# taz.de -- Schriftstellerin zur Situation in Afrika: „Die Frage der Menschli… | |
> Yvonne Owuor glaubt an die Macht der Rückkehr. Sie erklärt, welche | |
> Wirkung Merkels Satz „Wir schaffen das“ in Kenia hatte. | |
Bild: Eine Schule in Kenia: kein Unterricht zur Geschichte des eigenen Landes | |
taz.am wochenende: Frau Owuor, in Ihrem Roman „Der Ort, an dem die Reise | |
endet“ kehrt eine junge Frau in ihre Heimatstadt Nairobi zurück. Was findet | |
sie dort, am Ort, an dem die Reise für sie endet? | |
Yvonne Owuor: Ich würde gerne sagen „sich selbst“, aber ich glaube, dazu | |
ist sie zu sehr Realistin. Sie entdeckt zum ersten Mal ihre Herkunft und | |
das Gefühl, an einen Ort zu gehören. Das heißt konkret: Sie entwickelt | |
Erinnerungen an Gerüche und Orte, zuletzt auch Menschen. Trotz ihrer | |
Fremdheit wird sie gastfreundlich aufgenommen. | |
Einem guten Freund und Kollegen von Ihnen ging es da anders – er reiste vor | |
zwei Monaten nach Berlin und wurde Opfer eines rassistischen Übergriffs. | |
Das war für viele ein Schock. | |
Diese Frage beschäftigt mich sehr: Wo kommt diese Wut her, die Menschen | |
dazu verleitet, anderen Menschen Gewalt anzutun – nur aufgrund ihrer | |
Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit? Dem bin ich schon in meiner ersten | |
Kurzgeschichte, „The Weight of Whispers“, über den ruandischen Völkermord | |
nachgegangen. Auch in „Der Ort, an dem die Reise endet“ ist es eine | |
Kernfrage. | |
Konnten Sie der Antwort inzwischen schon einen Schritt näherkommen? | |
Nein, eher das Gegenteil ist der Fall. Was ich aber feststellen konnte, | |
ist: Wenn man tiefer bohrt, steht da oft die Frage nach Zugehörigkeit. Wo | |
gehöre ich hin? Das ist gerade in Afrika eine brisante Frage, weil der | |
Kontinent einen Umbruch erlebt und das Konzept Heimat immer weiter an | |
Gültigkeit verliert. Das sieht man auch an der Wandlung, die meine | |
Protagonisten durchlaufen. Die Ungewissheit schürt Ängste und bis zu einem | |
gewissen Grad auch Aggressionen. | |
Ist das auch ein Grund, warum viele junge Menschen den Kontinent in | |
Richtung Europa verlassen? | |
Ich frage mich das oft: Warum verlasst ihr diesen wunderbaren Kontinent? | |
Zuerst einmal ist es Unsinn, von „afrikanischen Problemen“ oder „typisch | |
afrikanischen Fluchtursachen“ zu sprechen. | |
Trotzdem verlassen besonders viele junge Menschen den Kontinent, oder | |
nicht? | |
Ja, das stimmt. Neben der systematischen Gewalt, die leider in einigen | |
Ländern immer noch herrscht, gibt es aber noch etwas anderes. Wir stehen | |
jetzt an einer historischen Stelle, an der die Generation, die in den Tagen | |
der Unabhängigkeit geboren wurde, die Macht an eine neue, junge Generation | |
abgeben müsste. Dieses Unverständnis zwischen der alten und jungen | |
Generation ist aber, meiner Beobachtung zufolge, in Europa und auch den | |
Vereinigten Staaten ebenso ein Phänomen wie in vielen afrikanischen | |
Ländern. | |
Was steht denn zwischen diesen Generationen? | |
Ich habe noch nicht tief genug in andere Gesellschaften hineingeschaut, | |
aber in Kenia ist es ein Schweigen, gegen das die Jungen nicht ankommen. | |
Deshalb steht auch in Ihrem Roman der Satz: Kenia hatte immer drei | |
Nationalsprachen: Suaheli, Englisch und das Schweigen. | |
Genau, Schweigen ist inzwischen schon eine Form der Kommunikation geworden, | |
mit verschiedenen Variationen, dem Kontext angepasst. Worauf ich abziele, | |
ist dieses Totschweigen von Problemen, das Verheimlichen von der eigenen | |
Geschichte als Nation, denn es hinterlässt eine junge Generation, die nicht | |
genau weiß, wo sie steht. Die alten Normen haben keine Gültigkeit mehr, | |
aber die neuen sind noch nicht gefunden. So schwebt diese Generation zu | |
Hause zwischen den Stühlen. Meine Protagonistin Ajani ist da ein Beispiel. | |
Ein neues Leben in der Ferne klingt dann nach dem wiedergefundenen Sinn. | |
Wie genau drückt sich dieses Schweigen aus? | |
Wissen Sie, Geschichte wird in manchen afrikanischen Ländern, Kenia gehört | |
dazu, nicht mehr in der Schule unterrichtet. Das ist für mich | |
unbegreiflich. Da wächst also eine Generation heran, die in der Schule | |
Bertolt Brechts „Kaukasischer Kreidekreis“ liest, aber kaum etwas über ihre | |
eigene Vergangenheit als Nation weiß. Sie kennen die Namen ihrer | |
Landesväter nur, weil Straßen nach ihnen benannt sind. Wenn ich dann mein | |
Buch in Nairobi vorstelle, kommen Schüler zu mir und fragen: „War es | |
wirklich so? Wir wussten gar nicht, dass unser Land so eine Vergangenheit | |
hat!“ Die Begeisterung für das eigene Land und das Interesse an der eigenen | |
Herkunft stoßen auf Mauern. | |
