| # taz.de -- Flüchtlinge in Berlin: „Eine neue Form von Apartheid“ | |
| > Noch immer leben zehntausende Flüchtlinge in Massenunterkünften. Diana | |
| > Henniges von „Moabit hilft“ fordert viel mehr neue Sozialwohnungen. | |
| Bild: Wer will hier wohnen? Eben! Blick in den Tempelhof-Hangar für Flüchtlin… | |
| taz: Frau Henniges, obwohl weiterhin Tausende Menschen nur notdürftigst | |
| untergebracht sind, ist es gut ein Jahr nach Beginn der sogenannten | |
| Flüchtlingskrise still geworden um das Thema. Woran liegt das? | |
| Diana Henniges: Wir haben das Gefühl, dass dies wenigstens zum Teil an der | |
| Pressearbeit der zuständigen Sozialverwaltung liegt. Die suggeriert, dass | |
| es nur noch marginale Probleme gibt, die bald ausgeräumt werden können. | |
| Dabei leben nach wie vor 24.000 Menschen in Notunterkünften! Also in | |
| Unterkünften, für die es keine Mindeststandards gibt. Zwar wird hier | |
| teilweise bei der Qualität nachgebessert. Dennoch bedeutet das, dass die | |
| Flüchtlinge unter desolatesten Zuständen hausen müssen. Das ist eine | |
| regelrechte Lagerhaltung! Da sind die Turnhallen gar nicht das Schlimmste. | |
| Gehen Sie mal in die Mertensstraße in Spandau oder in die verschiedenen | |
| Kasernen in der Stadt – oder in die Tempelhof-Hangars. | |
| Diese Orte sind schlimmer als Turnhallen? | |
| Es gibt kein „schlimmer“ oder „besser“. Allein die Geräuschkulisse in | |
| solchen Großunterkünften, die Umgebung, die Perspektivlosigkeit. Man kann | |
| weder lernen noch schlafen in solchen Unterkünften, es gibt keinerlei | |
| Privatsphäre. Eine Frau, die muslimisch ist, kann ihren Nikab zwölf Monate | |
| lang nicht ablegen, weil sie keinen Raum hat, wo sie das tun kann. Sie kann | |
| nicht mal nachts auf Toilette gehen ohne ihren Nikab, weil immer überall | |
| Leute sind. Das sind nur so banale Dinge. Und es soll doch mal jemand | |
| versuchen, ein Jahr lang nur von Fertigessen zu leben. Es gibt teilweise | |
| sogar eine starke Unterversorgung von Flüchtlingen mit Lebensmitteln: Wir | |
| haben dokumentierte Fälle von Unterernährung! | |
| Ärzte haben bestätigt, dass Flüchtlinge unterernährt sind? | |
| Richtig. Wir haben zwei Personen, die in einer Turnhalle gewohnt haben, wo | |
| das Essen so schlecht oder so wenig war, dass es nicht gereicht hat. Wir | |
| haben auch Unterkünfte, wo Flüchtlinge pro Tag nur eine Zuteilung von zwei | |
| Litern Wasser bekommen – auch bei größter Hitze. Am Telefon hat der | |
| Betreiber uns dann sogar gesagt, die Kinder bekämen nur einen halben Liter | |
| Wasser. Bei 40 Grad Hitze in einer Turnhalle darf es überhaupt keine | |
| Zuteilung von Wasser geben: Das sollte ein frei zugängliches Lebensmittel | |
| sein. | |
| Ihre Moabit-hilft-Kollegin Christiane Beckmann hat kürzlich gesagt, das | |
| neue Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten und die neu entwickelten | |
| Strukturen dienten vornehmlich dazu, die Probleme vor der Öffentlichkeit zu | |
| verstecken, anstatt sie zu lösen. | |
| Da hat sie völlig recht. Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster und | |
| sage: Es gibt kein Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Das LAF | |
| besteht aus ein paar Büroräumen in der Bundesallee. Dann haben wir die | |
| anderen Standorte wie das ICC, die Treptowers und die Turmstraße – und an | |
| letzterer Adresse wird weiterhin ein Großteil der Arbeit gemacht. Die | |
| Flüchtlinge warten jetzt im ICC, damit keiner das traurige Chaos sieht, das | |
| haben sie schön weggefegt aus der Turmstraße 21. | |
| Aber der Rest ist wie zuvor: Es gibt lange Wartezeiten, Leute bekommen | |
| ihnen zustehende Leistungen nicht, es gibt teils gravierende | |
| Qualitätsmängel in den Unterkünften und weiterhin eine Misswirtschaft, die | |
| sich aus der Zusammenarbeit mit dubiosen privaten Betreibern ergibt, die | |
| allein ihre Gewinnmaximierung im Sinn haben. Das ist eine Katastrophe. | |
| Also die Leute warten wie vor einem Jahr tagelang auf einen Termin beim Amt | |
| – nur dass sie jetzt im ICC ausharren? | |
| Ja, sie werden umterminiert und wieder umterminiert. Dabei haben wir immer | |
| mehr Leute, die schon längst im Integrationskurs sind oder schon Arbeit | |
| haben – die können sich nicht zwei Tage ins LAF setzen! Aber dort ist es | |
| wohl eine Selbstverständlichkeit, dass man für seine Leistungen zwei Tage | |
| ansteht. Oder einem immer wieder gesagt wird: „Du hast zwar eine besondere | |
| Schutzbedürftigkeit oder dir fehlt ein Bein oder du stehst kurz vor der | |
| Niederkunft – aber die Turnhalle, in der du lebst, ist das Einzige, was wir | |
| für dich haben, denn wir haben nicht genug Gemeinschaftsunterkünfte.“ | |
| Und dann liest man in der Zeitung, es gebe genug Gemeinschaftsunterkünfte, | |
