# taz.de -- Debatte Deutsche Einheit: Leider können wir da nicht mitmachen | |
> Am 3. Oktober wird in Dresden die deutsche Einheit gefeiert. Vor einigen | |
> Jahren wäre das eine positive Nachricht gewesen. Das ist vorbei. | |
Bild: Viele schöne Fahnen: rechte Demo in Dresden | |
Noch vor ein paar Jahren hätte man die Tatsache, dass der Tag der Deutschen | |
Einheit in der sächsischen Hauptstadt Dresden oder jedenfalls im Osten | |
begangen wird, nur gutheißen können: Im Westen oder in Bayern, wo ich | |
herkomme, interessieren sich eh nur Zugereiste für diesen Festtag. Und in | |
Berlin, wo ich wohne, wird er eben als eine unter den zahlreichen | |
Gelegenheiten wahrgenommen, es sich bei Bier, Bratwurst und Caipirinha, nun | |
ja, gut gehen zu lassen. | |
Der Tag der Deutschen Einheit, hätte man sagen können, sei ein genuin | |
ostdeutscher Feiertag, weil an ihm der Einsatz der Ostdeutschen für ihre | |
Befreiung vom Realen Sozialismus gefeiert wird. Man feiert sich dort | |
sozusagen selbst, ein ureigenes Verdienst (auch wenn der – eben! – „Vater | |
der Einheit“, Helmut Kohl, die ostdeutsche Bürgerbewegung verachtet), und | |
wir Westler wären eben bestenfalls Dazugebetene, wie bei der eisernen | |
Hochzeit eines entfernten Verwandtenpaares. | |
Heute, nach den zwei Bomben am Kongresszentrum und der Fatih Camii Moschee, | |
wird der 3. Oktober der Tag sein, um deutsche Einheit gegen | |
Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zu verkünden. Doch | |
ausgerechnet Dresden eignet sich dafür am wenigsten. Da will man nicht mal | |
Zaungast sein. | |
Die ehemalige DDR und insbesondere Sachsen sind faktisch Teil der | |
Visegrád-Gruppe geworden – also eines Bündnisses ostmitteleuropäischer | |
Staaten, die sich im Zeichen eines selbstverständlich imaginären | |
christlichen Abendlandes zur Abwehr von Geflüchteten, Muslimen und Roma | |
zusammengeschlossen haben. | |
## „Erlebnisorientierte Männer“ | |
Wir haben nicht nur nichts zum Anlass der Feierlichkeiten beigetragen, wir | |
wollen auch nicht als Geschenk bei Purple Schulz am Abend des 3. Oktober | |
mitsingen, während bestenfalls im Hintergrund Nazis und andere | |
„erlebnisorientierte Männer“ (Bautzens Polizeidirektor Uwe Kilz) alles aus | |
dem Weg prügeln, was nicht bei drei Gesinnung, Anstand und Hautfarbe | |
wechselt, dabei betreut von einer sächsischen Polizei, die der | |
SPON-Kolumnist Sascha Lobo in einem Tweet so beschreibt: „‚Das Problem ist | |
– ein Drittel der sächsischen Polizisten sind Nazis.‘ (aus einem | |
Hintergrundgespräch mit einem Polizeifunktionär).“ Nun, das deckt sich mit | |
dem, was die „Lügenpresse“, also diejenige, die Lügen, insbesondere aus | |
Sachsen, aufdeckt, sonst so schreibt. | |
Ein ziemlich vorhersehbarer Witz an der ganzen Sache ist, dass es weder die | |
Titanic („Die endgültige Teilung Deutschlands – das ist unser Auftrag“) … | |
schon gar nicht die Punks („Deutschland muss sterben, damit wir leben | |
können“) waren, die zu diesem Schisma geführt haben – es waren die | |
Geflüchteten und ihre Helfer, die sie am 1. September 2015 am Münchner | |
Hauptbahnhof begrüßten. | |
Das ist unser Tag der Deutschen Einheit – oder sollte es zumindest sein. | |
Und dieses „unser“ schließt selbstverständlich alle Ostdeutschen, | |
insbesondere alle Sachsen, mit ein, die in einem gescheiterten staatlichen | |
Gebilde viel mutiger als wir gegen Dummheit, Rassismus und staatlich | |
tolerierte Mordlust ankämpfen. | |
Denn eines geht nicht und ging nie: Der westdeutsche, durchaus auch linke | |
Rassismus gegen die Bevölkerung der ehemaligen DDR. Anstatt der | |
geschichtlichen „linken“ Erfahrung der DDR-BürgerInnen wenigstens mit | |
Respekt, aber vor allem doch mit anteilnehmender Neugierde zu begegnen, | |
wurde die Wiedervereinigung zum ideologischen Triumph- und ökonomischen | |
Plünderzug. | |
Ostdeutschland geriet zur Zwischenlagerungsstätte abgehalfterter | |
westdeutscher Politiker und Beamter, die zusammen mit den Wendehälsen aus | |
Blockparteien und Staatssicherheit, wiederum in Sachsen insbesondere, | |
Ideologie und Institutionen geschaffen haben, die uns dahin gebracht haben, | |
wo wir uns heute befinden: zwar nicht mehr in einem geteilten Land, aber | |
einem aus zwei Teilen. | |
## Minimalvertrauen verspielt | |
Die sächsische Ideologie, die jeden Naziüberfall mit einem linken | |
Farbbeutelwurf zu verharmlosen müssen meint, die statt sozialer Politik | |
