Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Jahr Lageso-Krise in Berlin: Flüchtige Hilfe
> Ein Jahr nach Beginn der Lageso-Krise läuft die Registrierung der
> Geflüchteten besser. Dafür kämpfen sie mit vielen anderen Problemen.
Bild: Trauriger Alltag für viele Geflüchtete vor einem Jahr: Wartende vor dem…
Es ist an diesem Samstag genau ein Jahr her, dass Diana Henniges Alarm
schlägt. „Wir brauchen Hilfe am Landesamt für Gesundheit und Soziales“,
schreibt sie am 6. August 2015, einem Donnerstag, gegen 13 Uhr. Die
Wartesituation vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales – kurz Lageso
– in der Turmstraße sei unmenschlich.
Über die Facebookgruppe von Moabit hilft verbreitet sich der Hilferuf
schnell. Henniges fordert dazu auf, Wasser, Obst und feuchte Tücher zu
spenden oder vorbeizukommen, um sich selbst ein Bild zu machen und bei der
Versorgung der Menschen zu helfen.
Noch am selben Tag kommen die ersten freiwillige Helfer zum Lageso. Viele
sind fassungslos, wollen sofort etwas tun und Hilfe leisten, wo der Staat
versagt. Nach drei Tagen sind es bereits 50, in den folgenden Wochen und
Monaten werden es Hunderte sein – jeden Tag.
Dort, auf dem Gelände an der Turmstraße in Moabit, stehen in jenen
Augusttagen bei Temperaturen von über 30 Grad jeden Tag mehrere hundert
Menschen vor dem Eingang zum Landesamt an, um sich registrieren zu lassen
und eine Unterkunft zugewiesen zu bekommen.
Auf dem Gelände gibt es weder ausreichend Wasser noch Nahrungsmittel für
die ankommenden, meist völlig erschöpften Flüchtlinge. Sie sind der Sonne
schutzlos ausgeliefert, müssen auf dem Gelände übernachten. Kinder schlafen
auf dem Boden, zum Teil nur notdürftig durch Plastikplanen oder Decken
geschützt. In einer Pressemitteilung eine Woche nach dem ersten Hilferuf
spricht Moabit hilft von einer „humanitären Katastrophe“. Mitten in Berlin.
In jenem Sommer kommen jeden Tag 400 Menschen in der Stadt neu an. Das
Lageso müsste sie alle registrieren. Doch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Behörde sind völlig überfordert, auch die Behördenleitung.
Die zuständige Senatsverwaltung und der verantwortliche Sozialsenator Mario
Czaja (CDU) bekommen die Lage nicht in den Griff. An den ersten Tagen
nicht, als die katastrophalen Zustände langsam sogar international bekannt
werden. Und auch in den nächsten Monaten nicht.
Unter einigen Helferinnen und Helfern macht sich während dieser Monate das
Gefühl breit, dass die Verantwortlichen längst nicht alles tun, um die
Situation zu verbessern. Dass den Menschen mit Absicht ihre Würde genommen
werden soll. Die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünenfraktion im
Abgeordnetenhaus, Canan Bayram, wirft dem Lageso mehrmals vor, mit Absicht
abschreckende Bilder von einer überforderten Stadt zu produzieren – um
Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Berlin zu kommen.
## Verwirrende Informationen
Die 2013 von Diana Henniges in ihrem Wohnzimmer gegründete Bürgerinitiative
Moabit hilft wird fortan zum zentralen Ansprechpartner für alles rund ums
Lageso und zu einem Vorbild für andere Berliner Flüchtlingsinitiativen.
Henniges und der damalige Vorstand von Moabit hilft, László Hubert,
beantworten Anfragen von Medien weltweit. Bei der offiziellen Pressestelle
am Lageso hingegen geht wegen Überlastung nur selten überhaupt jemand ans
Telefon, Mails bleiben unbeantwortet. Und falls doch jemand antwortet, sind
die Informationen so spärlich und verwirrend, dass die Fragen eher größer
werden.
