# taz.de -- Syrische Community in Leipzig: Nicht geflüchtet | |
> Einige Syrer leben seit vielen Jahren in Leipzig. Doch mit den neu | |
> ankommenden Flüchtlingen ändert sich auch der Blick auf sie. | |
Bild: Engagiert: Aziz Bachouri (links) wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung al… | |
LEIPZIG taz | Die Geschichte von Jaber al-Bakr hat zwei Seiten: Womöglich | |
plante der Syrer einen Selbstmordanschlag und hatte Kontakte zum | |
sogenannten Islamischen Staat; das ist die eine Seite. Die andere: Vier | |
syrische Landsleute halfen dabei, das zu verhindern. Auch in Sachsen kam | |
man zu dem Schluss: Nein, nicht alle syrischen Flüchtlinge sind Terroristen | |
oder sympathisieren mit dem IS. Aber nein, auch nicht alle syrischen | |
Flüchtlinge sind Helden und hätten in dieser Situation den Mut gehabt, | |
al-Bakr zu überwältigen. Und noch mal nein, längst nicht alle Syrer in | |
Leipzig sind überhaupt Geflüchtete. Einige sind bereits vor Jahren gekommen | |
und prägen die Stadt inzwischen auf ganz vielfältige Art und Weise. | |
Kosai Abd Alrahman ist einer von ihnen. Seine Buchhandlung befindet sich im | |
Stadtteil Plagwitz, drückt sich da in die schmale Ecke eines malerischen | |
Altbaus. In Hogwarts, der Schule von Harry Potter, gibt es einen Raum, der | |
sich den tiefsten Bedürfnissen des Suchenden anpasst. Für denjenigen, der | |
ganz dringend aufs Klo muss, wird er zur Toilette; wer ein Versteck | |
benötigt, entdeckt einen Besenschrank. Jemand, der sich wünscht, nie wieder | |
mit dem Lesen aufzuhören, würde in Alrahmans Buchhandlung landen. | |
Auf jeder erdenklichen Fläche stapeln sich Bücher – Dutzende, Tausende und | |
Abertausende. Regalbretter knarzen und biegen sich vorwurfsvoll unter der | |
Last großer Literaten. Über und über vollgestopft ist der kleine Laden, | |
antike Blechschilder lehnen an der Wand, Gläser mit Pflaumen stapeln sich | |
am Fenster, altes Messingbesteck liegt zusammengewürfelt in Emaillewannen. | |
„Nur ein Verrückter, der viel liest, kann so etwas schaffen“, sagt Alrahman | |
in einer Mischung aus arabischem Akzent und Sächsisch. | |
Im Jahr 1985 reiste Alrahman von Dschabla an Syriens Mittelmeerküste nach | |
Dresden, bald zog er weiter nach Leipzig. Er erhielt ein Stipendium, | |
studierte Elektrotechnik. Bereits seit den 1950er- und 1960er-Jahren war | |
die DDR auf der Suche nach arabischen Verbündeten. Syrien war das erste | |
Land der arabischen Welt, in dem die DDR 1956 ein Generalkonsulat | |
eröffnete. Der Sechstagekrieg 1967 zwischen Israel und seinen arabischen | |
Nachbarn brachte die DDR außenpolitisch immens voran: Nachdem sich | |
Ostberlin im Krieg auf die arabische Seite gestellt hatte, erkannten 1969 | |
neben Syrien auch der Irak, Ägypten, Jemen und Sudan die DDR diplomatisch | |
an. | |
## Wie aus einer Kinderfantasie | |
„Mich hat dieses kleine Land neben dem großen Westen fasziniert“, sagt | |
Alrahman. Sozialistische Literatur hatte er bereits in Syrien gelesen, | |
jetzt wollte er den Sozialismus leben. Der damals 19-Jährige wollte weg – | |
und hinein in eine Welt, die viele andere nicht mehr hinausließ. Einfluss | |
genommen auf ihre jungen arabischen Freunde habe die DDR-Führung nie, „bei | |
mir zumindest nicht“, sagt Alrahman mit seiner kratzigen Stimme. Seine | |
Sätze beginnen immer ein bisschen zu laut und enden zu leise. In dem | |
sozialistischen Staat habe Alrahman sich wohlgefühlt, bis zum Schluss. | |
Seinen Laden eröffnete er 2005, zunächst mit Büchern, die er noch zu Hause | |
hatte, heute kauft er Bücher und antike Utensilien aus der DDR-Zeit an. | |
„Dann hab ich ma' ein paar Regale gekauft“. Dieses „ma‘“ nutzt der | |
50-Jährige häufig. Dadurch klingt alles ein bisschen weniger schlimm oder | |
aufwendig, als es in Wirklichkeit war. | |
Schon als Kind habe er sich gewünscht, „ma'“ so einen Laden zu besitzen. | |
Tatsächlich sieht der 50-Jährige Alrahman mit seinem dichten, nach unten | |