Was bedeutet das für ihre Heimatländer, Kenia zum Beispiel? | |
Unter den Weggehenden sind so viele, die in ihren Ländern Großes bewegen | |
könnten, aber solange sie abwesend sind, wird sich hier nicht viel | |
verändern können. Dann warten sie, anderswo, lügen ihren Familien per | |
Telefon vor, es ginge ihnen besser, und warten. | |
Das tut ja auch Ajani, die Protagonistin Ihres Romans. Nur der Tod ihres | |
Bruders zieht sie zurück in das Land ihrer Geburt. | |
Trotzdem bleibt sie ein hoffnungsvoller Charakter. Diese fast schon | |
biblische Rückkehr ist auch einer der Gründe für den Titel des Buchs. | |
Im englischen Original „Dust“. | |
From dust you came, to dust you return. So ergeht es auch meinen | |
Protagonisten: Sie kommen aus der Wüste und kehren schlussendlich auch | |
wieder dorthin zurück. Daran glaube ich: die Kraft der Rückkehr. | |
Diese Hoffnung, wenn auch aus anderen Gründen, haben auch viele Politiker | |
in Europa mit Blick auf die Geflüchteten hier vor Ort. | |
Doch leider wissen wir auch aus der eigenen kenianischen Erfahrung, dass es | |
nicht so einfach ist. Kenia beherbergt das größte Flüchtlingslager der | |
Welt, Dadaab. Von den Erfahrungen, die Kenia dort gemacht hat, könnte auch | |
Europa profitieren. Die Kriege, die sie davon abhalten, in ihre Heimat | |
zurückzukehren, hat Europa mit zu verantworten. Auch wenn kaum einer sich | |
traut, es auszusprechen, es gibt dieses Schadenfreude-Element: Viele | |
Flüchtlinge sind das Ergebnis von einer Politik, die über Jahrzehnte die | |
Infrastruktur des Lebens dieser Menschen zerstört hat – auch mit | |
Entwicklungshilfe. Man muss sich eingestehen, dass die Nato diese Krise mit | |
zu verantworten hat. Dann kann man auch endlich aufhören, Waffen in diese | |
Regionen zu exportieren. | |
Glauben Sie, das ist eine realistische Forderung: Waffenexporte stoppen? | |
Zum ersten Mal in der Geschichte wäre es diesmal auch im Interesse der | |
Bündnispartner, Waffenexporte zu minimieren – schließlich würde auch der | |
innenpolitische Druck in Ländern wie Deutschland sinken, wenn weniger | |
Kriegsflüchtende ankommen würden. Ob das eine realistische Forderung ist? | |
Ich glaube, Angela Merkels menschliche Reaktion auf die unerwartet hohe | |
Zahl von Migranten und ihre Migrationspolitik hat gezeigt, wie viel mit | |
Vision und Überzeugung in der Politik möglich ist. Auch entgegen aller | |
Erwartung. | |
Wie nahm man in Kenia die Politik Merkels auf? | |
Es war unglaublich, auch in Kenia gab es tagelang kein anderes Thema. Ich | |
erinnere mich noch an den Moment, als Kanzlerin Angela Merkel ihr „Wir | |
schaffen das“ verkündete. Da saß ich gemeinsam mit meiner Familie in meiner | |
Heimatstadt Nairobi vor einem flimmernden Bildschirm mit Bildern aus | |
Europa. Auf einmal stand dort Kanzlerin Merkel und sprach. Die Worte waren | |
so kraftvoll, dass meine Mutter spontan aufstand und applaudierte – etwas, | |
was sie sonst nie tun würde. In dem Moment wurde auch mir bewusst: Da ist | |
etwas zutiefst Menschliches an dieser Geste. Es war inmitten der Panikmache | |
und Hetze eines David Cameron – erinnern wir uns an den „Schwarm der | |
Migranten“ – unheimlich wichtig. Denn dahinter steht die Frage der | |
Menschlichkeit. | |
Es scheint, als würde sich Europa an dieser Frage entzweien. | |
Ja, einige haben augenscheinlich die Sorge, die Einwanderung würde ihre | |
Zivilisation gefährden. Dabei verraten sie gerade durch diese Haltung die | |
Werte, die ihre Zivilisation angeblich ausmachen. Man merkt, wie fragil | |
diese Idee von Zivilisation ist, wenn man bedenkt, wie einfach es ist, | |
Menschen aufeinander loszuhetzen. Es gibt ein Lexikon der Dämonisierung, | |
mit dem mancherorts zurzeit gern gearbeitet wird. Das Ziel ist, die | |
Menschlichkeit des anderen mit Begriffen wie Ungeziefer, Schwarm und | |
dergleichen auszuradieren. Das trifft besonders jene Menschen, die nach der | |
Ausreise aus ihrer Heimat kaum noch etwas besitzen. | |
Letztlich geht es in Ihrem Roman auch um genau diese Frage: Was bleibt, | |
wenn man seine Heimat verlässt. Was bleibt denn? | |
Mein Charakter Nyipir, der nomadische Vater der kosmopolitischen | |
Protagonistin, hat den Kolonialismus überstanden und seine Familie zugrunde | |
gehen sehen. Von allen meinen Charakteren vertraue ich ihm am meisten. Er | |
würde auf die Frage wahrscheinlich mit zwei Dingen antworten. Erinnerung, | |
weil nichts verloren geht und die Dinge auch nach allem, was passieren | |
kann, Bestand haben. Und die Chance, noch mal von vorne anzufangen. | |
20 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Paul Ostwald | |
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