Die Behörde war mit der Zahl der Neuanträge überfordert, es gab viel zu
wenig Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen, um Flüchtlinge
unterzubringen. Wie auch in anderen Teilen der Berliner Verwaltung lag dies
an den Einsparungen und Kürzungen der letzten Jahre. Mit Senator Czaja
stand dazu ein Politiker an der Spitze der zuständigen Senatsverwaltung,
dessen Kenntnisse, Fähigkeiten und Prioritäten mehr bei der Gesundheit als
beim Sozialen, geschweige denn der Flüchtlingspolitik lagen. So reagierte
die Behörde zu langsam und schwerfällig auf die aktuelle Entwicklung. Zu
leiden hatten darunter die Schutz suchenden Menschen.
Anhand der Informationen, die das Flüchtlingshilfswerk UNHCR regelmäßig
veröffentlicht, war schon länger klar gewesen, dass die Flüchtlingszahlen
steigen würden. Dass es davon auch mehr Flüchtlinge nicht nur an die
Grenzen, sondern bis nach Europa hinein schaffen würden, war ebenso
absehbar. Verbände und Initiativen, die Flüchtlingsarbeit machen, hatten
schon frühzeitig mehr Kapazitäten beim Senat angemahnt. Doch Berlins
Behörden und Politik stellten sich nicht darauf ein.
Ein Jahr danach ist zumindest auf der organisatorischen Ebene einiges
anders geworden. Die Registrierung hat das Lageso inzwischen weitgehend in
den Griff bekommen. Seit März kommen auch deutlich weniger Flüchtlinge in
der Stadt an. Die Verwaltung ist jetzt nach eigener Aussage in der Lage,
rund 600 Menschen am Tag zu registrieren, und wähnt sich gut vorbereitet,
falls die Zahl der Flüchtlinge wieder steigen sollte.
## Eine neue Struktur?
Seit dem 1. August hat der Senat alle mit der Asylgesetzgebung
zusammenhängenden Aufgaben an ein neu eingerichtetes Landesamt für
Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) ausgelagert. Es ist nun für Registrierung,
Anträge, Unterbringung und Leistungen an Asylsuchende zuständig (siehe
Kasten).
Sie gehe davon aus, dass es Zustände wie im letzten Sommer am Lageso nicht
mehr geben werde, sagt Leiterin Claudia Langeheine. „Wir haben neue
Standorte etabliert, Abläufe verbessert, profitieren von der Expertise
sowohl von langjährigen und neu eingestellten Kolleginnen und Kollegen“,
betont sie. „Wir sind also vollkommen anders aufgestellt als noch vor zwölf
Monaten und auch auf einen größeren Zuzug gut vorbereitet.“ Die wichtigste
Aufgabe sei nun, die Unterkunftssituation für die Geflüchteten zu
verbessern – etwa durch die Tempohomes, also Container, die in ganz Berlin
aufgestellt werden.
Für die Grünen-Politikerin Canan Bayram sind die Missstände indes längst
nicht behoben. Weiterhin fehle der Überblick und eine wirklich neue
Struktur. „Migration und Flucht werden die Stadt für mindestens die
nächsten 15 Jahre prägen. Um Berlin da gut aufzustellen, reicht es nicht,
die Registrierung ein bisschen umzugestalten“, kommentiert Bayram die
Eröffnung des neuen Amts. „Mit dem LAF konnte Czaja nun wieder etwas
ankündigen. Aber im Prinzip wurde das, was vorher am Lageso war, nur
umgeschichtet.“
550 MitarbeiterInnen soll das LAF haben. Das sei ein Fortschritt, so
Bayram, denn vor einem Jahr arbeiteten 165 MitarbeiterInnen in dem Bereich.
