen lassen – besser: proaktiv nachfragen, wie sie ihr Kind nennen. | |
Kindergeld? Automatisch überweisen. Firmen, die dem Staat aktiv Zugriff auf | |
Geschäftskonten und Finanzmanagement-Software geben, müssen keine | |
Steuererklärung mehr machen. „Radikale Effizienz, die wir ganz besonders | |
für Unternehmen aufbauen möchten“, sagt Sikkut. | |
Was die Transaktionen zwischen Bürgern und Staat angeht, könne Estlands | |
Regierung innerhalb der kommenden zehn Jahre unsichtbar werden. „eServices“ | |
allerorten. Kaum bürokratische Hindernisse. | |
Je stärker Politik und Verwaltung digitalisiert stattfinden, desto mehr | |
schwinden aber auch die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft. | |
Das Softwaresystem xRoad etwa, das Rückgrat von „eEstonia“, organisiert und | |
sichert den Austausch aller privatwirtschaftlichen und öffentlichen Daten | |
innerhalb des Systems. Entwickelt hat es, genau wie das elektronische | |
Wahlsystem, die Firma Cybernetica, eine Ausgründung des früheren Instituts | |
für Kybernetik in Tallinn. | |
Drehtüreffekte, Wechsel von öffentlichen und privaten Posten, sind im | |
kleinen Estland keine Seltenheit. Taavi Kotka etwa, Estlands „Chief | |
Information Officer“, kurz CIO, der eng mit Siim Sikkut zusammenarbeitet, | |
war zuvor Geschäftsführer einer der größten Softwareentwicklungsfirmen im | |
Baltikum. Personalien wie diese erklären, woher die Start-up-Mentalität der | |
Regierung rührt. Sie werfen aber auch das Problem enger Verwebungen | |
privatwirtschaftlicher und politischer Interessen auf. | |
## CIO der Regierung | |
CIO: Unter diesem Titel wird auch der deutsche Staatssekretär Klaus Vitt | |
geführt. „Das ist keine offizielle Bezeichnung. Ich bin der | |
Bundesbeauftragte für Informationstechnik. CIO werde ich trotzdem öfter | |
genannt“, sagt er, „weil sich das in Unternehmen so etabliert hat.“ Nur, | |
eine Regierung ist kein Unternehmen. | |
IT-Riesen wie Microsoft haben Geschäftsfelder für den öffentlichen Sektor | |
eröffnet. Google stellt IT-Lösungen speziell für Behörden vor. Der | |
Politikprofessor Lawrence Quill von der San José State University wurde in | |
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert: „Die große Frage ist nicht, ob | |
Google die Politik überschreibt, sondern, ob Politiker ihre | |
Verantwortlichkeit an Technologiekonzerne abgeben, die versprechen, | |
politische Probleme zu lösen. Es gibt Indizien, dass das schon passiert.“ | |
Das Problem ist: Konzerne haben andere Interessen als ein Gemeinwesen. | |
Und auch in Deutschland beschleunigt sich der Verquickungsprozess. | |
Berlin, Alexanderplatz, im Juni. Hochrangige Vertreter von IT-Riesen und | |
Beratungsfirmen, Mitarbeiter aus Verwaltung, Ministerialbeamte und Minister | |
treffen sich zum „4. Zukunftskongress Staat & Verwaltung“. IBM, SAP, Datev | |
preisen ihre Produkte. Microsoft, die Bertelsmann-Tochter Arvato, Ernst & | |
Young sind vertreten. | |
Und Ursula von der Leyen ist auch da. Sie stellte die erste weibliche | |
Staatssekretärin im Verteidigungsministerium ein, sie kam von der | |
Unternehmensberatung McKinsey. Von der Leyen bezeichnet die Bundeswehr als | |
„eine Art Mischkonzern“, der „an die Privatwirtschaft Aufträge in Höhe … | |
14 Milliarden Euro“ vergebe. Früher hätten Mitarbeiter die Panzerbestände | |
händisch prüfen müssen, ohne Datenbank. Hüstel. Unter ihrer Amtsführung | |
baute die Bundeswehr die Abteilung für digitalen Krieg auf: „Cyber/IT“. Das | |
Konzept stammt von einem jungen Herrn von McKinsey. Der lobt bei einer | |
Tagung die Kooperation zwischen Militär und Wirtschaft in den USA. Von der | |
Leyen erwähnt fast nebenher: „In der Verwaltung führen wir ein System ein, | |
um mit Big Data umgehen zu können.“ | |
Big Data. Unfassbar große Datenmengen, die exponentiell wachsen. 2015 | |
entstanden so viele Daten wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. | |
