# taz.de -- Debatte Feminismus in Deutschland: Raus aus dem Mädchenmodus | |
> Deutsche Feministinnen machen auf harmlos und teilen gleichzeitig heftig | |
> aus. Sie sollten mehr Stärke zeigen und sich selbst ermächtigen. | |
Bild: Weniger Mädchen, mehr Gleichberechtigung: Deutsche Frauen müssen sich s… | |
Jedes Jahr nach der Buchmesse frage ich mich, warum ich mit deutschem | |
Feminismus so wenig anfangen kann. Dabei stehe ich hinter den meisten | |
Inhalten – nicht zuletzt, seit letzte Woche das Weltwirtschaftsforum eine | |
Studie vorgestellt hat, nach der es im Jahr 2015 in Ruanda besser um die | |
Geschlechtergerechtigkeit bestellt ist als in Deutschland. | |
Ich habe mich zwanzig Jahre lang geweigert, über Frauen zu schreiben. Meine | |
Generation tritt oft in diesem Ewige-Mädchen-Modus auf, vielleicht, um | |
nicht so zu klingen wie Alice Schwarzer. Die Autorinnen Elisabeth Raether | |
und Jana Hensel, die Alice Schwarzer einst das Zepter aus der Hand nehmen | |
wollten, nannten ihre Kampfansage „Neue deutsche Mädchen“. Das hat mich | |
damals schon so genervt, dass ich das Buch nicht gelesen habe. | |
Es nervte ebenfalls, wenn in Frankfurt die Herren Literaturkritiker sich | |
auf den Weg zur Lesung von „dem Mädel“ machten. Sie meinten Judith Hermann. | |
Ich entgegnete, die sei doch fast dreißig. Die Männer nickten, ja, aber | |
doch noch ein Mädel. Das Ende der Mädchenzeit muss für viele Männer hier | |
der Tod sein, dachte ich. Und die Frauen spielen das mit. | |
## Hey, Mister, so nicht | |
Nachdem Jenna Behrends in ihrem offenen Brief den Sexismus in der CDU | |
angeprangert hatte, sah ich mir kurz ein Videointerview mit ihr an. Auch | |
hier dieses Reden wie bei einem kleinen Mädchen. | |
Es kann keiner etwas für seine Stimme, aber es gibt bei deutschen Frauen, | |
auch bei Feministinnen, diese Unart, auf harmlos zu machen und gleichzeitig | |
heftig auszuteilen. Das Direkte aber fehlt, das „Hey, Mister, so nicht!“. | |
Das zieht sich bis ins Paarleben hinein: In keinem Land, in dem ich oft | |
bin, kenne ich so viele Frauen, die dem Mann den Rücken frei halten und | |
dann akzeptieren, dass er jeden Abend bis spät in die Nacht „Termine“ hat. | |
Warum sagen die Frauen hier nicht: Wenn ich dir tagsüber den Rücken frei | |
halte, dann könntest du ja auch auf die Idee kommen, mir abends meinen zu | |
massieren. Aber nein, mädchenhaft ertragen sie, bis sie irgendwann heftig | |
Reißaus nehmen. | |
Ich kenne Länder, da heißt es: Schatz, du hast Karriere, aber du hast auch | |
Familie – und dann endet die Karriere eben um 17 Uhr. Nach dem Motto: Sonst | |
macht mir ein anderer die Kinder. Eine Ansage eben. | |
Zuletzt las ich, dass die Fotografin Annie Leibovitz mit Gloria Steinem | |
weiter an einem Fotoprojekt arbeitet, das Leibovitz noch mit Susan Sontag | |
erdacht hatte. Die neuen Bilder würden zeigen, wie stark die Frauen in nur | |
wenigen Jahrzehnten geworden sind. Steinem und Leibovitz sind jede auf ihre | |
Art Feministin. Sie erzählen von der neuen Stärke der Frauen. | |
## Genug ist genug | |
Ich bin erleichtert, wenn ich in den Reden Michelle Obamas diese Stärke | |
sehe. Eine Frau, die Feminismus als Kraft lebt. Michelle Obama stellt sich | |
hin und sagt: Ja, das tut weh, wenn irgendein Vollidiot auf der Straße | |
meint, er habe das Recht, sich zu deinem Aussehen zu äußern, ganz gleich | |
wie du dich dabei fühlst. | |
