# taz.de -- Flüchtlinge im Kampf gegen Extremisten: „Beste Leute!“ | |
> Einige Flüchtlinge aus Syren engagieren sich schon seit Jahren gegen | |
> Extremisten. Nur wahrgenommen wurden sie bisher nicht. | |
Bild: Das schaffte sie noch ohne syrische Hilfe: In diesem Chemnitzer Haus fand… | |
Am Samstagnachmittag vor einer Woche öffnet Abdalaziz Alhamza sein | |
Facebookprofil und schreibt: Jaber A. werde gesucht, ein Syrer, 22 Jahre, | |
wohnhaft zuletzt in Chemnitz. Alhamza fügt in [1][seinen Beitrag] das | |
Fahndungsfoto der Polizei ein. „Seid vorsichtig, er könnte bewaffnet sein“, | |
schreibt er auf Arabisch und Englisch. „Falls ihr ihn seht, ruft die | |
Polizei.“ | |
Einen schweren Anschlag soll Jaber A. geplant haben, womöglich auf einen | |
Berliner Flughafen. 1,5 Kilogramm Sprengstoff des hochexplosiven TATP fand | |
die Polizei in der zuletzt von ihm genutzten Wohnung in Chemnitz. Am | |
Mittwochabend erhängte sich der Terrorverdächtige in der JVA Leipzig. | |
Abdalaziz Alhamza ist einer der Ersten, der den Fahndungsaufruf nach Jaber | |
A. in seiner Community verbreitet. Hundertfach taucht der Aufruf in den | |
folgenden Stunden auf den Facebookseiten von Deutschsyrern auf. In der | |
darauffolgenden Nacht wird Jaber A. schließlich in Leipzig festgenommen, | |
zuvor überwältigt in einer Privatwohnung. Von drei Syrern, die A. nach | |
eigener Auskunft auf einem der Online-Fahndungsaufrufen erkannten. | |
Auch Abdalaziz Alhamza erreicht die Nachricht der Festnahme. „Gefangen von | |
Syriern“, schreibt er auf Facebook. „Beste Leute!“ | |
Nicht nur Alhamza jubelt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt den drei | |
beherzten Leipzigern ihren Dank ausrichten. Medien feiern die | |
„Helden-Syrer“. Bundespolitiker fordern, ihnen das Bundesverdienstkreuz zu | |
verleihen. „Mehr Integration ist kaum vorstellbar“, lobt der | |
SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs. | |
## Ein neues Schlaglicht | |
Die Festnahme von Leipzig wirft ein neues Schlaglicht auf die syrischen | |
Flüchtlinge in Deutschland. Bisher war die Vorstellung von notleidenden und | |
hilflosen Menschen geprägt – oder, auf der anderen, rechten Seite, vom | |
Generalverdacht, ein jeder von ihnen könne Extremist sein. Nun kommt eine | |
neue Facette hinzu: die Syrer als aktive Antiterrorhelfer. | |
Die Sache ist nur: Dieses Bild hätte man schon längst gewinnen können. | |
Abdalaziz Alhamza lebt seit zwei Jahren in Berlin. Zuvor war der 25-Jährige | |
aus dem syrischen Raqqa geflohen, heute die Hochburg der Terrormiliz | |
„Islamischer Staat“. Die dortigen Verbrechen lassen Alhamza auch in Berlin | |
nicht los. Er engagiert sich für die Journalistengruppe [2][„Raqqa is | |
slaughtered silently“]. | |
Heimlich dokumentieren Kollegen von Alhamza den Alltag in Raqqa, filmen | |
Hinrichtungen oder IS-Kundgebungen. Alhamza stellt die Bilder von Berlin | |
aus ins Internet. Es ist ein hochgefährliches Engagement, einige Aktivisten | |
in Raqqa wurden bereits getötet. | |
Auch Abdul Abbasi verbreitete den Aufruf der Polizei zur Fahndung von Jaber | |
A. – auf der Seite des von ihm mitbegründeten Facebook-Netzwerks | |
[3][„German Lifestyle“]. „Bitte teilen!!!“, schrieb der 21-Jährige. | |
Abbasi floh 2012 aus Aleppo, heute studiert er Zahnmedizin in Göttingen. | |
Seine „German Lifestyle“-Seite gehört zu den größten der deutsch-syrisch… | |