gezwirbelten rotblonden Bart genauso aus, wie sich ein Kind einen alten | |
Mann inmitten von Büchern vorstellt. „Menschen bleiben am Schaufenster | |
stehen und erinnern sich. Sie sagen dann ‚Das kenne ich noch‘, ‚Das haben | |
wir auch gehabt‘ oder ‚Das haben wir immer getrunken‘“, sagt Alrahman, | |
steht plötzlich auf und kramt einen alten FDJ-Plastikbeutel hervor. „Das | |
ist nicht einfach ein Plastikbeutel. Das ist Kulturgeschichte.“ Kosai Abd | |
Alrahman ist ein sächsischer Syrer, der Leipzig an seine Vergangenheit | |
erinnert. | |
Der halb so alte Akeel Sandouk kennt Alrahmans Laden und sagt: „Er hat | |
dafür gesorgt, dass vor allem während der Krise viel syrische Literatur | |
nach Leipzig kam.“ Damit die Menschen sehen, dass Syrien mehr ist als nur | |
Bürgerkrieg. Seit Jahren engagiert sich der 26-Jährige, der bereits vor dem | |
Krieg in seinem Land mit einem Austauschprogramm nach Leipzig kam, in der | |
Flüchtlingshilfe. Seinen Bachelor in Wirtschaft beendete er noch in | |
Damaskus, der Master in Leipzig folgte. Eine syrische Community in Leipzig | |
existierte schon lange vor der aktuellen Flüchtlingsbewegung, sagt er. Zu | |
ihr gehörten auch Lyriker, Intellektuelle, Ärzte. | |
Sandouk ist Mitgründer der Initiative Efgil (Engagiert für Geflüchtete in | |
Leipzig), lebt in einer WG mit zwei Frauen und zwei Männern, hat „Momo“ und | |
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ im Regal stehen. Auch er ist kein | |
Geflüchteter, unterstellt wird es ihm jedoch häufig. „Geflüchteter zu sein | |
ist natürlich keine schlechte Sache“, sagt er, „aber es ist ein Attribut, | |
das die Wahrnehmung einschränkt.“ Man würde nur noch nach Flucht und Krieg | |
gefragt. Es verstelle den Blick auf das, was Menschen ansonsten ausmacht: | |
der Beruf, eine Leidenschaft, ein Hobby. „Ich wünsche mir, dass wir | |
differenzierter betrachtet werden.“ Es lohne sich, versichert er. | |
## Engagiert in Politik und Kultur | |
Denn da sei einer wie Aziz Bachouri, seit elf Jahren in Deutschland, seit | |
sieben in Leipzig. Im Jahr 2013 erhielt er ein Stipendium der | |
Friedrich-Ebert-Stiftung, ist in der SPD engagiert. Vergangenen Donnerstag | |
wurde er zum zweiten Mal mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden der AG | |
Migration und Vielfalt des SPD-Stadtverbands gewählt, seit September ist er | |
deutscher Staatsbürger. Bereits 2010, also kurz nachdem er überhaupt in | |
Deutschland angekommen war, wies er gemeinsam mit dem | |
Antidiskriminierungsbüro Sachsen mehreren Leipziger Clubs diskriminierende | |
Einlasskontrollen nach. Heute erzählt er bedrückt: „Früher fanden es | |
Menschen cool und besonders, wenn ich erzählt habe, dass ich aus Syrien | |
komme. Jetzt schrillen bei ihnen sofort die Alarmglocken.“ | |
Der syrische Lyriker Adel Karasholi sagt: „Städte, in denen man lange lebt, | |
sind wie Biografien. Meine Biografie ist von zwei Städten geprägt und mit | |
ihnen verwachsen: Leipzig und Damaskus.“ Der 80-jährige Karasholi ist ein | |
einnehmend freundlicher Mann mit tiefen Grübchen im wettergegerbten | |
Gesicht. Mit 25 Jahren kam er nach Deutschland, seine selbst gegründete | |
Zeitschrift war in Damaskus verboten worden. 1961 ließ er sich endgültig in | |
Leipzig nieder. | |
Was und wo Heimat ist, damit beschäftigt sich Karasholi in seinen Essays | |
und Gedichten. Sein Urgroßvater war aus einem kurdischen Dorf in der Türkei | |
nach Syrien eingewandert, wie er selbst drei Generationen später in die | |
DDR. Über seine eigene Urenkelin Elly-Valentina sagt er heute: „Sie gehört | |
zu der vierten Generation meiner Leipziger Nachkommenschaft. Und sie wird | |
genau wie ich und wie alle Urenkel der Flüchtlinge, Vertriebenen und | |
Einwanderer in der langen Geschichte der Menschheit ihren eigenen | |
Lebenstext schreiben. Und das ist gut so.“ | |
22 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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