# taz.de -- Debatte 2016: Was ich nicht vermissen werde | |
> Es gab viel, über das man 2016 stolpern konnte. Anderes ging unter, | |
> Ausbrüche eines unversöhnlichen Feminismus etwa. Ein persönlicher | |
> Rückblick. | |
Bild: 2016 war reich an unliebsamen Abschieden. Auf einige Dinge könnten wir i… | |
Ich weiß nicht, warum jedes Jahr vor Weihnachten alle durch die Gegend | |
rennen, als würde die Welt nach Silvester untergehen. Nichts mit | |
besinnlicher Vorweihnachtszeit, die letzten Wochen im Jahr sind die | |
schlimmsten. Da kann ich mich in der letzten Schlagloch-Kolumne dieses Jahr | |
nicht festlegen. Es gäbe noch so viel zu sagen, über so viel zu stolpern. | |
So gehe ich in meinen Jahresabschluss mit dem Antippen einiger Themen, von | |
denen ich mir wünsche, ihnen nächstes Jahr nicht mit derselben Wucht wieder | |
zu begegnen. | |
Ich habe dieses Jahr einen stärkeren Feminismus gefordert, einen der | |
reinknallt, der unversöhnlich daherkommt und nicht mehr bittend, erklärend, | |
akademisch. Birte Meier, Redakteurin bei Frontal21, verkörpert nun genau so | |
einen Feminismus, indem sie gegen ihrem Arbeitgeber klagt – eine kleine, | |
unbedeutende öffentlich-rechtliche Sendeanstalt namens ZDF. Der Grund? Ein | |
männlicher Kollege mit vergleichbarer Arbeit verdiente netto mehr als Birte | |
Meier brutto. | |
Online ein paar bewundernde Tweets und Posts dazu, fein. Aber gibt es einen | |
offenen Brief von Kollegen, die sich hinter sie stellen? Wie oft muss man | |
es eigentlich noch sagen: Die Welt wird sich allein durch Hashtags nicht | |
verändern. Das ZDF bietet Meier nun einen Vergleich an. Danach solle die | |
Klägerin den Sender verlassen. Es muss doch Standard werden in einem | |
Rechtsstaat, dass der Kläger nicht zu gehen hat, nachdem er Recht bekommt. | |
Ist das so schwierig? | |
Es ist dies ein Moment, in dem sich Feministinnen klar hinter die Klägerin | |
stellen sollten: Falls Birte Meier gewinnt, bleibt sie, wo sie ist, | |
arbeitet so gut wie zuvor, wird endlich fair behandelt und Schluss. Nicht | |
ganz: Das Urteil sollte auf andere Frauen ausgeweitet werden. | |
## Es ist Zeit, erwachsen zu werden | |
Womit ich beim nächsten Thema wäre: Das Urheberrecht. Auch hier | |
entschuldigt sich der Schuldige nicht. Stattdessen bitten Verlage nach dem | |
Rechtsspruch ihre Autoren um den frommen Verzicht auf Rückzahlungen, die | |
ihnen rechtlich zustehen. Verlage hätten es in Zeiten der Digitalisierung | |
und Onlineshops schwer genug. Autoren haben wohl gelernt, mit den schweren | |
Zeiten umzugehen. Wenn die Lobbyarbeit der armen Verlage erfolgreich ist, | |
wird die Europäische Union das Urheberrecht dahingehend anpassen, dass der | |
Verleger auch Urheber ist. Ich habe nichts dagegen, wenn Verlage auch | |
künftig von der Rechteverwertung profitieren wollen, aber dafür das | |
Urheberrecht für sich mit zu beanspruchen ist das Gegenteil von allem, was | |
ich mal gelernt habe. | |
Bei Suhrkamp hörte ich erstmals den Satz: „Jeder Autor, und sei er noch so | |
jung, steht als schöpferisches Wesen turmhoch über dem Verlag!“ Natürlich | |
war auch da nicht alles Gold, doch wenn heute Verleger das Herstellen, | |
Vertreiben, Lektorieren als schöpferischen Akt anerkannt sehen wollen, dann | |
möchte man die Lobbyisten mitsamt den Zuständigen bei der Europäischen | |
Union ins Literaturarchiv nach Marbach schicken und bitten, noch einmal | |
über Schaffenskraft nachzudenken. Raymond Carvers Lektor, zum Beispiel, | |
meißelte aus Carvers Schreiben den weltberühmten Carver-Stil. Er hat | |
gekürzt, lektoriert und mitgedacht. Aber der Moment in der Nacht, die | |
Stille inmitten des Nichts, in die der Schreibende verankert ist, diese | |
Verwundbarkeit, aus der das erste Wort entsteht, die gehört dem | |
schöpferischen Wesen und nicht der Herstellung. Nicht jede kreative | |
Leistung ist eine schöpferische Leistung, die ein geschlossenes Werk | |
hervorbringt. | |
Bleibt das Thema Einwanderung. In den letzten Jahren konnte man getrost | |
Kritiker dieses Themas auf die Erfolge der USA hinweisen. Das endet nun mit | |
Trump. Trump ist der Feind der Einwanderung, dessen Imperium ohne | |
Einwanderung nie zustande gekommen wäre. Es ist Zeit, erwachsen zu werden | |
und um die eigene Demokratie zu kämpfen. Demokratie, das ist auch die | |
Teilhabe der hier Lebenden. Wenn die Junge Union als Nachwuchs einer | |
christlichen Partei derzeit keine größeren Sorgen hat als die Abschaffung | |
des Doppelpasses für hier Geborene, dann hat sie den Namen Volkspartei | |