Community, 90.000 Abonnenten zählt sie. In kurzen Videos berichtet der | |
21-Jährige mit seinem syrischen Freund Alla Faham über den deutschen | |
Alltag, amüsiert sich über Sprachbarrieren oder nimmt Vorurteile | |
auseinander. | |
## Lob mit Beigeschmack | |
Schon im Juli, als Islamisten in Würzburg und Ansbach Gewalttaten verübten, | |
stellten Abbasi und Faham ein Video auf ihre Seite. „Es gibt immer und | |
überall schlechte und kranke Menschen“, spricht Faham in die Kamera. „Wir | |
wissen genau, wie schrecklich es ist, wenn man jemanden verliert, den man | |
mag.“ Die Botschaft damals verhallte. Jetzt tut sie es nicht mehr. | |
„Völlig normal“ sei es für ihn gewesen, dass er sich an der Fahndung nach | |
Jaber A. beteiligt habe, sagt Abdul Abbasi. Der Student freut sich über die | |
Komplimente für seine Community. Sie haben für ihn aber auch einen | |
Beigeschmack. Seit drei Jahren lebe er im Land, habe viele tolle Projekte | |
seiner Landsleute erlebt. „Auch der Typ, der Jaber A. gefesselt hat, sagte, | |
dies sei für ihn völlig normal gewesen“, sagt Abbasi. „Und trotzdem heißt | |
es jetzt: Syrer, ihr habt endlich mal was Tolles gemacht.“ | |
Auch Monis Bukhari freute sich über die Festnahme von Jaber A. Er ziehe den | |
Hut vor den Syrern, die den Islamisten überwältigen, schrieb er auf | |
Facebook. | |
Bukhari floh aus Damaskus, seit 2013 lebt er in Berlin. Der Fahndungsaufruf | |
verbreitete sich auch über sein Online-Netzwerk [4][„Syrisches Haus“], | |
36.000 Mitglieder stark. „Auf unserer Seite haben Syrer immer wieder vor | |
Extremisten oder Kriminellen gewarnt“, sagt der 38-Jährige. Bukhari selbst | |
appellierte wiederholt, Mitflüchtende, die Sympathien für den IS oder | |
Assad-Verbrechen äußerten, der Polizei zu melden. Und auch er sagt: „Das | |
ist doch normal.“ | |
## Eine feste Anlaufstelle für Flüchtlinge gibt es nicht | |
So normal aber wird es nicht wahrgenommen, wie man an den Reaktionen jetzt | |
ablesen kann. Und diesen Eindruck vermitteln auch die Sicherheitsbehörden. | |
Eine feste Anlaufstelle für Flüchtlinge gibt es bei der Polizei bis heute | |
nicht. Arabischsprachige Ermittler habe man keine, könne bei Bedarf aber | |
auf Islamwissenschaftler zurückgreifen. Ein offensives Kontaktangebot? Eher | |
nicht. | |
Auch beim Bundesamt für Migration werden Flüchtlinge nicht systematisch zu | |
ihrem Wissen über Extremisten befragt. Und der BND, der dies in einigen | |
Fällen in seiner „Hauptstelle für Befragungswesen“ tat, ließ diese 2014 | |
nach wiederholter Kritik schließen. | |
Damit verschenken die Ermittler Potenzial, findet Monis Bukhari. „Die | |
größten Experten über syrische Terroristen sind die Syrer.“ Viele haben | |
deren Wirken selbst erlebt, kennen Namen und Gesichter“, sagt Bukhari. „Ich | |
hoffe, dass bei der Polizei zumindest mehr Leute angestellt werden, die | |
auch Arabisch sprechen.“ | |
Einige syrische Flüchtlinge ermitteln längst auf eigene Initiative gegen | |
IS-Leute in ihren Reihen. Leute wie Firas Alshater. Der 26-Jährige, 2013 | |
aus Damaskus geflohen, [5][lebt heute in Berlin und dreht hier | |
Internetvideos], in denen er humoristisch die Deutschen zu ergründen sucht. | |
Gerade hat er dazu auch ein Buch veröffentlicht. | |
Bis Jahresbeginn ermittelte Alshater bei der Recherchegruppe „Murderers not | |