Sie erklärt dann aber nicht, warum das so schlimm ist. Es ist jeder Frau | |
klar. Und den anderen müssen wir es nicht erklären, sondern Respekt für | |
unsere Grenzen einfordern. Obama sagt: Genug ist genug. Und bewegt damit | |
die Welt. Es muss nicht jede Feministin Freizeitsoziologin sein und mit | |
Studien oder Dekonstruktionstheorien um sich werfen. | |
Michelle Obama zieht wenige Tage nach ihrer Rede gegen Trumps Sexismus | |
eines ihrer spektakulärsten Kleider an und lässt sich dafür feiern. Weil es | |
in den USA weniger indoktriniert zugeht, weil ich mir genüsslich meinen | |
Nagellack auf die Nägel pinseln und wenig später einem wie Mr Trump den Weg | |
nach draußen weisen darf. Genug ist genug. | |
Selbst wenn die Zahlen dort nicht besser sind als bei uns, kann man eines | |
lernen: Empowerment. Bei uns fehlt dieser Moment der Ermächtigung, mit dem | |
man beginnt, die Regeln selbst festzusetzen. | |
In Deutschland muss immer im Stil einer Seminararbeit argumentiert werden. | |
Manchmal darf in diese Seminararbeit hier und da etwas Fäkalsprache | |
verwenden, das findet man hier dann rebellisch. Dabei ist es das neue | |
Konform. Es bleibt eine Seminararbeit, nur eben mit Fäkalsprache. Vor allem | |
ist der Feminismus hierzulande jedoch eine sehr, sehr einsame Sache. | |
## Der Geist von Susan Sontag | |
Während man nach den Verletzungen in unserer Lebenswelt sucht, ist das | |
Schicksal der Frauen weltweit nebensächlich. Wie viele Frauen kämpfen | |
derzeit gegen den IS und sterben dabei? Wie viele Frauen werden weiterhin | |
strategisch vergewaltigt, um Kriegsziele zu erreichen? Wer weiß das hier | |
schon? | |
In Spanien waren Anfang September in den Tageszeitungen bewegende Nachrufe | |
zu Asia Ramadan Antar zu lesen, eine junge syrische Kurdin, die gegen den | |
IS kämpfte. Die Feministinnen in Deutschlands Redaktionen fanden das nicht | |
gleich wichtig. | |
Auch das zeigt mir: Das ist nicht mein Feminismus. Hier wird zu oft über | |
Dinge diskutiert, die ich mir hierzulande längst selbstverständlich | |
herausnehmen dürfte, wenn ich mich selbst ermächtigt hätte – während gro�… | |
andere Fragen, die mehr bedürfen als der Selbstermächtigung, unerwähnt | |
bleiben. Unsere Selbstermächtigung wird selten mit dem Tod bestraft. | |
In den USA erwuchsen die Menschenrechtsbewegungen aus einem starken | |
Gemeinschaftssinn. Aus Solidarität. Michelle Obama sprach als Vertreterin | |
einer Bewegung, der zig berühmte und weniger berühmte Frauen vorausgegangen | |
sind. Zuletzt die Sängerin Beyoncé und die nigerianische Autorin Chimamanda | |
Ngozi Adichie. Gloria Steinem und Annie Leibovitz sitzen vielleicht immer | |
noch da und sichten die Bilder starker Frauen, die sie bald der Welt zeigen | |
werden. | |
Viele Journalistinnen werden kommen, die beiden Frauen bei der Arbeit zu | |
porträtieren. Zwischen den beiden haust irgendwo der Geist von Susan Sontag | |
und sieht nach dem rechten. | |
Bei uns irren Aktivistinnen oder Feministinnen wie vereinzelte Planeten | |
umher und halten Vorträge. Sie versuchen, Thesen in die Welt zu werfen wie | |
ein Steinewerfer Steine ins Meerwasser. Und dann schauen sie, wie groß die | |
Kreise sind, die so eine These zieht. Ein Feminismus wie ein Erdbeben wird | |
das so nie. | |
7 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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