# taz.de -- Debatte Fluchtursachen in Afrika: Die wahren Gründe des Exodus | |
> Viele fordern, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Warum mehr | |
> Entwicklungshilfe zunächst jedoch zu mehr Flüchtlingen führt. | |
Bild: Afrika fehlt immer noch moderne Infrastruktur – auch an Arbeitsplätzen… | |
Mit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise Anfang September 2015 jährt sich nun | |
auch der seitdem immer wieder vorgebrachte Lösungsvorschlag, Fluchtursachen | |
mit mehr Entwicklungshilfe zu bekämpfen. Allgegenwärtig ist in der | |
Öffentlichkeit der Glaube, dass größte Not alles sind, was das Leben in | |
wenig entwickelten Teil der Welt beschwerlich macht: Kriege, Klimawandel, | |
Armut, Ungleichheit, Unterdrückung von Minderheiten. Dort muss das Übel an | |
der Wurzel gepackt werden, oder? | |
Mit ausholender Geste auf Fluchtursachen zu verweisen, ist für manche | |
Politiker zum großen Schauspiel geworden. Sich darüber auszulassen ist ein | |
wunderbar einfacher Weg, die Aufmerksamkeit auf fremde Länder zu lenken, | |
wenn man sich im eigenen Land beispielsweise immer noch nicht auf eine | |
geregelte Zuwanderung einlassen will. | |
Handelspolitik ist eine andere Kulisse dieses absurden | |
Ablenkungsschauspiels. Unsere Exportförderung großindustrieller | |
Landwirtschaft verstärkt die Fluchtursachen. Afrikanische Länder können | |
sich nur mit großer Mühe gegen Agrarsubventionen und Raubfischerei wehren – | |
und genau das verstärkt den Migrationsdruck. Daran besteht wissenschaftlich | |
keinerlei Zweifel. Wenn eine Konstellation wie Schwarz–Grün im Bund je Sinn | |
machen soll, werden solche selbst gemachten Blockaden fallen müssen. | |
„Fluchtursachen bekämpfen“ kann aber auch die ernsthafte Aufforderung sein, | |
an die Wurzeln wenigstens einiger Kriege und Konflikte zu gehen, die | |
Menschen massenhaft in die Flucht treiben. Das Scheitern der westlichen | |
Syrien- und Libyen-Politik zu korrigieren ist ebenso schwierig wie | |
vorrangig. Doch wie wir mit anderen Ländern, aus denen in großer Zahl | |
geflohen wird, umgehen, demonstriert eher Hilflosigkeit als | |
Prinzipientreue. Eine stalinistische Diktatur in Eritrea oder ein | |
Kriegsverbrecherregime im Sudan durch Angebote für mehr Grenzkontrollen | |
oder mit ein wenig Berufsausbildung vor Ort aufweichen zu wollen – das ist | |
kein strategisches Vorgehen. | |
## Ein paar Fakten | |
Noch problematischer wird die Bekämpfung von Fluchtursachen, wo sie in | |
„normale“ Entwicklungshilfe übergeht. Denn plötzlich interessiert es wied… | |
in Deutschland, ob wir mit den Tausenden von Entwicklungsprojekten Erfolg | |
haben oder nicht. Dass wir seit 60 Jahren in Afrika zu helfen versucht | |
haben, ist nicht mehr gut genug, wenn die Enttäuschten dieser Länder vor | |
unserer Tür stehen. Insofern besteht nun durchaus die Chance, dass | |
Entwicklungshilfe viel ergebnisorientierter und ernsthafter behandelt wird, | |
und zwar jenseits der durchaus erfolgreichen Bekämpfung großer Pandemien. | |
Ein paar Fakten: Obwohl der Anteil der Armen südlich der Sahara auf rund 43 | |
Prozent der Bevölkerung verringert worden ist, wächst die absolute Zahl | |
unablässig. Daher leben nun die meisten Armen der Welt nicht mehr in | |
Südasien, sondern in Afrika. Bedrückender ist noch ein anderer Ausschnitt | |
des Problems. Nachdem die Unternehmensberater von McKinsey mit dem schönen | |
Bild von Afrikas Löwen, die den asiatischen Tigern hinterhereilen, noch in | |
optimistischen Tönen gemalt hatten, sind Weltbank-Ökonomen zuletzt sehr | |
viel skeptischer geworden. Es ist in keiner Weise abzusehen, wie in Afrika | |
angesichts jetziger Trends jemals genug Arbeitsplätze für die nachwachsende | |
junge Generation entstehen sollen. Die sogenannte demografische Dividende – | |
der Nutzen der veränderten Altersstruktur – ist ein Trugbild in der Wüste. | |
Gar nichts Positives also, an das eine Neuorientierung anknüpfen könnte? | |
Doch. Afrika hat fast zwanzig Jahre beschleunigtes Wachstum hinter sich, | |
was ja das Bild vom afrikanischen Löwen erst generiert hat. Das Narrativ | |
ist durchaus richtig und stellt die ganze Diskussion auf eine positive | |
Geschäftsgrundlage. Aber: Der ursprüngliche Abstand zum globalen Norden ist | |
so groß, dass sich die Einkommensunterschiede zwischen den Kontinenten sehr | |
lange nicht angleichen werden. Das ist der eine Faktor, der Migranten | |
massenweise in Bewegung setzt. | |
## Arme können nicht fliehen | |
Die anderen hat beispielsweise der britische Migrationsforscher Paul | |
Collier in seinem Buch „Exodus“ unmissverständlich zusammengefasst. Dazu | |