einen durch nichts gedeckten kruden Regionalchauvinismus forciert, die in | |
der „Sachsensumpf“-Affäre und beim NSU-Komplex, in Bautzen und in Clausnitz | |
das Minimalvertrauen jedes objektiven Beobachters verspielt hat – bei ihr | |
wäre als Erstes der kürzlich von der Journalistin Sabine Rennefanz | |
geforderte „Reset-Button“ Aufbau Ost zu drücken. | |
Kein Rassismus ist es allerdings, die „Kollusion“ der in den zweieinhalb | |
Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung in Sachsen geformten Bevölkerung mit | |
den ihnen übergestülpten und von ihnen in schlimmer Regelmäßigkeit | |
demokratisch legitimierten Institutionen anzuzeigen. | |
Der Begriff „Kollusion“ ist mir vor allem in Süditalien begegnet und | |
beschreibt die Grauzone von mafiös-organisierter Kriminalität, staatlichen | |
Institutionen, Wirtschaft, Eliten in Verwaltung, Rechtsprechung und | |
Gesundheitssystem und – den ganz normalen Leuten, die sich in dem System | |
zurechtzufinden versuchen, das sie eben vorfinden: Mit einer Kultur der | |
schweigenden Zustimmung, der berühmten „omertà“, einem Wegducken und | |
Wegsehen. | |
Mit diesem Phänomen kämpft Italien seit gut 150 Jahren, seitdem der Norden | |
den Süden unterworfen und geplündert hat und zur Sicherung des Erreichten | |
sich auf vorhandene kriminelle Systeme und gewachsene | |
Frustrationsmentalitäten stützte. Deswegen werden in Süditalien immer | |
wieder von diesem Geflecht unterwanderte Kommunen unter die Verwaltung von | |
„Staatskommissaren“ gestellt – ein Vorgehen, das man für Sachsen zuminde… | |
in Erwägung ziehen muss. | |
## Kaltherzige Hysterie | |
Diese nicht sarrazinesk genetisch bedingte, sondern gewachsene mafiose | |
Identität wird heute gestützt durch etwas, was der Schriftsteller Michel | |
Houellebecq irgendwo als das typische Verhalten der durchtherapierten | |
Gesellschaft beschrieben hat: Wenn man am Boden zerstört auf dem Sofa | |
liegt, dann baut einen der Therapeut auf: Depressionen gehen aus | |
verdrängten Bedürfnissen hervor! Jetzt sind endlich mal Sie dran! JETZT BIN | |
ENDLICH ICH DRAN!! | |
Genau diese kaltherzige Hysterie des Belogenen und Betrogenen sah ich im | |
leicht irren Gesicht eines Mannes in der Wahlberichterstattung, der den | |
Erfolg der AfD in Sachsen-Anhalt mit „Das ist die zweite Wende“ feierte; | |
eine angesichts des neoliberalen Wahlprogramms der AfD vollkommen | |
idiotische Aussage, die nur dann verständlich wird, wenn man alles auf das | |
Feld der Identität verschiebt, der deutschen, ostdeutschen, sächsistischen, | |
nationalistischen und rassistischen – nachdem es mit lächerlichen Sprüchen | |
à la „Land der Frühaufsteher“ natürlich nicht geklappt hat. | |
Feste feiern ist etwas sehr Schönes – so schön wie der Dialog. Aber es gibt | |
nicht mehr Bananen, wenn weniger Flüchtlinge kommen. Wer statt Umverteilung | |
zu fordern, von Umvolkung faselt, ist bestenfalls ein Propagandaopfer. Und: | |
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist | |
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wertes Sachsen – Du bist dran. | |
Aber ich kann Dir noch etwas mitgeben, was traurig ist aber auch | |
hoffnungsvoll: Denn ich komme ja selbst aus einem Bundesland, in dem der | |
Regionalchauvinismus blüht und in dem vor 36 Jahren ein nie aufgeklärter | |
neonazistischer Anschlag stattfand, am 26. September 1980: und nun, am 26. | |
September 2016, sogar zur fast gleichen Uhrzeit, sind in Dresden zwei | |
Bomben explodiert, zum Glück – es war Glück! – ohne jemanden körperlich … | |
schädigen. | |
Was ich sagen will, Sachsen: Wenn die Nazis einen Sinn für Tradition haben, | |
dann sollten wir einen für Entwicklung haben. Heute hat München mit den | |
höchsten Ausländeranteil in Deutschland – und leuchtet so unverwechselbar | |
wie eh und je. Und der Innenminister derselben Partei, die 1980 in Bayern | |
regierte und die Nazihintergründe des Attentats vertuschen wollte, | |
unterstützt die wieder aufgenommenen Ermittlungen. | |
Man kann besser werden, anders werden, ohne das Eigene zu verlieren. Im | |
Gegenteil – und wir wissen es alle: Sich zu verändern ist der einzige Weg, | |
wirklich man selbst, also Mensch zu bleiben. Und das ist so viel wichtiger | |
als Sachse oder Bayer sein. | |
3 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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