Aber viele Stellen seien noch nicht besetzt. „Die Verantwortlichen haben
außerdem die Zeit nicht genutzt, um die Bezirke besser auszustatten,
Verträge mit Betreibern zu schließen oder Mitarbeiter fortzubilden“, sagt
Bayram. „Wenn wieder mehr Flüchtlinge kommen, wird auch diese Einrichtung
schnell an ihre Grenzen kommen.“
Fabio Reinhardt, flüchtlingspolitischer Sprecher der Piratenfraktion, hält
das neue Amt für einen Etikettenschwindel. „Flüchtlingsangelegenheiten
werden auch nach dem 1. August von denselben Mitarbeitenden wie bisher in
den gleichen Gebäuden wie bisher bearbeitet“, sagt er. Derweil nähmen die
Probleme am Lageso erneut massiv zu. „Die Terminvergabe ist kollabiert, die
Aktenführung bleibt eine Katastrophe, die Bearbeitungszeiten sind
unverändert hoch. Daran wird auch das ‚LAF‘-Label nichts ändern“, glaubt
Reinhardt.
Tatsächlich wirkten zuletzt viele Maßnahmen am Lageso hilflos. Als die
Behörde individuelle Termine vergab, verringerte sich damit die Wartezeit
für die Flüchtlinge nicht. Aber es standen eben nicht mehr alle vor dem
Lageso, sondern nur jene, die an diesem Tag einen Termin hatten. Einige
Maßnahmen schienen lediglich das eigene Versagen zu verschleiern.
Und als im Frühsommer die Gebäude in der Turmstraße für den spontanen
Publikumsverkehr geschlossen und fortan das ICC als Wartebereich für die
Flüchtlinge genutzt wurde, kam dies Beobachtern wie der Versuch vor, die
Flüchtlinge aus der öffentlichen Wahrnehmung an den Rand zu drängen. Denn
in den vielen Räumen des ICC-Kolosses sieht keiner mehr, wie lange sie
warten
Fakt ist: Die Registrierung, für die sie im Sommer tagelang anstehen
mussten, ist für Flüchtlinge in Berlin wirklich nicht mehr das drängendste
Problem. Denn es sind viele weitere Hürden entstanden. Die Unfähigkeit der
Behörde, die Aufnahme und die Versorgung menschenwürdig zu organisieren,
zieht sich durch alle Phasen: vom Ankommen und Registrieren über das
Zuweisen von Wohnraum bis zur Versorgung mit Deutschkursen, Weiterbildung
und Arbeit.
## Keine Ruhe zum Lernen
Viele Geflüchtete leiden darunter, dass sie auch Monate nach ihrer Ankunft
noch in Massenunterkünften und schlecht ausgestatteten Notunterkünften
leben müssen, in denen es keine Privatsphäre und keine Kochgelegenheiten
gibt. Sie klagen über die hygienischen Bedingungen und die Betreuung in den
Heimen. Viele finden dort keine Ruhe, um Deutsch zu lernen.
Auch fehlt den Geflüchteten jede Perspektive: Da es in Berlin kaum freie
Wohnungen gibt, ist unklar, wie lange sie in Notunterkünften bleiben
müssen. Der Senat stellt derzeit Container auf, liegt damit aber Monate
hinter dem Zeitplan. Außerdem bauen Senat und Wohnungsbaugesellschaften
Gemeinschaftsunterkünfte in modularer Bauweise. Die sind aber frühestens
Anfang 2017 bezugsfertig.
Die Initiative Moabit hilft füllt immer noch Lücken in der Versorgung aus.
Nach wie vor verteilen ihre MitarbeiterInnen Hygieneartikel, Kleidung und
größere Sachspenden wie Kinderwagen. „Es sind keine Leistungen, die wir
erbringen wollen, eigentlich ist das die Aufgabe von Hauptamtlichen, von
staatlichen Einrichtungen“, betont Diana Henniges. Doch auch ein Jahr nach
Beginn der Krise rennt die Initiative gegen eine überforderte und
unflexible Politik an, die grundlegende Nöte von Menschen offenbar nicht
erkennen möchte.
Dieser Text ist Teil des aktuellen Wochenendschwerpunkts in der taz.berlin
zum Lageso. Darin außerdem ein Bericht über die Initiative Moabit hilft und
ein Essay über die politischen Folgen der Krise.