verspielt. Denn auch die hier Geborenen sind das Volk. | |
Wie auch die Armen und von dieser Leistungsgesellschaft Abgehängten das | |
Volk sind. In Deutschland gibt es über 900 Tafeln, die regelmäßig über 1,5 | |
Millionen bedürftige Menschen unterstützen, von denen knapp ein Drittel | |
Kinder sind. Ich erwarte von der CDU als Regierungspartei – noch dazu in | |
Koalition mit Sozialdemokraten – ein Ende der Debatte um den Doppelpass. | |
Stattdessen als Wahlkampfthema für 2017 die Abschaffung der Bedürftigkeit, | |
die ALG II, zu wenig Sozialhilfe und zu wenig Grundsicherung in diesem Land | |
erzeugt haben. | |
Das wäre eine Abschaffung, die Deutschland ins 21. Jahrtausend brächte und | |
nicht zurück in die Achtziger. Deutschland braucht keinen politischen | |
Nachwuchs ohne soziales Gewissen aber mit ethnischen Schaukämpfen, deren | |
schmutzige Motive sich hinter gestärkten Hemden verstecken. | |
## Wohlstand durch Waffenpolitik | |
Und zuletzt noch einmal Flüchtlingspolitik: Jeder, der sich für eine humane | |
Flüchtlingspolitik einsetzt, müsste auch laut über die Waffenpolitik dieses | |
Landes sprechen. Die Kirchen tun es derzeit wieder, aber das reicht nicht. | |
Wir müssen alle bereit sein, auch über Wohlstand durch Waffenexport zu | |
reden. Ich jedenfalls möchte nicht mehr als Bürgerin von einem Wohlstand | |
profitieren, für den andere Menschen so bezahlen, dass sie mit Hab und Gut | |
aus ihren Häusern fliehen – nur um an europäischen Grenzen zu hören: Lasst | |
uns mit eurem Elend in Frieden. | |
Ja, wann lassen wir sie mit unserer Habsucht in Frieden? Wir werden | |
besinnliche Lieder unterm Weihnachtsbaum singen und uns fragen, ob wir | |
genug geschafft haben. Ja, haben wir, aber die Sache an der Wurzel gepackt, | |
haben wir nicht. Ach ja, jetzt habe ich „wir“ gesagt. Doch wer ist „wir�… | |
Vielleicht jene, die sich jetzt angesprochen fühlen. Und ein Letztes noch, | |
ganz banal: Bitte beginnen Sie Ihre Leserbriefe im neuen Jahr nicht mehr | |
mit diesem digitalen „Hallo Frau Marinić …“ | |
Ein gutes neues Schlagloch-Jahr wünscht Ihnen, liebe Leser, Jagoda Marinić. | |
29 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
## TAGS | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Feminismus | |
ZDF | |
Gender Pay Gap | |
Waffenexporte | |
Schwerpunkt Urheberrecht | |
Verlagswesen | |
Gender Pay Gap | |
Feminismus | |
Jahresrückblick | |
Die Couchreporter | |
migControl | |
migControl | |
Rüstungsindustrie | |
VG Wort | |
Feminismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Klage gegen Lohnungleichheit beim ZDF: Formal gesehen war da nichts | |
Lohnungerechtigkeit beim ZDF? Ein Berliner Gericht weist eine Klage der | |
Reporterin Birte Meier zurück. Doch das könnte erst der Anfang sein. | |
Frauenrechte vs. Rechtspopulismus: Was Feminismus bedeutet | |
2016 war geprägt von einem kulturell-gesellschaftlichen Rückschlag. Der | |
neue Faschismus verlangt einen schärferen feministischen Widerstand. | |
Der optimistische Jahresrückblick: Danke, 2016! | |
Vieles war schlecht. Aber eben nicht alles. 2016 war besser als sein Ruf | |
und es lohnt sich, auch die positiven Dinge hervorzuheben. Ein Versuch. | |
Serienkolumne Die Couchreporter: Frauen an die Schreibmaschine | |
„Good Girls Revolt“ ist ein Porträt über Sexismus am Arbeitsplatz im New | |
York der Sechzigerjahre. Das neue Mad Men? Ein bisschen. | |
Flüchtlingspolitik in Nigeria: Immer auf Augenhöhe | |
Nigeria hat als erstes Land einen Migrations- und Mobilitätsvertrag mit der | |
EU unterzeichnet. Die EU-Delegation arbeitet auf Hochtouren, um eine | |
Rückführungsabkommen zu verhandeln. Aber Nigeria erwartet Gegenleistungen. | |
Flüchtlingspolitik in Israel: Waffen gegen Flüchtlinge? | |
Erst sperrt Israel Migranten in Lager, jetzt werden sie abgeschoben – in | |
afrikanische Drittländer – womöglich im Tausch gegen Waffenexporte. | |
Bericht über Waffenindustrie: Deutsche Rüstungskonzerne boomen | |
Global schrumpft das Waffengeschäft, wenn auch nur noch gering. In | |
Westeuropa und Russland steigen hingegen die Umsätze. | |
Verlegerin und Autorin über VG Wort: „Das wollen wir nicht!“ | |
Was passiert, wenn der „Kopiergroschen“ künftig direkt an die Urheber | |
ausgezahlt wird und die Verleger leer ausgehen? Ein Gespräch. | |
Debatte Feminismus in Deutschland: Raus aus dem Mädchenmodus | |
Deutsche Feministinnen machen auf harmlos und teilen gleichzeitig heftig | |
aus. Sie sollten mehr Stärke zeigen und sich selbst ermächtigen. |