| und deshalb würde jetzt nur die Hälfte der ursprünglich geplanten | |
| Containerdörfer – im Neusprech Tempohomes genannt – gebaut. Das | |
| widerspricht allem, was wir aus der Praxis wissen. Der Sozialdienst, der | |
| sich um besonders schutzbedürftige Menschen kümmert, kriecht auf dem | |
| Zahnfleisch, weil er nicht weiß, wohin mit den Leuten – weil es eben nicht | |
| genug Gemeinschaftsunterkünfte gibt. Und dabei erfüllen die ja noch nicht | |
| mal die Standards, die für besonders Schutzbedürftige eigentlich notwendig | |
| wären. Für solche Menschen gibt es in anderen Städten separate Unterkünfte. | |
| Daran ist hier gar nicht zu denken. | |
| Was macht das mit den Betroffenen? Was erfahren Sie von den Flüchtlingen, | |
| die zu Ihnen kommen? | |
| Das zermürbt die Leute unglaublich, gerade wenn sie monatelang unter | |
| solchen Umständen leben müssen. Viele hören auf zu essen oder sind | |
| suizidgefährdet. Auch wenn es gut läuft und jemand, der traumatisiert ist, | |
| zwei-, dreimal die Woche zum Therapeuten gehen kann, hilft das nicht, wenn | |
| er danach zurückmuss in eine Massenunterkunft, wo er keine Arbeit hat, mit | |
| acht Leuten in einem Raum voller Stockbetten lebt und noch nicht mal Geld | |
| nach Hause schicken kann. | |
| Viele sind am Ende ihrer Nerven. Gerade Frauen mit Kindern treiben diese | |
| Zustände in die Depression, weil sie so ausweglos sind. Viele Frauen können | |
| nicht zum Sprachkurs gehen, weil sie keine ganztägige Kinderbetreuung | |
| haben. Ihre Kinder werden vielleicht vormittags beschult, gehen aber nicht | |
| in den Hort. Denn viele Horte sind überlastet und sagen, wir können die | |
| Arbeit mit nichtdeutschsprachigen Kindern nicht leisten, weil die | |
| Sozialarbeiter fehlen. Dann gibt es zu wenige Lehrer; die | |
| Willkommensklassen sind überfüllt, teils gibt es auch gar keine Beschulung. | |
| In den Tempelhof-Hangars sind zig Kinder nach Monaten Aufenthalt noch | |
| überhaupt nicht in der Schule! Da ist der einzige Aufenthalt für Familien, | |
| die 135 Euro Taschengeld pro Monat und Person bekommen, der Hangar! | |
| BVG-Tickets können sie sich nicht leisten, denn von dem Geld müssen | |
| Lebensmittel zugekauft werden. Die Hangars sind ihr Zuhause, daraus besteht | |
| ihr Leben. | |
| Was erhoffen Sie sich vom Regierungswechsel in Berlin? | |
| Mehr Investitionen in den sozialen Wohnungsmarkt – und zwar nicht, wie es | |
| gerade läuft, zögerlich und langsam, sondern sofort und akut. Die Stadt | |
| Wien zum Beispiel gibt 600 Millionen Euro im Jahr für Wohnungsbau aus, | |
| Berlin 200 Millionen – dabei sind wir dreimal so groß! Das müsste doch | |
| jedem Politiker einleuchten, dass wir hier viel mehr investieren müssen. | |
| Wir haben leer stehende Gebäude, die der Berliner Immobilien Gesellschaft, | |
| also dem Staat gehören, und einfach wieder herzurichten wären, um | |
| Geflüchteten humanen Wohnraum zu geben. Das ist die Agenda, an die wir uns | |
| jetzt halten müssen. | |
| Aber stattdessen redet man nun davon, dass knapp 20.000 Geflüchtete in den | |
| Notunterkünften bleiben sollen, in denen sie jetzt sind. Man will nur die | |
| Turnhallen schließen – die anderen Notunterkünfte sollen bleiben und | |
| schrittweise zu Gemeinschaftsunterkünften aufgepeppt werden. Das heißt | |
| aber, es soll zur Dauereinrichtung werden, dass Flüchtlinge in den Hangars | |
| leben. Das ist eine neue Form von Apartheid! Tempelhof muss zugemacht, die | |
| Leute müssen dezentral verteilt werden in der Stadt – und zwar nicht in | |
| Großunterkünfte von 300 Personen oder mehr, wie sie der Senat mit den | |
| Tempohomes und den MUFs bauen will. | |
| Die werden wohl auch von Rot-Rot-Grün gebaut werden. | |
| Ja, und das ist eine Katastrophe. Diese Form der Unterbringung ist schon | |
| baulich eine Zumutung für die Betroffenen: Da wurde so | |
| maximalwirtschaftlich geplant, dass es nicht mal eine Schallisolierung | |
| gibt. Mein Mann, der Architekt ist, hat sich die ersten Ausschreibungen | |
| angesehen und gesagt, das würde er nie bauen – das ist nicht human. Und | |
| wenn man sich dann die Standorte anschaut, das ist der Gipfel! | |
| In Pankow, wo schon gebaut wird, haben die Bauarbeiter schon mal die Arbeit | |
| niedergelegt, weil sie von Nachbarn beschimpft und mit Steinen beworfen | |
| werden. Wie soll das werden, wenn dort Menschen einziehen? Und warum werden | |
| in Marzahn-Hellersdorf, wo es ohnehin schon eine sozial angespannte Lage | |
| gibt, so viele neue Unterkünfte gebaut, mehr als in anderen Bezirken? Das | |
| ist Wasser auf die Mühlen der Rechten. Hier sollte der neue Senat dringend | |
| nachbessern. | |
| 28 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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