Aus Korrelationen riesiger Datenmengen lassen sich Klimaentwicklungen | |
prognostizieren oder potenzielle Tatorte vorhersagen. | |
Helge Braun, der Mann aus dem Kanzleramt, sagt: „Mithilfe von Big Data | |
Stimmungsauswertungen zu betreiben, das machen wir als Regierung nicht. Das | |
geht beim deutschen Datenschutz auch gar nicht.“ Auf dem Kongress in Berlin | |
gibt es jedoch sogar Veranstaltungen dazu, wie die öffentliche Verwaltung | |
Social-Media-Monitoring einsetzen kann, um mehr über Präferenzen und | |
Verhaltensmuster der Bevölkerung zu lernen. | |
## Wollen wir das wirklich? | |
Klaus Vitt, der CIO der Regierung, hat noch weitere Ideen, wie man die | |
Digitalisierung in Deutschland vorantreiben könnte. Abstimmungsprozeduren | |
oder die Bewertung der Wirkung von Gesetzen könnten automatisiert werden. | |
„Wenn Sie eine inhaltliche Änderung an einem Gesetz vornehmen möchten, | |
müssen Sie wissen, welche Stellen in dem Gesetz betroffen sind und welche | |
Auswirkungen die Änderungen auf andere Stellen in dem Gesetz oder bei | |
anderen Gesetzen haben könnten“, sagt er. Eine Software könnte diese | |
Stellen anzeigen, sie könnten auf dieser Basis überarbeitet werden. | |
Systeme, die Gesetzestexte lesen und in die Prozesse der Legislative | |
eingeschaltet werden. Die IT‑Branche hat das Thema auch entdeckt. | |
Fragt man den Esten Siim Sikkut, ob Analysen von Bevölkerungsdaten in | |
Gesetzgebungsprozesse einfließen, sagt er: „Wir hinken beim Aufbau von | |
Analysefähigkeiten hinterher.“ Die Priorität sei zunächst, die | |
Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben und nicht den Aufbau von | |
Prognosemodellen und Big-Data-Analysen. Stand heute. | |
In Estland gibt es das „eCabinet“. Ein System, über das Minister ihre | |
Treffen papierlos vorbereiten, und über das sie sich gegenseitig | |
Anmerkungen schicken und Vorabstimmungen vornehmen können – sodass Themen, | |
über die Konsens besteht, im Austausch von Angesicht zu Angesicht gar nicht | |
mehr zur Sprache kommen müssen. Auch hier stellen sich ähnliche Fragen wie | |
bei den Bürger- und Wahldaten: Wie sicher und unmanipulierbar ist und kann | |
das sein? | |
Berliner Gendarmenmarkt im November. In der Lobby eines noblen Hotels | |
wartet Yvonne Hofstetter, die Geschäftsführerin einer Firma, die künstliche | |
Intelligenz entwickelt – selbstlernende Systeme. Sie ist eine der | |
bekanntesten Stimmen in der Digitalisierungsdebatte. Nun hat sie ein neues | |
Buch geschrieben. „Die Bürger ahnen nicht, wie weit die Forschung | |
fortgeschritten ist“, heißt es darin. „Wenn die Massendatenanalyse, Big | |
Data, Millionen Menschen, Maschinen und Betriebe erfassen und analysieren | |
konnte, um ihr Verhalten maschinell zu manipulieren – wäre es dann nicht | |
naheliegend, die ganze Gesellschaft auf diese Weise zu regeln?“ Die Frage, | |
die Hofstetter aber aufwirft, lautet: Wollen wir das wirklich? | |
Hofstetter ist unter den Unterzeichnerinnen der [4][„Charta der digitalen | |
Grundrechte der Europäischen Union“], die dieser Tage veröffentlicht wurde. | |
Auch künstliche Intelligenz spielt darin eine Rolle. „Ethisch-normative | |
Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden“, heißt es. | |
Sie mahnt, der Weg in eine Diktatur sei nicht weit, schon deshalb, weil der | |
Mensch an Selbstbestimmung einbüßt, wenn sein Verhalten auf Datenbasis | |
prognostiziert wird. Ein Trend, der sich noch verstärkt durch das, was | |
Hofstetter Umgebungsintelligenz nennt: Sensoren, die praktisch jede | |
Lebensregung von Individuen aufzeichnen, Softwaresysteme, die all diese | |
Aufzeichnungen auswerten und für uns vorausdenken. Die, zum Beispiel, freie | |
Parkflächen erkennen oder Versicherungskonditionen für Autoeigner nach dem | |
Fahrverhalten errechnen. Verschränkt die Politik ihre Daten zunehmend mit | |
denen der Wirtschaft, könnte so nicht nur vorentschieden werden, welche | |