zählt vor allem schlicht und einfach die Höhe der Einkommen. Die Einkommen | |
in den Ländern südlich der Sahara haben eine glockenförmige Verteilung: | |
Ganz Arme haben kaum die Möglichkeit zu fliehen, weil sie buchstäblich | |
nichts haben. Daher kommen relativ wenige Flüchtlinge aus entlegenen | |
Gegenden der Sahelzone. Weiter rechts auf der Achse, wo sich die mittleren | |
Einkommen ballen, existieren genug Informationen und Geld, um die Söhne in | |
eine erhoffte bessere Zukunft loszuschicken. Erst bei den hohen Einkommen | |
wird informelle Migration überflüssig. | |
Eines sollte sich deshalb jeder klarmachen, der mit Entwicklungshilfe | |
Fluchtursachen bekämpfen will: Erfolgreiche Entwicklung hat den Effekt, | |
dass sich die Kurve aus der Armutsecke heraus verschiebt und Migration erst | |
einmal wachsen lässt. Bisher hat niemand hat eine annähernde Vorstellung | |
davon, bis zu welchem Einkommen die Migrationsneigung steigt, weil sie eben | |
von einem komplexen Faktorenmix abhängt. | |
Länder des Nordens sollten daher möglichst viel geregelte Migration | |
zulassen. Was heißt das konkret? Das einfachste Beispiel ist Bildung. Wenn | |
gute schulische und berufliche Bildung die Chancen erhöht, in der | |
Einwanderungslotterie für Europa zu gewinnen, wird die Nachfrage nach | |
solider Schulbildung wachsen – und damit der Druck auf | |
Erziehungsministerien und Lehrer in den Heimatländern. Außerdem: Seit | |
Jahren kehren Teile der weit verstreuten Diaspora nach Äthiopien, Ghana | |
oder Ruanda zurück; meist behalten sie ein Standbein in Kanada oder | |
ähnlichen sicheren Herkunftsländern bei, weil man ja nie weiß. Diese | |
Rückkehrer tragen viel mehr zur wirtschaftlichen Entwicklung bei als | |
westliche Entwicklungshilfe. | |
## Hoffnung auf Wachstum | |
Dem Kontinent fehlt darüber hinaus immer noch ein Netz an moderner | |
Infrastruktur, was ursprünglich auch ein Resultat verkorkster | |
Entwicklungsstrategien ist. Ugandas Präsident Museveni hat neulich in | |
Berlin seinen ungebrochenen Optimismus recht überzeugend erklärt: Die hohen | |
Wachstumsraten der letzten zwanzig Jahre habe Afrika trotz großer Mängel in | |
Erziehung, Infrastruktur und regionaler wirtschaftlicher Integration | |
erzielt. Nun schlössen sich diese Lücken allmählich, also gäbe es Hoffnung | |
auf weiteres Wachstum. Aber auch auf Jobs? Museveni sprach auf einer | |
Veranstaltung des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft, und das bringt | |
uns zum letzten und entscheidenden Punkt. | |
Leider deutet rein gar nichts in der üblichen „Privatsektorförderung“ der | |
westlichen Geber darauf hin, dass sie in Afrika auch nur annähernd die Zahl | |
der Jobs schaffen könnte, die für die junge Generation gebraucht wird. | |
Solche Förderung sorgt für angenehmes Investitionsklima, Ausbildung hier | |
und dort, Hilfe für Kleinbetriebe – mehr nicht. Man kann es auch in einem | |
bösen Satz zusammenfassen: Entwicklungshilfe schafft kaum Arbeitsplätze, | |
außer in der Entwicklungshilfe. | |
## Arbeitsplätze für Afrika | |
Für eine einigermaßen erfolgreiche Bekämpfung von Fluchtursachen müsste die | |
westliche Privatwirtschaft ganz anders in Landwirtschaft und verarbeitende | |
Industrie einbezogen werden – auch die deutsche, die sich Afrika seit | |
Ewigkeiten nur nähert. Deswegen haben wir im politischen Berlin nun eine | |
ganz neue Diskussion über die Förderung deutscher Investitionen in Afrika. | |
Subventionen an Unternehmen zu zahlen, die Arbeitsplätze in Afrika schaffen | |
– das wäre ein echter Paradigmenwechsel. Die Forderung wird auch nicht | |
dadurch falsch, dass Gerd Müller (CSU), Bundesminister für Wirtschaftliche | |
Zusammenarbeit, neuerdings etwas Ähnliches ankündigt. | |
In der Entwicklungsarbeit einen maximalen Abstand zur Wirtschaftsförderung | |
zu wahren gehörte jahrzehntelang zu den Glaubensfundamenten der | |
Afrika-Interessierten, am alleredelsten vertreten von nichtstaatlichen | |
Hilfsorganisationen. In den letzten Jahren hat sich diese Distanz auch im | |
deutschen System schon erheblich verringert. Nun steht sie komplett zur | |
Disposition. Wieso soll Windenergie oder Ökolandwirtschaft in Deutschland | |
eher direkte Förderung wert sein als Arbeitsplätze deutscher Unternehmen in | |
Afrika? Umwelt- und Sozialstandards müssen strikt beachtet werden, aber | |
gute Arbeitsplätze sind jede Förderung wert. | |
Nur so macht die Bekämpfung von Fluchtursachen überhaupt Sinn. Alles andere | |
sind Ausreden für Versäumnisse in unserem eigenen Land. | |
20 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Helmut Asche | |
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