Refugees“. In sozialen Onlinenetzwerken forschte die Gruppe nach syrischen | |
Kriegsverbrechern, die nun in Deutschland lebten, vorrangig Assad-Getreue. | |
Fotos wurden abgeglichen, Facebookprofile geprüft. „Wir sind vor diesen | |
Leuten geflüchtet, sie haben kein Anrecht auf Asyl“, sagt Alshater. Ein | |
Dutzend Verdachtsfälle habe er der Polizei gemeldet. „Es ist nichts | |
passiert.“ | |
## Die Probleme der Polizei | |
Die Sicherheitsbehörden verteidigen sich. 445 Hinweise auf terroristische | |
Aktivitäten von Flüchtlingen liegen dem Bundeskriminalamt inzwischen vor. | |
80 waren so substanziell, dass sie zu weiteren Ermittlungen führten. Viele | |
andere aber, sagte eine Sprecherin, hätten sich als haltlos erwiesen, als | |
Verwechselung oder gar als gezielte Diskreditierung. | |
Und die Ermittler stehen auch vor Problemen: Viele Flüchtlinge kommen ohne | |
Dokumente, aus Syrien gibt es keine Amtshilfe. Wie sollen so die Vorwürfe | |
überprüft werden? Dennoch führten Hinweise von Flüchtlingen auch zu | |
Festnahmen. In Brandenburg filmten Bewohner einer Asylunterkunft heimlich | |
einen Mitflüchtling, nachdem dieser mit IS-Kampftaten geprahlt hatte, und | |
gingen damit zur Polizei. Beamte nahmen in fest. In Unna meinte eine | |
syrische Recherchegruppe einen früheren Finanzchef des IS aufgetan zu | |
haben. Auch er wurde darauf verhaftet. | |
Auch im Fall Jaber A. war dessen Umfeld früh wachsam. Als dieser im | |
vergangenen Jahr mehrere Monate im Ausland verschwand, soll ein | |
Mitflüchtling der Ausländerbehörde dessen Abwesenheit gemeldet haben. Als | |
die drei Leipziger Syrer den Terroristen allerdings in ihrer Wohnung | |
überwältigten, gab es wieder Hürden. Einer von ihnen wurde am Telefon erst | |
nicht von der Polizei verstanden. Dann ging er zur Wache – und musste nach | |
eigener Auskunft eine Stunde warten, bis die Beamten die Brisanz der Lage | |
erkannten. | |
## Falscher Verdacht | |
Jaber A. soll noch vor seinem Suizid die drei Leipziger Syrer beschuldigt | |
haben, Mitwisser seines Anschlagsplans gewesen zu sein. Intensiv wurde das | |
Trio darauf durchleuchtet. Der Verdacht erhärtete sich bisher nicht. | |
In Leipzig feiert die deutschsyrische Community noch immer das Trio. Von | |
einer „Erfüllung zivilbürgerlicher Pflicht“ spricht Hassan Zeinel Abidini. | |
Der Dolmetscher leitet die Leipziger Syrienhilfe. Gewalt müsse immer | |
bekämpft werden, egal woher sie komme, sagt er. Es könne sein, dass sich | |
das Bild seiner Landsleute durch die Festnahme hierzulande ändere. „Es | |
könnte sein. Es könnte aber auch schnell wieder vergessen sein.“ Abidini | |
hat da so eine Ahnung. Er lebt seit 50 Jahren in Deutschland. | |
Andernorts wird das Engagement der deutschen Syrer dagegen sehr wohl | |
gewürdigt. Es war im November 2015, als Abdalaziz Alhamza, der Aktivist von | |
„Raqqa is being slaughtered silently“, auf großer Bühne den | |
Journalistenpreis International Press Freedom Award bekam: in New York. | |
14 Oct 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1525204927494615&set=a.55652491… | |
[2] http://www.raqqa-sl.com/en/ | |
[3] https://www.facebook.com/glsgermanlifestyle/ | |
[4] https://www.facebook.com/SyrischesHaus/ | |
[5] /!5275358/ | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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