5 Aug 2016
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
## TAGS
Lageso
Flüchtlinge
Mario Czaja
Sozialleistungen
Spendengelder
Lageso
Flüchtlinge
Flüchtlinge
Lesestück Meinung und Analyse
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Flucht
Lageso
Notunterkunft Tempelhof
Flüchtlinge
Turnhallen
## ARTIKEL ZUM THEMA
BAMF über Identität von Flüchtlingen: Häufiger Fingerabdrücke sammeln
Das Bundesamt für Migration fordert, dass Kommunen Fingerabdrücke von
Flüchtlingen mit der Datenbank des Amtes abgleichen. So könne Betrug
verhindert werden.
Kommentar Spenden der Deutschen: Fragile Hilfsbereitschaft
Die großen Katastrophen blieben 2016 aus. Das macht sich bei der
Spendenbereitschaft bemerkbar. Ein nüchterner Blick ist angebracht.
Das ICC und die Flüchtlinge: Stille Verzweiflung, amtlich verwaltet
In der neuen Anlaufstelle für Flüchtlinge klappt vieles besser als früher –
vor allem das Wartemanagement. Aber nicht alles läuft so glatt wie
gewünscht. Ein Besuch.
Flüchtlinge in Berlin: „Eine neue Form von Apartheid“
Noch immer leben zehntausende Flüchtlinge in Massenunterkünften. Diana
Henniges von „Moabit hilft“ fordert viel mehr neue Sozialwohnungen.
Fest für Flüchtlinge auf Tempelhofer Feld: Willkommen, um zu bleiben
Am Samstag wird auf dem Tempelhofer Feld ein Willkommensfest für
Flüchtlinge gefeiert. Eingeladen sind Neu- und Alt-BerlinerInnen.
Ein Jahr nach „Wir schaffen das“: In der Welt der einander Fremden
Abschied von Vertrautheiten: Wie andere Menschen und Kulturkreise uns ein
neues gesellschaftliches Verhältnis zum Vertrauten suchen lassen.
Kommentar Freiwillige für Geflüchtete: Mehr Geduld, weniger Adrenalin
Seit einem Jahr schaffen wir das. Die dramatischen Bilder von 2015 sind den
Mühen der Ebene gewichen. Die zu bewältigen, schafft Integration.
Ein Jahr nach dem „Wir schaffen das“: Die neue Form der Flüchtlingshilfe
2015 halfen Ehrenamtliche beim Ankommen, heute ermöglichen sie das Bleiben.
Drei Erfahrungsberichte.
Aus für Flüchtlingsheimbetreiber in Berlin: Hassmails in der Hauspost
Von einer „Kinderguillotine“ war in internen Mails die Rede und von
„maximal Pigmentierten“. Das war am Ende auch dem Senat zu viel.
Kommentar Migration und Arbeitsmarkt: Ausweg Selbstständigkeit
Dass Migranten sich selbstständig machen und damit Jobs schaffen, hat oft
nur einen Grund: Sie haben keine andere Wahl.
Ein Jahr Lageso-Krise in Berlin: Eine schreckliche Bilanz
Die unhaltbaren Zustände vor dem und im Lageso seit dem vergangenen Sommer
markieren einen Tiefpunkt der Großen Koalition aus SPD und CDU.
Notunterkunft Tempelhof: Privatsphäre noch nicht in Sicht
In der Notunterkunft Tempelhof sollen am Jahresende keine Flüchtlinge mehr
wohnen. Daran gibt es Zweifel und Flüchtlinge protestieren gegen die
Unterkunft.
Flüchtlingsbabys in Berlin: Neugeborene ohne Identität
Hebammen und Kinderärzte schlagen Alarm: Immer mehr Neugeborene
geflüchteter Eltern bekommen keine Geburtsurkunde. Rechtens ist das nicht.
Kommentar zu Turnhallen: Auf dem richtigen Weg
Jeder Tag, an dem ein Mensch nicht mehr in einer Turnhalle leben muss, ist
ein gewonnener Tag. Und mit jeder freien Halle bricht eine einfache
Handhabe weg, gegen Flüchtlinge zu polemisieren.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.