Musik wir mögen und wohin die nächste Urlaubsreise gehen soll – sondern | |
auch, welches Gesetz vernünftig wäre. | |
Passiert dies, entstünde eine „Herrschaft durch niemanden“: Regierungen | |
müssten keine Rechenschaft ablegen – sie führen doch nur datengestützte | |
Vorschläge von Algorithmen aus. Unternehmen könnten für das Wirken ihrer | |
zunehmend selbstständigen künstlichen Intelligenzen nicht mehr haftbar | |
gemacht werden. Öffentlichkeiten würden fragmentiert. Die Maschinen machten | |
mit ihren Berechnungen die Norm zum Maß aller Entscheidungen. Hofstetter | |
sieht darin das Ende des selbstbestimmten Menschen. | |
„In dem Maße, in dem ich Freiheitsrechte in der digitalen Ära einschränke, | |
bringe ich die Demokratie in einen Zustand, in dem sie defekt wird“, sagt | |
sie. „Das ist dann vielleicht noch nicht Autokratie, aber sie funktioniert | |
auch nicht mehr richtig.“ Sie sagt aber auch, dass Gesetze, wie wir sie | |
kennen, gerade 200 Jahre alt seien und in einer multikomplexen, | |
digitalisierten Welt womöglich an ihr Ende kämen. „Wir steigern die | |
Komplexität ins Unermessliche. Wir wissen zugleich, dass in komplexen | |
Systemen die Gesetzgebung versagt.“ Man sieht das, wenn Innovationen der | |
digitalen Privatwirtschaft in immer mehr Gesellschaftsbereichen alles über | |
den Haufen wirft. Wie altbacken gesetzliche Regulierungsversuche vielerorts | |
wirken, kann man an der Hatespeech-Debatte mit Facebook beobachten oder am | |
Versuch, Regeln für den Taxidienst Uber zu finden. | |
Hofstetters Gedankenspiel ist keine Science-Fiction; es lassen sich Anfänge | |
eines hybriden Staates ausmachen, der sich digitalisiert, um sich | |
automatisieren zu können. Dahinter steht die Idee einer in Echtzeit | |
reagierenden Politik, deren selbstlernende Software sich anpasst und bei | |
auftretenden gesellschaftlichen Herausforderungen problemlos modifiziert. | |
Es ist eine Politik, die auf der IT-Infrastruktur privater Konzerne fußt. | |
Macht sich Politik aber überflüssig, wenn sie Prozesse und Prozeduren | |
automatisiert? | |
## Eine Probe für den Ernstfall | |
In Estland gehen die Überlegungen derzeit gar hin zur kompletten | |
Virtualisierung des Staats in virtual data embassies: Nachdem der Großteil | |
der Verwaltungstätigkeit ins Netz gewandert ist, könne man Back-ups all | |
dieser Daten in der Cloud lagern. Auf Servern im Ausland. | |
Es ist eine Ernstfallerprobung, und Ernstfall heißt für Estland – ob nun | |
klar ausgesprochen oder nicht – eine Invasion Russlands. Mit | |
„eGovernance“-Daten in der Wolke könnte Estland sogar weiter funktionieren, | |
wenn es kein physisches Territorium oder keine Kontrolle mehr darüber | |
hätte. | |
Als erster Standort für die Server, auf denen diese Verwaltungskopien | |
liegen sollten, stellte man sich estnische Botschaften auf der ganzen Welt | |
vor. Aus Mangel an IT-Personal will man nun aber einen privaten Konzern ins | |
Boot holen. Und hat – unverbindlich natürlich – mit Microsoft ein Konzept | |
entwickelt. Pragmatisch, nennt eGovernance-Forscher Robert Krimmer das. Und | |
Regierungsberater Sikkut sagt: „Ob Microsoft oder nicht: Wir müssen mit | |
Partnern zusammenarbeiten, auf die wir uns jederzeit voll verlassen | |
können.“ Insbesondere auf Regierungen, auf deren Territorium die Daten dann | |
gehostet wären. Davon gebe es nicht viele. | |
Wovon hier die Rede ist, ist eine Neuerfindung des Staates: eines | |
digitalisierten Staates, der unabhängig von seinem Territorium | |
funktionieren könnte, aber abhängig von den Diensten eines privaten | |
Konzerns wäre. Es ist riskant. | |
9 Dec 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/05/2016-05-24-digita… | |
[2] https://e-estonia.com/ | |
[3] https://www.theguardian.com/technology/2014/may/12/estonian-e-voting-securi… | |
[4] https://digitalcharta.eu/ | |
## AUTOREN | |
Meike Laaff | |
Kai Schlieter | |
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